Unsere Gesellschaft ist spürbar in Bewegung geraten. Gegensätzliche Auffassungen zu Fragen von Migration und Integration, Flucht und Asyl prallen aufeinander, widersprüchliche Tendenzen werden sichtbar. Während in Dresden Tausende Menschen gegen eine vermeintliche „Islamisierung“ Deutschlands und Europas auf die Straße gehen, stellen sich ihnen dort wie in vielen anderen Großstädten noch weit mehr Bürger entgegen, um für Toleranz und Weltoffenheit einzustehen. Während die heimtückischen Anschläge von Paris zu Jahresbeginn ein Schlaglicht auf die Gefahr des militanten Islamismus warfen, zeigten die folgenden Solidaritätsbekundungen – „Je suis Charlie, je suis Ahmed, je suis Juif“ – in Europa wie in Deutschland, dass die große Mehrheit unserer Gesellschaft nicht gewillt ist, sich durch Extremismus religiöser und politischer Couleur entzweien zu lassen. Dies alles geschieht zu einer Zeit, in der sich die Bundesrepublik mit dem größten Flüchtlingszustrom seit über zwei Jahrzehnten konfrontiert sieht. Viele Bürger zeigen dabei eine große Hilfsbereitschaft und unterstützen ehrenamtlich die teils überforderten Kommunen im Bemühen, allen Flüchtlingen eine angemessene Unterbringung und Versorgung zu ermöglichen. Gleichzeitig zog bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg aber auch eine Protestpartei in ein westdeutsches Landesparlament ein, die ganz bewusst Ressentiments gegenüber Einwanderern bedient und Ängste vor Flüchtlingen schürt.
So verschieden alle diese Problemlagen auch sein mögen: Ihre Bewältigung erscheint nur dann möglich, wenn wir uns einmal mehr unseres gemeinsamen Wertefundaments vergewissern. Wir brauchen eine offene und konstruktive Debatte darüber, was unsere Gesellschaft – Christen, Juden und Muslime, Agnostiker und Atheisten, Einheimische wie Zuwanderer – über den verfassungsrechtlichen Rahmen hinaus zusammenhält. Eine Debatte, die Xenophobie und Sozialchauvinismus eine klare Absage erteilt, ohne dabei die vorhandenen Ängste der Menschen zu ignorieren. Eine Debatte, die einerseits keinen Zweifel an der Pflicht der muslimischen Glaubensgemeinschaften aufkommen lässt, ihr Verhältnis zu salafistischen Strömungen und fundamentalistischen Predigern zu klären, die aber andererseits nicht daran zweifelt, dass der Islam und seine Werte als Bereicherung für unser christlich-jüdisch geprägtes Land zu begreifen sind. Eine solche Debatte muss zwingend entlang des Begriffs einer „offenen Leitkultur“ geführt werden. Und wir sollten jetzt damit beginnen, auch weil viele der heute zu uns kommenden Flüchtlinge dauerhaft bleiben werden und mehr und mehr deutlich wird, dass darin nicht nur Belastungen liegen, sondern auch große Potenziale, die wir erkennen müssen.
Kontroverse Debatte
Dabei muss diese Debatte nicht von Grund auf neu aufgezogen werden. Wir sollten vielmehr den roten Faden vergangener Diskussionen aufnehmen und diesen weiterführen. Schließlich sind seit der Einführung des Begriffs der „europäischen Leitkultur“ durch Bassam Tibi und dem Leitartikel Theo Sommers zur „deutschen Leitkultur“ bereits über anderthalb Jahrzehnte vergangen. Und obwohl die im Jahr 2000 von Friedrich Merz angestoßene Kontroverse über eine „Leitkultur“ als Gegenentwurf zum Konzept des „Multikulturalismus“ von beiden politischen Lagern durch Polemik und bewusste Emotionalisierung erschwert wurde, hat sich seitdem durchaus eine Art Grundkonsens ausgebildet. Dem Engagement überparteilich agierender Persönlichkeiten wie des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert ist es zu verdanken, dass die kontroverse Debatte bereits vor einigen Jahren versachlicht werden konnte. So fordert heute niemand mehr von den Zuwanderern ein, sich weitgehend dem deutschen Brauchtum anzupassen und ihre eigenen kulturellen Sitten und Gewohnheiten – sofern sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind – aufzugeben. Gleichzeitig haben sogar die Grünen nach langem Zögern akzeptiert, dass der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse für Zuwanderer der Schlüssel zur Integration ist – von einer „Zwangsgermanisierung“ ist dabei auch aufseiten der Öko-Partei keine Rede mehr.
