Die islamische Lehre geht davon aus, dass sich Gott dem Menschen offenbart hat. Damit zeigt er sein Interesse an der Beziehung zum Menschen, er lädt den Menschen in seine Gemeinschaft ein und macht sich dadurch zugänglich und erfahrbar, aber der Mensch muss dieses Angebot in Freiheit annehmen. Mit Mitteln des Zwanges oder der Drohung werden Menschen allenfalls manipuliert, Gott kann jedoch nur an einer aufrichtigen Beziehung zu ihnen interessiert sein. Liebe ist seine Intention bei der Schöpfung der Menschen: „Er liebt sie und sie lieben ihn“ (Koran 5:54). Gott sucht also Mitliebende; er macht den ersten Schritt auf den Menschen zu und wartet auf eine Antwort. Gott wollte nach islamischem Verständnis seine Liebe und Barmherzigkeit nicht für sich behalten, sondern teilen. Die Antwort auf Liebe kann aber nur Liebe sein. Und eine aufrichtige Liebe ist keine erzwungene, sondern in Freiheit entstandene. Gott zu lieben bedeutet, mit ihm zu kooperieren, um sein Streben nach Liebe und Barmherzigkeit hier und jetzt auf der Erde Wirklichkeit werden zu lassen. Der Islam geht davon aus, dass der Mensch eine ständige Arbeit an seinem Inneren benötigt, um sich selbst zu läutern (der Koran spricht vom Läutern des Herzens) und so imstande zu sein, möglichst empathisch und selbstlos zu handeln. Religionen sind Medien der Spiritualität und Ethik, um genau dieses Göttliche im Menschen hervorzuheben. Das Göttliche ist die absolute Verwirklichung von Liebe, Barmherzigkeit, Gnade, Verantwortlichkeit, Fürsorge. Das Hervorheben des Göttlichen im Menschen bedeutet somit das Hervorheben dieser Eigenschaften im Menschen.
Spiritualität, verstanden als Hervorhebung des Göttlichen im Menschen, ist keineswegs vom gelebten Leben zu trennen, denn sie kann sich nur in der Konfrontation mit dem Alltagsleben entfalten. Gute Eigenschaften im Menschen zu fördern und schlechte zu hemmen, ist keine rein kognitive Aufgabe, sondern bedarf vielmehr einer seelischen Auseinandersetzung und Arbeit an sich selbst in den verschiedenen Lebenssituationen. Der Gelehrte Al-Ghazali (gestorben 1111) spricht vom „Schmücken des Herzens mit guten Charaktereigenschaften“ wie Geduld, Dankbarkeit, Liebe, Hoffnung und Gottvertrauen.
Gott und Götzen
Die Aufgabe muslimischer Geistlicher ist daher, die Gläubigen primär an diesen Prozess der inneren Läuterung zu erinnern. In diesem Zusammenhang interpretieren sie den Koran und die prophetische Tradition und machen den Menschen Angebote, sich selbst und ihr Inneres kritisch zu reflektieren. Hierbei lehnt der Islam allerdings jegliche Form der Bevormundung durch Geistliche ab. Er verbietet gleichwohl den Götzendienst, es gibt aber viele andere Erscheinungsformen des Götzendienstes als die im 7. Jahrhundert von Mekkanern selbst gebauten und dann angebeteten Statuen. Der Koran kritisiert an mehreren Stellen Menschen und Völker, die die Verkündigungen von Propheten ablehnten, weil für sie die Tradition der Vorfahren wichtiger war als die neuen Botschaften. So heißt es im Koran: „Jedes Mal, wenn wir einen Gesandten vor dir [Mohammed] zu einer Stadt entsandten, sagten die Wohlhabenden, die verschwenderisch lebten: ‚Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir treten in ihre Fußstapfen.‘ Jeder Gesandte sagte daraufhin: ‚Wenn ich nun aber mit einer Botschaft zu euch gekommen bin, die besser für euch ist, als was ihr als Brauch eurer Väter vorgefunden habt?‘ Sie sagten: ‚Wir nehmen eure Botschaft nicht an.‘“ (Koran 43:23–24). Was damals Götzen waren, erscheint heute in anderen Formen. Oft werden Gelehrte beziehungsweise Traditionen zu Götzen gemacht und verherrlicht, und die Menschen sollen sich ihnen unterwerfen, ohne sie zu hinterfragen. Der iranische Religionssoziologe Ali Schariati (gestorben 1977) sprach in diesem Zusammenhang von den „neu konstruierten Götzen“. Der Koran erteilt einer unhinterfragten Übernahme von Bräuchen und Traditionen eine klare Absage. Wenn man an Gott als den Einzigen glauben will, realisiert sich dies nicht in einem Lippenbekenntnis, sondern in einer hier und jetzt gelebten geistigen Befreiung von allem, was einer kreativen Entfaltung des Geistes im Wege steht.
