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Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union benötigt eine neue Dynamik

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Die seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 erfolgten Erweiterungen der Europäischen Union in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sollten diesen Staaten Freiheit und Wohlstand garantieren. Mit der militärischen Aggression Russlands 2014 in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim begann die Zeitenwende, nicht erst 2022 mit dem Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Seitdem hat sich die geopolitische Situation fundamental verändert. Heute geht es um die Selbstbehauptung Europas vor allem gegenüber den Bedrohungen durch Russland. Hinzu kommen die Herausforderungen durch den Systemrivalen China oder eine erneut drohende „America first“-Politik der USA.

Die vorgesehene Erweiterung der Europäischen Union (EU) um die Staaten des sogenannten Westlichen Balkans (offizielle Beitrittskandidaten sind Albanien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien), um die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien ist vor diesem Hintergrund keine bloße Fortsetzung der Zusammenführung und die geografische Vollendung des freien Europas. Die EU-Erweiterung dient heute der Wahrung und Stärkung von Frieden, Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und Einheit dieses Europas. Das ist die aktuelle Dimension der Erweiterungsdiskussion. Wenn die Europäische Union hier scheitert, scheitert sie bei ihrer Selbstbehauptung. Deshalb brauchen wir ein neues Verfahren im Beitrittsprozess sowie eine Verbesserung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union.

Die Einheit Deutschlands und Europas wäre nicht möglich gewesen ohne die Freiheitsbewegung in Polen und die Grenzöffnung in Ungarn. Helmut Kohl hatte bereits damals festgestellt, dass die ersten Steine aus der Berliner Mauer in Ungarn herausgebrochen wurden. Schon zuvor hatte der polnische Beitrag – die freie Gewerkschaft Solidarność und der polnische Papst Johannes Paul II. – eine Bewegung für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gang gesetzt, die letztlich selbst vom sowjetischen Machtapparat nicht gestoppt werden konnte.

 

Unterschiedliche Interessen und Erwartungen

Heute, zwanzig Jahre nach Beginn der Aufnahme der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten, ist der Erweiterungsprozess eine Erfolgsgeschichte. Im Unterschied zu den vorangegangenen Erweiterungen hätten die politischen und ökonomischen Unterschiede zwischen den alten und den neuen Mitgliedern allerdings nicht größer sein können. Durch die Erweiterungspolitik wurden und werden die politische Modernisierung und das wirtschaftliche Wachstum gestärkt – nicht nur in den Beitrittsländern. Die Europäische Union ist stärker geworden, vor allem durch eine stabile Währungsunion, der inzwischen acht der neuen Länder angehören.

In einer – was die Anzahl ihrer Mitgliedstaaten betrifft – seit 2004 doppelt so großen Union sind die Interessen und Erwartungen natürlich vielfältiger geworden. Zumal es nicht eine europäische Gründungsgeschichte und nicht eine europäische Integration gibt: Während Deutschland, Frankreich und die übrigen Gründungsstaaten vor allem über den Friedensgedanken Mitglieder der Europäischen Union geworden sind, war für die meisten Länder der Erweiterungsrunden seit 1989 der Freiheitsgedanke entscheidend. Sie wollten über eine EU-Mitgliedschaft vor allem ihre neu gewonnene staatliche Unabhängigkeit und die demokratische Entwicklung absichern.

Worum geht es den Beitrittskandidaten heute? Für die Westbalkan-Staaten sind die Wohlstandserwartungen bestimmend, auch, um die enorme Abwanderung von jungen Menschen und Fachkräften zu stoppen. Für die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien ist der Sicherheitsgedanke prägend, da sie sich einem vermutlich auf Jahrzehnte äußerst aggressiven imperialistischen Russland gegenübersehen.