Kernpunkte des Merz-Konzepts einer Leitkultur wie das uneingeschränkte Bekenntnis der Zuwanderer zum Grundgesetz, die Notwendigkeit deutscher Sprachkenntnisse oder die Einführung islamischen Religionsunterrichts unter deutscher Schulaufsicht bilden heute den integrationspolitischen „common sense“ in Deutschland. Politik und Gesellschaft haben erkannt, dass es sich mit dem Begriff des Multikulturalismus ähnlich verhält wie mit dem der Globalisierung: Man kann sich nicht „für“ oder „gegen“ diese aussprechen, sondern muss sie als Realitäten anerkennen und auf der Grundlage eines selbstbestimmten Wertefundaments gestalten. Bereits 2006 stellte der Journalist Jörg Lau fest: „Gerade eine de facto multikulturelle Gesellschaft wie unsere braucht eine Leitkultur. Es geht darum, die neue Vielfalt dieses Landes – in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht – anzuerkennen und mit ihr leben zu lernen, ohne dabei in einen Werte-Relativismus abzugleiten.“ Multikulturalismus und Leitkultur sind demnach keine Gegensätze. Das Erste sorgt vielmehr für die zwingende Notwendigkeit des Zweiten.
Offene Gesellschaft – offene Leitkultur
Vor diesem Hintergrund kann die Debatte über die Leitkultur als Richtschnur für eine gelungene Integration nur von zwei Seiten gleichzeitig angegangen werden: der der Mehrheitsgesellschaft und der der Zuwanderer. Die Mehrheitsgesellschaft sollte dabei ein ehrliches Interesse für die Sitten und Bräuche der Einwanderer zeigen. Es gilt, eine „kollektive Körpersprache“ der Anerkennung und Wertschätzung von kultureller Vielfalt zu entwickeln, sich dabei aber auch bewusst zu werden, was die eigene Kultur und Identität ausmacht. Die Zuwanderer müssen wiederum Sensibilität für und Respekt vor deutschen Traditionen und Befindlichkeiten entwickeln und artikulieren, in ihrer organisierten Form aber auch selbst deutlich machen, welche Werte sie für ein gelungenes Zusammenleben beisteuern können. Mit dieser, auf beiderseitigem Respekt fußenden Grundeinstellung wäre zwar schon viel erreicht. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um Parallelgesellschaften zu verhindern und dauerhaft zu einem wirklichen Zusammenleben zu finden. Sie bildet aber eine erste Basis dafür, eine „offene Leitkultur“ zu entwickeln, die Deutschen und Zuwanderern als gemeinsames Wertefundament dienen kann.
Der Begriff der „offenen“ – und nicht „deutschen“ – Leitkultur nimmt dabei Bezug auf den Charakter der Bundesrepublik als „offener Gesellschaft“, die zwar gesellschaftliche, politische und religiöse Vielfalt zulässt, sich jedoch auf einen unveräußerlichen Kanon freiheitlich-demokratischer Grundsätze stützt. Für unseren Begriff der offenen Leitkultur bedeutet dies zunächst: Die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte – Demokratie, Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip, Trennung von Staat und Religion – sind nicht verhandelbar und bilden den Kern der offenen Leitkultur. Konkret hieße das: Wenn im Namen einer religiösen Auffassung oder eines Kulturkreises Frauenrechte missachtet werden, muss im Namen des Grundgesetzes Recht durchgesetzt werden. Wenn Religionsprinzipien auf eine Einschränkung der freien Meinungsäußerung hinauslaufen, hat der grundgesetzliche Schutz von Presse- und Demonstrationsfreiheit Vorrang. Zu diesen positivrechtlichen Aspekten kommen Werte und Einstellungsmuster hinzu, die eng mit unserer Geschichte verknüpft sind. So gehören das Bekenntnis zur historischen Verantwortung Deutschlands – und damit das Eintreten für das Existenzrecht Israels – ebenso wie die Idee der europäischen Einigung zu den Grundwerten der Bundesrepublik. Dieser verfassungsrechtlich und historisch geprägte Normenkomplex bildet dabei die fixe, unabänderliche Komponente der offenen Leitkultur.
Zusätzlich braucht die offene Leitkultur jedoch einen Überbau, der zwar auf diesen fixen Komponenten fußt, aber über diese hinausgeht und eine Identität schafft, welche die gemeinsame Basis unserer multikulturellen Gesellschaft vollendet. Gemeint ist eine flexible Komponente, die für die Aufnahme von Werten der Zuwanderer offen ist, dabei jedoch die kulturellen Überzeugungen, die die deutsche Gesellschaft bis heute prägen, nicht aufgibt. So gibt es zahlreiche Einstellungsmuster in der Gruppe der Zuwanderer, die für die Mehrheitsgesellschaft nicht nur anschlussfähig sind, sondern eine Bereicherung darstellen könnten. Hierzu zählen etwa, dass Zuwanderer oftmals über einen großen Erfahrungsschatz bei Existenzgründungen, wirtschaftlicher Selbstständigkeit und Karrieren auf dem zweiten Bildungsweg verfügen. Zuwanderer, die sich durch sozialen Aufstiegswillen, interkulturelle Kompetenzen und eine gewisse Anpassungsfähigkeit ihren Weg in die gesellschaftliche Mitte gebahnt haben, haben nicht nur eine Vorbildfunktion für andere Zuwanderer, sondern auch für Deutsche. Die Überzeugung, dass Aufstieg durch Bildung möglich ist, kann und muss ein Leitmotiv unserer Gesellschaft bleiben. Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte müssen zum wesentlichen Teil einer neuen nationalen Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte werden.