Die heute bekannteste Form dieses Götzendienstes ist die im Koran angesprochene geistige Bevormundung, die den freien Blick des Menschen einschränkt. Diese kann sich vor allem in Form der Verherrlichung von Menschen, die glauben, für Gott und in seinem Namen zu sprechen, ausdrücken. Dazu sagt der Koran: „Genommen haben sie sich ihre Gelehrten und Mönche zu Göttern außer Gott“ (Koran 9:31). Die Vernunft ist der Garant gegen die Falle des Götzendienstes und somit gegen die Bevormundung. Diese Einschränkung des freien Blicks des Menschen ist Ausdruck selbst verschuldeter Bevormundung und Verblendung. Die Befreiung liegt nicht in der Außenwelt, sondern im Inneren des Menschen. Und genau mit diesem Prozess der inneren Befreiung beginnt die Verwirklichung des islamischen Glaubensbekenntnisses. Man könnte mit anderen Worten sagen, dass der Mensch nicht lange nach Gott zu suchen braucht. Er braucht jedoch lange, bis er sich von dem befreit, was ihn daran hindert, Gott zu erkennen und ihm zu begegnen. Sobald er sich von allem befreit, was ihn bevormundet und verblendet, erkennt er Gott. Gott ist hier, der Mensch muss nur die Augen öffnen. Gott aber ist die Barmherzigkeit. Wer nach Liebe und Barmherzigkeit sucht, sucht nach Gott; wer Liebe und Barmherzigkeit anstrebt, strebt nach Gott; wer Liebe und Barmherzigkeit erkennt, hat Gott erkannt. Das ist auch das Kriterium dafür, in Erfahrung zu bringen, ob Gott im eigenen Herzen angekommen ist oder noch nicht.
Hinterfragen und verstehen wollen
Leider hat sich eine Art bevormundender Tradition im Islam etabliert, die die Gestaltung des religiösen Lebens von dem abhängig macht, was die eine oder andere religiöse Autorität bestimmt. Der Begriff der „religiösen Autorität“ wird hier bewusst verwandt, auch wenn er dem Geist des Korans völlig widerspricht. Der Koran bezeichnet, wie schon erwähnt, den blinden Gehorsam gegenüber religiösen Autoritäten als eine Form von Götzendienst. Er zielt darauf, die Menschen darin zu unterstützen, den Islam als freie und mündige Gläubige auszuüben, statt ihren Lebensentwurf – auch in religiöser Hinsicht – an Dritte zu delegieren, also einfach blind zu folgen.
Geistige Befreiung beginnt mit reflektiertem Denken, mit Hinterfragen, mit Verstehenwollen, mit der kritischen Reflexion seiner selbst. Die islamische Formel „Es gibt keine Gottheit außer Gott“ ist Ausdruck eines freien, unabhängigen Geistes. Die Formel verneint jegliche Abhängigkeit, jegliche Bevormundung, jegliche Verherrlichung von Menschen, Dingen, Ideen oder Gedanken. Einziges gültiges Leitprinzip ist Gott, dessen Wesen Barmherzigkeit und Liebe ist. Liebe und Barmherzigkeit bilden den Rahmen, in dem sich der Geist frei entfalten kann und soll.
Imame – Auftrag und Ausbildung
Die in Moscheen tätigen muslimischen Geistlichen bezeichnet man als Imame, deren Aufgabe es ist, Menschen an ihre spirituelle und ethische Verantwortung zu erinnern und ihnen entsprechende religiöse Angebote zu machen. Das heißt, Imame müssen die Lebenswirklichkeit der Menschen kennen und zugleich in der Lage sein, die islamische Lehre in ihrem zeitgemäßen Kontext zu lesen und entsprechend zu entfalten. Dazu müssen koranische Aussagen des 7. Jahrhunderts in ihrem historischen Kontext verortet werden, um die eigentliche spirituelle und ethische Aussage des Wortlautes zu verstehen. Imame benötigen daher eine solide akademisch-theologische Ausbildung, in deren Rahmen sie die islamische Lehre reflektieren und sich mit zeitgemäßen wissenschaftlichen Methoden der Erforschung des Islam auseinandersetzen. Gerade in ihrer Situation als Migranten haben viele Muslime keinen anderen Zugang zu ihrem Glauben außer durch den Besuch der Moschee und die Predigt des Imams. Das, was die Imame predigen, prägt also das Bild des Islam in den Köpfen und Herzen vieler Muslime. Die Imame tragen also entscheidend zum Bild des Islam in Deutschland bei. Sie müssen die Kompetenz besitzen, den Lebensbezug der Religion herauszustellen und den Gläubigen Wege zu zeigen, wie sie zugleich authentische Muslime und loyale Bürger ihrer Gesellschaften sein können.
Dabei ist es wünschenswert, dass sie ihre Predigten – wie auch von Bundestagspräsident Norbert Lammert am 28. Februar dieses Jahres in der Welt gefordert – in deutscher Sprache halten; die Frage der Sprache sollte sich aber am Bedarf orientieren. In solchen Moscheen also, wo die Mehrheit der Betenden kaum Deutsch spricht, ist es sinnvoller, in ihrer Muttersprache zu predigen und aus Transparenzgründen eine deutsche Zusammenfassung der Predigt zu liefern. Entscheidend bleibt aber der Inhalt der Predigt und der von den Imamen vermittelten Positionen, unabhängig von der Sprache der Predigt – die meisten salafistischen Imame in Deutschland predigen in deutscher Sprache. Die Ausbildung der Imame in Deutschland garantiert, dass sie an den Interessen und Bedürfnissen der Muslime in Deutschland orientiert sind, offen bleibt jedoch, wie die Imame besoldet werden sollen. Denn die Mehrheit der Imame in Deutschland wird zurzeit aus dem Ausland geholt und dann auch aus den entsprechenden Ländern bezahlt. Überlegenswert wäre, islamische Religionslehrer für ein paar Stunden in der Woche als Imame einzusetzen. Als Religionslehrer besitzen sie nicht nur die theologische, sondern auch die pädagogische Expertise, um den Lebensbezug der Religion herzustellen.
In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass der Islam keine der Kirche ähnliche Institution kennt. Das heißt, dass auch die Angebote der Imame nur als ihre Auslegungen gelten; letztendlich ist jeder Gläubige selbst dafür verantwortlich, seine eigene Religiosität in die Hand zu nehmen. Das Ziel der Imame sollte es sein, die Gläubigen in diesem Prozess der Bildung der eigenen Religiosität zu unterstützen und sie zu befähigen, religiöse Positionen kritisch zu hinterfragen, um schließlich in der Lage zu sein, zwischen menschenfreundlichen und menschenfeindlichen religiösen Angeboten zu unterscheiden. Es ist keineswegs verwerflich, sich als Gläubiger genau zu informieren, selbst zu recherchieren und die unterschiedlichen Positionen miteinander zu vergleichen. Wichtig ist, die eigene Entscheidung nicht deshalb zu fällen, weil X oder Y dies oder jenes gesagt hat, sondern weil man persönlich von der einen oder anderen Position überzeugt ist. Die individuelle Entscheidung kann nicht an Dritte delegiert werden. Daher sagte der Prophet Mohammed zu einem Mann: „Frag dein Herz, egal, was sie dir an Fatwa mitteilen, egal, was sie dir an Fatwa mitteilen, egal was sie dir an Fatwa mitteilen!“ Die dreimalige Wiederholung ist ein Appell an jeden Menschen, seine Entscheidungen selbst zu treffen und selbst zu verantworten.
Mouhanad Khorchide, geboren 1971 in Beirut (Libanon), Soziologe, Islamwissenschaftler, Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien (CRS) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.