Der Versuch, acht Jahre nach dem Ende der rot-grünen Regierung ihre Geschichte zu schreiben, ist ein ambitioniertes Unterfangen. Edgar Wolfrum ist es nur teilweise gelungen. Die rot-grüne Regierungszeit zwischen dem Ende der Ära Kohl 1998 und der zweiten Großen Koalition 2005 war eine Phase, in der wichtige politische Weichen gestellt wurden. Die Folgen des Terroranschlags vom 11. September 2001, der Bruch der europäischen Defizitregeln durch die Regierung Schröder, die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg, der erste Anlauf zum Ausstieg aus der atomaren Energiegewinnung und schließlich die sozialpolitischen Reformen der Agenda 2010: All dies sind zweifellos fortwirkende Entwicklungen und Entscheidungen jener Jahre gewesen. Ob sie allerdings wirklich das „Ende der Nachkriegszeit“ oder eine gesellschaftspolitische Zäsur darstellen, wie Wolfrum behauptet, ist wohl gegenwärtig noch nicht zu beantworten.
Nun gehört es an sich zu den sympathischeren Sünden eines Historikers, die Bedeutung des eigenen Themas zu überschätzen. Angesichts der Grundthese von der rot-grünen „Zeitenwende“ stellt die implizite Voraussetzungslosigkeit, mit der Schröders Regierungszeit präsentiert wird, jedoch ein konzeptionelles Defizit dar. Es wird zwar gelegentlich Bezug auf die Regierung Kohl genommen, etwa wenn dadurch die angestrebte „nachholende Modernisierung“ unter Rot-Grün legitimiert werden soll, doch fehlt ein grundlegender Vergleich der Traditionslinien und -brüche mit der Vorgängerkoalition. Sieht man sich beispielsweise das Kapitel über die rotgrüne Umweltpolitik an, inhaltlich eines der schwächeren, so ahnt man, weswegen: Die Erfolge der Schröder-Regierung in diesem wie in anderen Sektoren bauten, weit mehr als ihrem Chronisten lieb ist, auf der Arbeit der Regierung Kohl auf, sei es bei der Förderung erneuerbarer Energien oder bei der internationalen Klimaschutzpolitik. Die Bezüge zu Vorgänger- und Nachfolgeregierung wären deshalb zentral.
Der Autor, Inhaber einer Professur für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, begegnet den rot-grünen Protagonisten mit erkennbarer Sympathie. Wolfrum, der sowohl für die Friedrich-Ebert- als auch die Heinrich-Böll-Stiftung tätig ist, verzichtet dabei freilich nicht auf partiell deutliche Kritik. Stellenweise hat man allerdings den Eindruck, dass dabei der Standpunkt des jeweiligen Gesprächspartners – viele Informationen beruhen deutlich erkennbar auf Interviews – etwas zu unkritisch übernommen wurde. Wolfrum ist bisher vor allem als Chronist der Bundesrepublik hervorgetreten, unter anderem als Autor einer lesenswerten Gesamtdarstellung (Die geglückte Demokratie, dritte Auflage 2007). Vom Umfang seines Œuvres her ist er einer der produktivsten deutschen Zeithistoriker. Das vorliegende Werk hat er in nur vier Jahren geschrieben.
Unbekannte Facetten und innovativer Quellenzugriff
Die Stärken des Buches sind beachtlich: Es ist ein erstaunlich lesbares, stellenweise sogar richtig spannend geschriebenes Werk, das in ungewöhnlichem Maße politisches Handeln transparent werden lässt und dem es gelingt, etliche bisher unbekannte Facetten im Handeln der Schröder-Regierung deutlich zu machen. Die Animositäten im rot-grünen Führungspersonal waren im Detail so nicht bekannt, sodass hier der Anspruch, historisch Neues zu bieten, wirklich eingelöst wird.