Neue nationale Aufstiegsgeschichte
Auch Tugenden wie Bescheidenheit und Gastfreundlichkeit, die in zahlreichen Einwandererfamilien einen hohen Stellenwert genießen, haben in unserer auf Selbstverwirklichung und Wohlstand ausgerichteten Gesellschaft heute nicht immer mehr den Stellenwert, der ihnen eigentlich zustehen sollte. Zudem können wir in einem immer älter werdenden und kinderarmen Land wie dem unseren mit Blick auf die Rolle und Wertschätzung der Familie viel lernen. Viele Einwandererfamilien leben noch Verhaltensweisen und Überzeugungen, die bei deutschen Familien immer stärker in den Hintergrund rücken. Der respektvolle Umgang mit Verwandten aller Generationen und verschiedener Grade, ihre Wertschätzung für familiären Zusammenhalt und die geübte Solidarität von Kindern mit ihren Eltern und Eltern mit ihren Kindern sind beispielgebend. Die Verbundenheit und Kontaktpflege mit Teilen ihrer Familie, von denen sie große Entfernungen trennen, sind meist sehr intensiv ausgebildet, auch wird der Rat der Familienmitglieder bei wichtigen Entscheidungen wie selbstverständlich eingeholt. Kinder und die Erfahrung der Elternschaft werden in erster Linie als Bereicherung angesehen. Und auch was den Respekt vor der Religion angeht, kann sich unsere Gesellschaft viel bei den Zuwanderern abschauen. Nicht nur legen zugewanderte Christen und Muslime großen Wert auf die Lebendigkeit ihres Glaubens. Sie stimmen auch der Aussage, dass „Gott“ für die Menschen „wichtig“ sei, in weit größerem Maße zu als der Rest unserer in weiten Teilen entkirchlichten Gesellschaft. Wir sollten uns fragen, ob nicht auch der Berliner Republik mehr Respekt vor den Gefühlen gläubiger Menschen gut zu Gesicht stände.
Gemeinsamer Kodex
Aufstiegswille, Familiensinn, Respekt vor Religiosität, Gastfreundlichkeit – dies sind nur einige Beispiele, die Teil einer gemeinsamen, offenen Leitkultur werden können. Natürlich muss eine Diskussion über einen solchen Wertekanon in erster Linie in den Vereinen, Gemeinden und Verbänden, also im vorpolitischen Raum, geführt werden. Aber auch die Politik kann und muss an diesem Prozess partizipieren. So hat beispielsweise die CDU im letzten Jahr eine Kommission eingesetzt, die der Frage auf den Grund gehen soll, wie die aktive Bürgergesellschaft – und hierzu gehören ebenso Einheimische wie Zuwanderer – in Zukunft aussehen könnte. Wie und ob ein nationaler Diskussionsprozess über die Ausgestaltung einer offenen Leitkultur institutionalisiert wird und was dabei an konkreten Normen herauskommen kann, muss in den nächsten Monaten erörtert werden. Am Ende könnte ein Kodex stehen, der den platten Ressentiments der Pegida-Bewegung ebenso wie den Heilsversprechen islamistischer Fundamentalisten kraftvoll entgegengesetzt wird; der muslimischen Jugendlichen, die Erfahrungen mit Ausgrenzung und Chancenlosigkeit gemacht haben, das Signal gibt, dazuzugehören, und sie so gegen eine Radikalisierung immunisiert; der als Orientierungshilfe und Richtschnur für jene Flüchtlinge aus Syrien fungieren kann, die auch nach dem Ende des Bürgerkrieges hier bleiben wollen und die von Personalchefs deutscher Handwerks- und Industriebetriebe gerne eingestellt würden. Das sind hohe Ansprüche und große Hoffnungen – sicher.
Diesen Dialog nicht zu wagen, würde allerdings bedeuten, das Risiko einer gesellschaftlichen Desintegration in Kauf zu nehmen. Das ist keine Option für ein Land wie Deutschland mit seiner sozialen und kulturellen Vielfalt. Und es ist keine Option für die Volkspartei CDU. Deutschland muss zur Aufsteigerrepublik werden für jeden, unabhängig von der Herkunft seiner Eltern.
Armin Laschet, geboren 1961 in Aachen, Landesvorsitzender der NRW-CDU, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands.