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Über das Ankommen in einer freiheitlichen Gesellschaft

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Ob bei Radikalisierungsprozessen oder der Integration von Zuwanderern: Autoritäre Ideologien sind wieder angesagt. Für so manche Migranten stellen sie eine Alternative zur Demokratie dar und erschweren das emotionale Ankommen in Deutschland. Die Suche nach Orientierung, nach Entlastung von Verantwortung sowie Überforderung unter Heranwachsenden macht gerade junge Menschen anfällig für autoritäre Weltanschauungen. Sie finden darin die Vereinfachung einer komplizierten Welt, ein Schwarz-Weiß-Bild mit geordneten Verhältnissen.

Die von mir und meiner Frau gegründete Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention bietet Workshops in Schulen, Gefängnissen, Asylantenheimen und Jugendzentren an. Unser primäres Ziel ist es, Jugendlichen auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen Denkanstöße mitzugeben, Alternativen aufzuzeigen und mit ihnen eine emotionale Reise zu den Grundwerten dieses Landes anzutreten. Wir wollen sie ebenso für die Demokratie und für die Freiheit begeistern wie ihre Sehnsüchte nach Selbstbestimmung und kritischem Denken wecken. Im Zuge unserer Arbeit merken wir jedoch immer wieder: Diverse Autoritäten stehen uns dabei im Weg. Wir können unsere Ziele nur erreichen, wenn wir unseren Zielgruppen zu Mündigkeit verhelfen und sie in ihrem Widerstand gegen bestimmte Autoritäten stärken.

Wir arbeiten theaterpädagogisch und nutzen dafür verschiedene Rollenspiele, um die Teilnehmer zu aktivieren. Eines der Rollenspiele kreist um einen Vater, der seinen Sohn anschreit, warum er nichts auf die Reihe kriege, warum er nicht könne, was der Sohn des Nachbars kann. Der Vater macht den Sohn nieder, der seinen Kopf senkt und von Minute zu Minute kleiner wird. In der Feedbackrunde danach äußern viele Jugendliche ihre Begeisterung für den Vater. Manche sagen uns, genauso liefe es in ihren Familien: Der Sohn werde kritisiert, der Vater dagegen kaum, er sei doch eine Autorität, er wolle nur das Beste für seinen Sohn und ihm müsse mit Gehorsam und Respekt begegnet werden. Andere, die ohne Vater aufgewachsen sind oder ihren Vater als schwach wahrnehmen, wünschen sich sogar solch eine Autorität, die ihnen zeigt, wo es langgeht – ein Wunsch, den übrigens Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund teilen.

 

Patriarchale Sozialisation

 

Die wichtigste Aufgabe in unserer Arbeit ist es, genau dieses Rollenverständnis und das Verhalten des Vaters zu hinterfragen sowie den Jugendlichen die Angst vor solchen „autoritären“ Respektspersonen zu nehmen. Darin besteht auch die wichtigste Aufgabe für unsere Gesellschaft insgesamt. Denn nur selbstbewusste, mündige Menschen, die Autoritäten auch kritisch hinterfragen und ihnen gegebenenfalls entgegentreten, können die Demokratie schützen und mittragen.

Wenn man sich anschaut, welche Themen in den vergangenen Jahren in der Integrations- oder Radikalisierungsdebatte vorwiegend präsent waren, wird deutlich: Patriarchale Sozialisationsstrukturen gehörten nicht dazu. Dabei ist das gelebte Patriarchat in den Herkunftsländern vieler Migranten eine Herausforderung, die uns schon seit Jahrzehnten begleitet. Wer in patriarchalen Strukturen aufwächst, hat gelernt, dass die eigene Identität und deren Wert eng an den Gehorsam gegenüber Respektspersonen geknüpft ist. Hierzulande drohen genau deshalb Ängste vor Identitätsverlust: Der Umgang mit den verschiedenen Geschlechtern, mit Sexualität, mit Individualität und auch die Erziehungsmethoden in Deutschland unterscheiden sich stark von denen der Herkunftsländer wie etwa Syrien oder dem Irak. Die Menschen müssen erst einmal davon überzeugt werden, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung Chancen und kein Risiko für die eigene Identität darstellen.

Wenn wir nicht alles dafür tun, diese Überzeugungsarbeit zu leisten, werden viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar physisch ankommen, aber niemals emotional. Denn die Sozialisation in patriarchalen Strukturen sowie die daraus resultierenden beschriebenen Ängste führen dazu, dass die Menschen auf Distanz zur Aufnahmegesellschaft gehen. Durch das Patriarchat wird die Entmündigung von Menschen vorangetrieben, kritisches Denken verhindert, Gehorsam gefordert, Kontrolle und Gewalt ausgeübt, Individualität als Risiko gesehen, Angst vor Freiheit geschürt, Sexualität tabuisiert, Gleichberechtigung unterdrückt. Und es fördert die Herabwürdigung anderer Menschen, Kulturen und ihrer Werte.

 

Schule funktioniert anders

 

Patriarchale Strukturen sind vor allem durch zwei Dinge geprägt: die Macht der Älteren über die Jüngeren und die Macht der Männer über die Frauen. Ersteres bedeutet, dass man sich nach oben duckt und nach unten tritt. In diesem System, das man sich wie eine Pyramide vorstellen kann, steht das Familienoberhaupt, also der Vater oder Großvater, ganz oben. Alle darunter müssen ihm gehorchen. Ihm folgen erst die Männer, dann die Frauen und schließlich die Kinder. Wer in diesem System aufwächst, muss seine Position sehr früh erkennen und danach handeln.

Für das Individuum gibt es kaum Möglichkeiten zur Selbstentfaltung. Kritisches Hinterfragen der eigenen und der Positionen derer, die über einem stehen, ist nicht erlaubt. Beziehungsstrukturen zielen darauf ab, die Positionen zu respektieren und zu gehorchen. Wer sie infrage stellt, wird bestraft.

Ein weiteres Problem: Ältere Menschen aus der eigenen Community werden von Kindern und Jugendlichen als absolute Autoritäten anerkannt, in ihren deutschen Lehrern und vor allem Lehrerinnen hingegen sehen sie nichts als Bedeutungslosigkeit. Warum ist das so? Um es zu erklären, zeige ich den Lehrern oft die gerade beschriebene Pyramide und frage sie: „Wo, glauben Sie, stehen Sie in dieser Pyramide?“ Dann sagen sie meistens: „Ganz unten wahrscheinlich?“ Ich antworte: „Nein. Sie haben mit diesem System nichts zu tun. Sie stehen daneben. Sie werden ignoriert.“ Weibliche Lehrkräfte werden manchmal sogar verachtet. Und so gelten deutsche Lehrer weder als Respektspersonen, noch werden sie als adäquate Wissensvermittler anerkannt. Sie und der Rest der Gesellschaft bleiben außen vor oder werden geringgeschätzt, weil sie nicht wie das System agieren: Weder bestrafen sie, wie es dort geschieht, noch verlangen sie strikten Gehorsam. In Deutschland funktioniert Schule anders. Das ist natürlich gut so, jedoch merken die Kinder schnell, dass es „draußen“ weicher zugeht als zu Hause. Viele Probleme in Schulen, vor allem respektloses Verhalten, sind auf diesen Sachverhalt zurückzuführen.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass nicht alle Migranten in patriarchalischen Systemen aufgewachsen sind. Und auch nicht alle, die in einem solchen System groß werden, sind von allen negativen Auswirkungen betroffen.

 

Um die Menschen kämpfen

 

Es gibt allerdings Aspekte, vor denen wir die Augen nicht verschließen sollten, weil sie hinderlich für ein Ankommen in einer Demokratie und für ein friedliches Zusammenleben sind. Und das betrifft Flüchtlinge genauso wie Menschen, die seit Generationen in diesem Land leben und auch in der vierten Generation noch immer nicht bereit sind, diese patriarchalischen Strukturen aufzugeben. Es betrifft auch Menschen ohne Migrationshintergrund, die durch Überforderung, fehlende Orientierung, Sinnsuche und wegen des Wunsches nach Vereinfachung und dem Abgeben von Verantwortung anfällig für Autoritäre werden. Diese nutzen ebenjene Bedürfnisse, um den Menschen den Zugang zu Extremismus und radikalen Ideologien anzubieten, egal, ob es um Islamismus, Rechtsextremismus oder Querdenken geht. In einer Welt der Krisen und Veränderungen wirken Autoritäre als Alternative, die mehr und mehr Menschen weltweit anspricht.

Bei der Integration und im Kampf gegen jegliche extremistische Ideologie müssen wir um die Menschen kämpfen. Wir müssen dort sein, wo Menschen für Extremismus anfällig werden. Demokratie darf niemals eine Selbstverständlichkeit sein. Politik und Gesellschaft müssen sie vermitteln, in den sozialen Medien, Schulen, Integrationskursen und in der Vereinsarbeit. Wir können das schaffen: mit der Vermittlung von Empathie und Mündigkeit, mit einer gesunden Debattenkultur, mit zeitgemäßer politischer Bildung und mit Vorbildern, die tagtäglich Demokratie vorleben.

Nur wenn wir den Menschen näherbringen, welche Geschenke Freiheit und Demokratie sind, wird eine (emotionale) Integration überhaupt möglich – auch wenn diese Geschenke im ersten Moment vielleicht bedrohlich wirken. Denn natürlich erfordert das Ankommen in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ein Umdenken, insbesondere dann, wenn man aus patriarchalischen Strukturen kommt. Ein Umdenken, um die Art und Weise, wie Menschen hier in Europa leben, zu akzeptieren und anzunehmen, anstatt sie abzuwerten und jede gedankliche oder emotionale Annäherung als Verrat an der eigenen Identität, Kultur, Religion, Familie und den eigenen Werten zu sehen.

 

Ahmad Mansour, geboren 1976 in Tira bei Kfar Saba (Israel), Diplom-Psychologe, Islamismusexperte, Gründer und Geschäftsführer, MIND prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention), und Buchautor, Berlin. Sein viertes Buch „Operation Allah. Wie der politische Islam unsere Demokratie unterwandern will“ erschien am 28. September 2022 im S. Fischer Verlag.

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