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Über Defizite der "kommunikativen Demokratie"

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Die Gefühle und Bedürfnisse der Bürger ernst nehmen zu wollen, versprachen die Etablierten nach ihren Verlusten am 24. September 2017. Bürgerwillen zu vertreten – ist nicht genau dies ein definitorisches Kriterium der Demokratie? Verspätet zeigt sich die Sorge um emotionale Verunsicherungen, soziale Herausforderungen, komplexe Sicherheitserwartungen und um kulturelle Identität. Sogar „Heimat“ gewinnt neue Konjunktur als unverfänglichere Definition eines aufgeklärten, Humanitäts- und Freiheitsoptionen unverbrüchlich verbundenen, jedoch aus dem Diskurs weiterhin verbannten Patriotismus.

Diese Verspätung bleibt schwer verständlich. Denn die betroffenen Parteien schlingerten sehenden Auges in ihre Verluste. Auf der Straße wie im Parteiensystem hatten sich Enttäuschung, Protest, thematische Alternativen und rechter Populismus längst etabliert. Die Alternative für Deutschland (AfD) war binnen Kurzem in dreizehn Landesparlamente eingezogen, nicht zuletzt deshalb, weil sie Enttäuschte und Abstinente angesprochen und an die Urnen zurückgerufen hatte. Dass Enttäuschung von der Politik ursächlich für ihre Entscheidung war, sagten im Herbst 2017 sechzig Prozent der AfD-Wähler – weit überwiegend ganz normale Bürger. Klassische Parteien und ein Teil der Gesellschaft hatten sich entkoppelt. Die „kommunikative Demokratie“ funktionierte offensichtlich defizitär, mit Effekten unterschiedlicher Richtung und Intensität bei der Bevölkerung.

Nachzugehen ist Kommunikations- und Repräsentationsdefiziten, differenzierter Resonanz in der Öffentlichkeit und Pluralitätstoleranz als dem eigentlichen Kernproblem.

Es ist eine alles andere als neue Erkenntnis, dass Kommunikation der Kitt ist, der ein zuträgliches Maß gesellschaftlicher Integration bewirkt, der im Grunde die Selbstentfaltung des Individuums ermöglicht. Kommunikationsdefizite bewirken Politikkrisen. Gerade die Demokratie beruht auf aktueller Legitimitätsgewinnung durch Kommunikation. Wie soll auch ohne sie Vertrauen gewonnen werden?

Vertrauenseinbrüche in westlichen Gesellschaften

Dessen Verfall erleben wir seit etwa zwei Jahrzehnten in allen liberalen Demokratien, nicht zuletzt in Europa mit rechter und linker Populismusresonanz in den Parteiensystemen in übrigens weit größerem Umfang als in Deutschland. Zynismus und Verachtung gegenüber der politischen Elite „within the beltway“, die also innerhalb des Washingtoner Autobahnrings agiert, sind zum Beispiel gerade auch in den USA seit Langem tief verwurzelt – nicht erst seit Donald Trump. Diese Stimmung hat ihn vielmehr ins Amt gebracht. Im Vorfeld seiner Wahl ist unter vielen kritischen Büchern eine Beltway Bible mit einem besonders markanten und typischen Untertitel erschienen. Auch in Großbritannien gibt es Klüfte zwischen „London“ und dem Land.

Entsprechende Vertrauenseinbrüche kennen wir hierzulande ebenso. Grundlegende Veränderungen der Politik, ihre zunehmende Komplexität (Internationalisierung, Globalisierung, Euro- und Finanzkrise, Systemumbrüche, Migration) und damit verbundene Erklärungs-, Verständnis- und Bewältigungsprobleme sind dafür verantwortlich: also Kommunikationsdefizite. Nutzen daraus zogen seit einer ganzen Weile Antistimmungen. Was in jüngster Zeit ausgebrochen ist, ist also keineswegs neu. Neu ist die Artikulations- und Organisationsbereitschaft. Dem kritischen Bild von Eliten „within the beltway“ entsprach hierzulande das Bild von der Bonner Käseglocke oder entspricht heute das der Berliner Glaskuppel, die nicht mehr Transparenz auszudrücken scheint. Beide überwölben den Politik- und Medienbetrieb und schließen ihn nach außen ab: Es ist der Unterschied zwischen den „ins“ und „outs“, zwischen „oben“ und „unten“, zwischen elitär abgehobenem Establishment und „einfachen“, in ihren Interessen sich vernachlässigt fühlenden Bürgern. Es ist – wie im Westen nach 1968, aber ohne die damalige Ideologie – eine Systemkritik, die das politische Personal, Institutionen und auch die traditionellen Medien einschließt. Sie alle verdienen aus dieser Sicht kein Vertrauen.