Wir müssen heute feststellen, dass der Erweiterungsprozess mit den Westbalkan-Ländern erheblich an Dynamik verloren hat. Im Juni 2003 gaben die damaligen EU-Länder mit der Agenda von Thessaloniki das Versprechen, diese Länder in die Europäische Union aufzunehmen. Mit Serbien und Montenegro wird seit über zehn Jahren verhandelt. Albanien und Nordmazedonien konnten die Beitrittsverhandlungen erst zwanzig Jahre später im Jahr 2023 beginnen. Die Ukraine und die Republik Moldau sowie Bosnien und Herzegowina haben den Verhandlungsbeginn vor sich, was mit Blick auf Kosovo und Georgien noch aussteht. 
 

Nachlassende Attraktivität der EU-Perspektive

Die lange Dauer dieser Annäherungsprozesse an die Europäische Union offenbart zugleich deren Schwäche. Früher reichte ein Zeitraum von fünf bis sechs Jahren aus, um ein Land in die Europäische Union zu integrieren, nachdem es seinerseits die Kopenhagener Kriterien, welche die Beitrittsbedingungen und Reformziele für die EU-Beitrittskandidaten formulieren, erfüllt und den Acquis Communautaire, der alle Rechte und Pflichten umfasst, die für jedes EU-Mitglied verbindlich sind, übernommen hatte. Dabei galt: Der Weg war auch das Ziel, denn die Menschen in den Kandidatenländern hatten die glaubwürdige Perspektive, in einer überschaubaren Zeit zu EU-Bürgerinnen und -Bürgern zu werden. Spätestens durch den fast achtjährigen Verhandlungs- und Ratifizierungsprozess für den Beitritt Kroatiens geriet diese Gewissheit ins Wanken.

Dies hat zur Folge, dass in den Westbalkan-Ländern die EU-Perspektive an Attraktivität verloren hat und die Zustimmung zur Europäischen Union rapide gesunken ist. Hinzu kommt, dass der gesamte Westliche Balkan derzeit einen demografischen Ausblutungsprozess durchlebt. Gerade Menschen der jungen Generation und der Mittelschicht wandern in EU-Mitgliedstaaten aus. Zudem ist die Geburtenrate massiv gesunken. Und die Dauerkonflikte zwischen Kosovo und Serbien oder in Bosnien-Herzegowina belasten den Erweiterungsprozess und bergen Risiken für die Sicherheit und Stabilität.

Erforderlich ist eine neue Dynamik durch eine Neuausrichtung der EU-Erweiterungspolitik. Dafür sind mit den Kandidatenländern – einem schrittweisen Integrationsansatz folgend – auf dem Weg zur EU-Vollmitgliedschaft länderspezifische attraktive Zwischenstufen für eine engere Anbindung an und Einbindung in die Europäische Union zu vereinbaren: Statt von den Beitrittskandidaten zu verlangen, dass sie eine „Messlatte“ von kaum zu bewältigender Höhe überspringen, sollten künftige Verfahren verschiedene Stufungen vorsehen. Dabei muss nach einer jeden Stufe ein spürbarer Vorteil für das Land und seine Bürgerinnen und Bürger erkennbar werden. Zentral bleibt allerdings: Die Kopenhagener Beitrittskriterien müssen weiterhin vor einer Aufnahme in die Europäische Union strikt erfüllt werden! Es geht also weder um eine Verwässerung der EU-Beitrittskriterien, noch liegt eine Verkürzung des Beitrittsprozesses im Interesse der Kandidatenländer oder der Europäischen Union, denn durch ein oft fiktiv genanntes Beitrittsdatum werden die Beitrittsvoraussetzungen nicht schneller erfüllt.

 

Zwischenstufe „Assoziierte Mitgliedschaft“

 

Im Interesse der Wahrung und Stärkung von Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa könnte als attraktive Zwischenstufe eine so zu benennende „assoziierte Mitgliedschaft“ im Bereich der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgesehen werden. Voraussetzung wäre, dass das jeweilige Land alle EU-Entscheidungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, auch jene gegen Russland und China, vollständig mitträgt. Dies hat allein Serbien bisher nicht erfüllt. Zudem müsste das betreffende Land für eine „assoziierte Mitgliedschaft“ die Verhandlungen über das Kapitel Außenbeziehungen abgeschlossen haben. Diese Themenschwerpunkte müssten deshalb parallel mit den Rechtsstaatskapiteln an den Beginn des Verhandlungsprozesses gestellt werden. Bis zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen sollte das Land zunächst ohne und danach (in der Ratifizierungsphase) mit Stimmrecht teilnehmen.