Bemerkenswert ist auch die angewandte Methodik. Wolfrum stand vor dem Problem des eingeschränkten Quellenzugangs, das allen Zeithistorikern zu schaffen macht. Er erhebt explizit den Anspruch, nicht als Politologe oder Sozialwissenschaftler mit veröffentlichtem Material zu arbeiten, sondern er will „gegenwartsnahe Zeitgeschichte“ schreiben. Der Autor hat zwar auf Interviews und Presseberichte zurückgegriffen, zudem aber in größerem Maße gesperrtes Material gesucht und verwendet. Wolfrum hat darüber hinaus auf Fernsehberichte und -debatten zugegriffen – eine gelungene Erweiterung des Quellenspektrums, die vor allem die Anschaulichkeit der Darstellung deutlich erhöht. So innovativ der Quellenzugriff, so problematisch ist die Auswahl: Wolfrum hat außerhalb der Sperrfrist umfangreiche Archivalien im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und im Archiv „Grünes Gedächtnis“ der Heinrich-Böll-Stiftung einsehen können, die aber ein sehr einseitiges Bild vermitteln. Gleiches gilt für die Interviews: Unter den 36 im Quellenverzeichnis aufgeführten Interviewpartnern findet sich kein einziger Spitzenpolitiker der damaligen Oppositionsparteien.
Geschichtspolitische Absicht
Ähnliches zeigt sich beim Zuschnitt des Themas: Eigentlich soll es um deutsche Geschichte gehen, in Wirklichkeit wird eine fast ausschließlich von Westdeutschen gestellte Regierung in ihrem Handeln beschrieben. Diese Perspektive ist zum Teil der damaligen Ausrichtung der rot-grünen Regierung selbst geschuldet, die tatsächlich den Osten vernachlässigte. Gleiches gilt für die Opposition: In einem kurzen Abschnitt wird die CDU-Parteispendenaffäre auf dem Niveau eines Spiegel-Artikels subsumiert, die Union auch sonst fast nur aus der Regierungsperspektive wahrgenommen.
Eine solche Arbeit versucht natürlich, geschichtspolitisch zu wirken und das Bild einer Phase deutscher Geschichte zuerst zu prägen. Damit dies nicht auf einer selektiven Basis geschieht, wäre eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung der Union in der Opposition ein Desiderat. Dass ein solches Vorhaben gelingen kann, zeigt etwa die Untersuchung von Guido Hitze zur CDU in der Opposition in Nordrhein-Westfalen (Verlorene Jahre?, drei Bände, 2010), die die Legende einer erfolgreichen SPD-Regierung unter Johannes Rau deutlich zurechtgerückt hat.
Es wäre beckmesserisch, bei einem Werk von der Darstellungsbreite der Arbeit Wolfrums Einzelfehler aufzuzählen. Allerdings ist die Anzahl sachlicher Ungenauigkeiten recht hoch, auch wenn man unterstellen kann, dass der Verlag vermutlich auf eine Auslieferung noch vor der Bundestagswahl gedrängt hat. Ärgerlich sind vor allem offenbar dem Zeitdruck geschuldete Schwächen im Urteil: Wenn etwa ohne jeden Quellenbeleg behauptet wird, Schröders poltriger TV-Auftritt am Wahlabend 2005 habe Angela Merkel „das politische Überleben“ (Seite 707) gerettet, dann ist dies eine nicht als solche gekennzeichnete Spekulation, die Wolfrum vermutlich selbst Proseminaristen nicht hätte durchgehen lassen.
In der Summe handelt es sich um eine ausgesprochen lesenswerte Darstellung der rot-grünen Regierung, die auf interne Quellen zurückgreifen kann. Dem im Untertitel erhobenen Anspruch, „Deutschland 1998–2005“ zu beschreiben, wird das Buch nicht gerecht. Als eine Gesamtdeutung der Bundesrepublik während der rot-grünen Regierungsjahre greift sie deshalb zu kurz.
Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, Abteilungsleiter Publikationen/Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.