Den politischen Parteien, seit jeher mit Vorurteilen konfrontiert, wird es in jüngster Zeit jedoch besonders heftig entzogen: Absturz der Mitgliederzahlen, Reputationsverluste des Führungspersonals, Systemdistanz, Wahlabstinenz. Die AfD hat vielen das Gefühl vermittelt, wieder gehört zu werden, und Nichtwähler mobilisiert: Angesichts des gesamten Erscheinungsbildes dieser Partei provoziert das durchaus zwiespältige Gefühle.

Ignorierung und Dämonisierung

Vorsicht ist dennoch angebracht mit pauschalen Extremismus- und Nazismusvorwürfen, speziell gegen die Wählerschaft. Sie werden von denen erhoben, deren Kommunikations- und Gestaltungsversäumnisse Segmente unserer Gesellschaft in den aufgezeigten Skeptizismus getrieben haben: eine Art Selbstverteidigung durch Diffamierung, welche die Gefahr in sich birgt, erst recht Distanz zu den Etablierten zu begründen. Die AfD hat nicht nur von früheren Nichtwählern profitiert, sondern auch von Union, SPD, Grünen, Linken und dem Rest – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß; und dies trotz generellen und selbst bei drei Vierteln ihrer Wähler auch persönlich empfundenen wirtschaftlichen Wohlergehens.

Ignorierung und Dämonisierung seitens der klassischen Parteien haben diese Wählerpotenziale nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil deren Einschätzung, nicht ernst und wahrgenommen sowie in ihren Positionen politisch nicht vertreten zu werden, nur bestätigt. Bevor er auf die Straße drängte, hat sich der Furor gegen etablierte Politik und Medien „längst online“ formiert: simplifizierend, diffamierend, aber Sorgen und Ängste von Bürgern aufgreifend, welche „die“ Politik ignorierte, die sich gelegentlich auch als alternativlos und erklärungsschwach darstellte.

Das alles rechtfertigt nicht dumpfe Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Es scheint aber doch nach Kommunikation zu verlangen, denn man kann in einer zivilisierten Gesellschaft derlei Primitivitäten nicht unbeantwortet lassen oder übergehen. „Man muss nicht mit jedem Idioten reden“, sagt dagegen Friedrich Schorlemmer. Aber gehören diese „Idioten“ nicht auch zum Volk? Und sind sie nicht grundsätzlich einen Argumentationsversuch wert? Verfassungsrechtlich jedenfalls ist effektive Ausgrenzung nur ein Mittel gegen explizite Verfassungsfeinde; und sie liegt in den Händen der Justiz. Im Alltag sollte man zumindest abwägen, ob Ausgrenzung von Mitbürgern im Namen der Toleranz und des grundsätzlichen Respekts vor Andersdenkenden prinzipiell ein logisches Instrument ist und ob sie nicht Klüfte zusätzlich vertieft. Das Gefühl, unter der Dominanz einer linkskulturellen Political Correctness in der öffentlichen Kommunikation isoliert zu sein, ist weit verbreitet. Wäre das bloßstellende Argument nicht angemessener?

Hört Politik nicht zu?

Anscheinend meint das etwa auch der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, der schreibt, man müsse „mit ihnen debattieren, man muss mit ihnen streiten, man muss keineswegs alles verstehen wollen“, aber im gleichen Atemzug dem Vorsitzenden der SPD – wie seine Partei weithin auch – die zuhörende, unscheinbare Präsenz bei einer Dresdner Debatte der Landeszentrale für politische Bildung zu Pegida verübelt. Als ob es nicht auch ein Signal sein könnte, da zuzuhören, wo der Vorwurf erhoben wird, die Politik höre nicht mehr zu. Ein Signal, das durchaus zur Differenzierung zwischen der „widerwärtigen Minderheit“ von „Nazis, Hooligans, Fremdenfeinden und ähnlichem völkischen Volk“ und den Enttäuschten und Entfremdeten beigetragen haben kann. Letztere grenzen sich nach den Dresdner Untersuchungen ohnehin von Rechtsextremen und Hooligans ab. Allerdings genau diesen eine Kulisse für dramatische kommunikative Resonanz gegeben zu haben, ist andererseits zu Recht zu kritisieren. Denn blinde oder auch opportunistische Mitläuferei mit Radikalen überbrückt Klüfte nicht, und sie entwertet in der öffentlichen Resonanz die eigene Position.