Außerdem könnten bereits jetzt Delegationen der Beitrittsländer eine ständige Beobachterrolle im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat erhalten. Durch eine solche Einbeziehung in das Handeln der Europäischen Union würden die Länder Teil der Prozesse und der Abläufe innerhalb der Europäischen Union sein und in Vorbereitung ihrer künftigen Mitgliedschaft konkrete Erfahrungen sammeln.

Mit einer stufenweisen Einbindung in bestimmte EU-Programme oder EU-Politiken würden zunächst auf die Stärken der Kandidatenländer zugeschnittene Formen der Beteiligung vereinbart werden. Das schafft viele Differenzierungsmöglichkeiten entsprechend den Fähigkeiten des Beitrittslandes. In dem Bereich, in dem es enger an die Europäische Union angebunden werden soll, muss es die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllen respektive im Verhandlungsprozess entsprechend fortgeschritten sein. Eine solche Anbindung sollte einschließen, dass das Land an den entsprechenden Ausschüssen und Ratsformationen der EU-Mitgliedstaaten (ohne Stimmrecht) teilnimmt.

Auch könnte der Beitritt zum EU-Binnenmarkt ermöglicht werden, sollte das Kandidatenland die Beitrittskriterien erfüllen, ehe die Europäische Union aufnahmefähig ist.

Mit derlei Schritten würde die Europäische Union mehrere Botschaften aussenden: Zum einen würden die Menschen in den Beitrittsländern spüren, dass sie dazugehören. Auf jeder Stufe würden sie die jeweiligen politischen, institutionellen und finanziellen Vorteile erfahren. Das sollte ihre Regierungen zu einer Beschleunigung ihrer Beitrittsanstrengungen ermutigen. Zum anderen würden Länder wie Russland und China erkennen, dass die Kandidatenländer zur Europäischen Union gehören. Zugleich muss die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union verbessert werden, damit sie aufnahmefähig wird. Ein schrittweiser Übergang zu mehr Mehrheitsentscheidungen ist notwendig, weil es sonst zu viele Blockademöglichkeiten gibt.

 

Schiedsgerichtliche Verfahren

Auch muss das Subsidiaritätsprinzip gestärkt werden: Die Europäische Union muss sich auf jene Aufgaben konzentrieren, die auf europäischer Ebene besser als auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene erfüllt werden können. Dies gilt vor allem für die Außen- und Sicherheits-, Migration-, Wirtschafts-, Handels-, Energie- und Klimaschutzpolitik.

Nicht zuletzt sind für eine neue Dynamik bei den Erweiterungsverhandlungen für alle EU-Mitgliedstaaten und die Kandidatenländer verbindliche Regelungen unabdingbar, die ausschließen, dass offene bilaterale Fragen während des Beitrittsprozesses für Erpressungsversuche instrumentalisiert werden können, wie es bei Nordmazedonien durch Griechenland und Bulgarien der Fall war. Dazu muss der Europäische Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können, ob eine Streitigkeit bilateraler Natur ist oder ob sie die EU-Integration insgesamt betrifft. Wenn sie bilateraler Natur ist, muss es ein schiedsgerichtliches Verfahren geben. Integrationspolitische Streitigkeiten sind etwa durch den Europäischen Gerichtshof zu entscheiden.

Angesichts der globalen Herausforderungen, einem imperialistischen Russland und dem Systemkonkurrenten China benötigen wir zumindest diese Reformen, um eine neue Dynamik im Erweiterungsprozess zu erzeugen und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Die Erfahrung von zwanzig Jahren erfolgreicher Zusammenführung Europas sollte uns den Willen und die Kraft dazu geben.

 

Gunther Krichbaum, geboren 1964 in Korntal, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU- Bundestagsfraktion.

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