Die Radikalen demaskieren, die Besorgten und Enttäuschten informieren: Das ist die Aufgabe politischer Führung angesichts derartiger Bewegungen. „Kommunikative Demokratie“ verlangt diskursive Überzeugungsarbeit – immer, nicht nur jetzt angesichts besonderer Herausforderungen, und auf allen strittigen Themenfeldern, nicht nur bei Zuwanderung und Integration. Demokratie muss kommunikativ sein, oder sie wird nicht sein.

Kommunikation als sozialer Kitt ist allein schon aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft unverzichtbar. Das Volk ist zwar eine staatsrechtliche Größe. Real existiert es aber nur in seiner Vielfalt, solange man ihm nicht ideologische Einheitlichkeit aufzwingt. In seiner Vielfalt wird es auch politisch repräsentiert. Dafür steht etwa, vom Bundesverfassungsgericht im Kontext der freiheitlich-demokratischen Grundordnung so definiert, zentral die Oppositionsfreiheit: weil selbstverständlich auch Opposition dem Volk gleichberechtigt Ausdruck gibt, keineswegs nur die regierende Mehrheit. Dem gehen in der Gesellschaft die Freiheit der Gedanken und die Freiheit, sie auszusprechen, voraus – also auch das Recht, Unsinn zu reden, zu denken und zu wählen. Es mag befremdlich klingen, ist aber banal: Der Grundrechtschutz untersagt dem Staat jenseits von Rechtsund Verfassungsbruch, Qualitäten von Meinungen zu bewerten; er gewährleistet vielmehr ihre öffentliche Äußerung. Der bewertende, streitige Diskurs kommt aber sehr wohl der Gesellschaft zu. Rede und Gegenrede führen uns auch aktuell das vielfältig differenzierte Volk vor Augen. Wenn die Meinungsfreiheit – so Karlsruhe – für die freiheitliche Demokratie „schlechthin konstituierend“ ist, ist die Erwartung durchaus verständlich, diese Freiheit möge informiert und rational ausgeübt werden. Gleichwohl ist sie oft genug eitel.

Demontage von Pluralität

Wir bewegen uns im Kernbereich des demokratischen Verfassungsstaats. Denn worauf beruht das ihn tragende Prinzip der legitimen Vielfalt? Es beruht auf der in Menschenwürde und Menschenrechten gründenden Freiheit des Individuums zur Selbstentfaltung. Daraus folgt alles andere – liberale, offene Gesellschaft, Staatsordnung und politische Willensbildung. Pluralismus ist also alles andere als wertrelativistisch.

Wenn aber über die Identität der Deutschen – wieso eigentlich nicht? – diskutiert werden soll, dann gehören nicht nur Geschichte, Kultur und Sprache dazu. Zu dieser Identität gehört auch jener schmale Grundkonsens über Menschenwürde und Freiheit, ohne den es keine Vielfalt gäbe. Ein Teil unserer Gesellschaft, herausgefordert durch andere Kulturen, findet sich vornehmlich in dem, was er nicht will und nicht sein möchte. Zu wissen, was man nicht will, führt aber keineswegs zu einem positiven Konsens, und sei er noch so schmal. Wer Identität, wer Patriotismus verteidigt, muss stets die Menschenwürde mitdenken. Solange er das tut, kann er kaum ein Extremist sein. Tut er es nicht, verlässt er den Boden unseres Verfassungsverständnisses. Zugespitzt: Er bürgert sich aus.

Und: Wer zu uns kommt, hat Anspruch auf humanen Respekt. Umgekehrt hat dieses Gemeinwesen aber ebenso einen Anspruch auf Respektierung seiner eigenen wertgebundenen, säkularen Freiheitsordnung. Deren Demontage, die Demontage von Pluralität, ist niemandem erlaubt, weder zugewanderten, noch einheimischen Extremisten. Aber es ist auch nicht zu erkennen, dass die Anregung zur Integration in diese Freiheitsordnung eine Zumutung wäre, solange Pluralismus selbst nicht als Zumutung empfunden wird – wie von Fundamentalisten jeglicher Couleur.

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Heinrich Oberreuter, geboren 1942 in Breslau, 1980 bis 2010 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, seit 2012 Leitung der Redaktion des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft.

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