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Die Flüchtlingsfrage und die Europäische Union

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Die erschreckenden Bilder reißen nicht ab, lassen niemanden kalt: ganze Flüchtlingsfamilien, hoffentlich gerettet aus überfüllten und oftmals schrottreifen Booten. Männer, Frauen, Kinder. Das Bild des ertrunkenen syrischen Jungen, dessen Leiche an einen türkischen Strand geschwemmt wurde, oder die Flüchtlinge , die über Ungarn oder den Balkan nach Deutschland kommen.

Angesichts der Herausforderung ist klar: Dies ist ein gesamteuropäisches Problem, das nur auf europäischer Ebene gelöst werden kann. Denn kein Mitgliedsstaat Europas, auch nicht ein so starkes Land wie Deutschland, kann diesen Zustrom allein bewältigen. Europa muss seiner Verantwortung gemeinsam gerecht werden. Wir sind der Kontinent der Humanität.

Deutschland steht als eines der Hauptaufnahmeländer im besonderen Fokus. Bundesinnenministerium und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechneten mit bis zu 800.000 Asylsuchenden in diesem Jahr. Diese Kalkulation entstand Ende August. Niemand weiß, wie viele es am Ende tatsächlich werden.

Dabei haben die Helfer bei Polizei und Behörden sowie vor allem die vielen Freiwilligen mit ihrer spontanen Hilfsbereitschaft gezeigt, was unser Land alles leisten kann. Aber wir müssen uns jetzt Gedanken darüber machen, wie wir diese Herausforderung gesamteuropäisch und langfristig in den Griff bekommen. Denn nur über einen koordinierten europäischen Ansatz können wir die Ursachen angehen und verhindern, dass die Flüchtlingsströme weiter anschwellen.

Die EU-Kommission hat dazu konkrete Vorschläge vorgelegt, wie die Europäische Union dieses Problem umfassend angehen kann. Um es mit den Worten von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu sagen: „Wir brauchen mehr Europa, und wir brauchen mehr Union.“ Die Kernfrage ist dabei die Verteilung von Flüchtlingen. So will die EU-Kommission einerseits über einen schnellen Notfallmechanismus die direkt betroffenen Staaten Griechenland, Italien und Ungarn entlasten, indem die restlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich ebenfalls bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen. Nötig ist dabei ein permanenter Verteilerschlüssel für Flüchtlinge . Auch dazu hat die EU-Kommission einen Vorschlag vorgelegt. Angelehnt an den in Deutschland üblichen „Königsteiner Schlüssel“ sieht dieser Mechanismus unter anderem eine Orientierung an der Einwohnerzahl und der Wirtschaftskraft vor.

Ein solcher permanenter Verteilerschlüssel ist wichtig, denn wir müssen hin zu einem festen System. Nur so können wir verhindern, dass sich die Mitgliedsstaaten von Woche zu Woche über die Anzahl der aufzunehmenden Flüchtlinge zerstreiten. Nur mit einer festen Quote verhindern wir, dass die Asylpolitik zum Spaltpilz Europas wird.

Aber auch eine solche Quote ist nur ein erster Schritt auf dem langen Weg hin zu einem kohärenten Umgang mit der Flüchtlingsfrage. Wir brauchen mehr Ehrlichkeit und eine offene Debatte, wie wir die Flüchtlingsfrageangehen. Dies schließt mit ein, dass Europa den Mut haben muss, klar zu sagen, dass wir nicht die Fähigkeit zur Aufnahme aller Wirtschaftsmigranten haben. Wir können nicht jeden in Europa aufnehmen, der zu uns will.

Flüchtlingen, die aus einem Kriegsgebiet wie Syrien zu uns fliehen, muss Europa Schutz bieten, das steht außer Frage. Aber in der Europäischen Union ist jeder fünfte Jugendliche ohne Ausbildungsplatz oder Arbeitsstelle.

Ein langfristiger Umgang mit der Flüchtlingsfrageerfordert zudem, dass wir endlich bestehendes europäisches Asylrecht konsequent umsetzen. Es gibt in Europa bereits umfangreiche Mindeststandards über den Umgang mit Asylbewerbern. Dazu gehört, dass Flüchtlinge zuerst in dem Mitgliedsstaat registriert und menschenwürdig untergebracht und versorgt werden, wo sie erstmals europäischen Boden betreten. Wir müssen deshalb alles daran setzen, dass wir die betroffenen Länder – vor allem Griechenland und Italien, in jüngster Zeit auch Ungarn – bei der Umsetzung dieser Rechtsstandards unterstützen.

Auch hierzu hat die EU-Kommission ein Konzept vorgelegt. In „Hotspots“ sollen Flüchtlinge registriert werden und eine Erstversorgung bekommen. Die betroffenen Staaten müssen hierzu finanzielle und administrative Hilfe bekommen, insbesondere auch über die bestehenden Strukturen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und des EU-Asylbüros EASO. Um dies zu gewährleisten, müssen die entsprechenden Mittel bereitgestellt werden. Die EU benötigt dazu eine Debatte im Rahmen des nächsten EU-Jahreshaushaltes sowie der mittelfristigen Finanzplanung.

Zu einer entschlossenen Umsetzung des Asylrechts zählt zudem die Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Auch hier gibt es viele Möglichkeiten, die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu verstärken. Die EU Kommission hat mit ihrem Vorschlag für eine gemeinsame Liste sicherer Drittstaaten eine gute Ausgangsbasis geschaffen. Dies gilt vor allem für den Westbalkan. Denn Staaten, die über den Beitritt zur EU verhandeln und teils sogar NATO-Mitglied sind, müssen auch als sichere Drittstaaten gelten. Wir dürfen uns dieser Debatte nicht verweigern, denn nur so erhalten wir in unserer Bevölkerung eine positive Akzeptanz für die Flüchtlinge , die vor Krieg und Zerstörung fliehen und denen Europa Schutz bieten muss.

Aber Europa muss auch über die unmittelbare Nachbarschaft des Balkans hinausblicken auf die Ursachen der Instabilität in Nordafrika und dem Nahen Osten. Die EU kommt nicht umhin, endlich entschlossener und mit einer klaren Strategie nach außen aufzutreten, um unsere Nachbarschaft zu stabilisieren und so neue Flüchtlingswellen zu verhindern. Dazu gilt es, nationale Egoismen zu überwinden und endlich zu einer echten, kraftvollen, europäischen Außenpolitik zu finden. Dass dies möglich ist, hat nicht zuletzt die Geschlossenheit der Europäischen Union im Umgang mit Russland im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim gezeigt.

Das bisherige Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik ist also nicht einem Scheitern Europas zuzuschreiben, sondern einem Mangel an gemeinsamer europäischer Initiative. Wir müssen nationale Egoismen über winden, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.

Die EU-Kommission hat dazu den richtigen ersten Schritt gemacht und entsprechende Gesetzgebungsvorschläge vorgelegt. Im Europäischen Parlament zeichnet sich für diese Initiativen eine breite Mehrheit ab. Jetzt müssen auch die EU-Mitgliedsstaaten im EU-Ministerrat zeigen, dass nur eine gemeinsame europäische Kraftanstrengung eine langfristige Lösung der Flüchtlingsfragebietet. Nur so kann verhindert werden, dass die Flüchtlingsfrage zum Spaltpilz Europas wird. Stattdessen hat Europa die Möglichkeit, der Flüchtlingsfrage entschlossen entgegenzutreten und eine langfristige Lösung zu finden.

 

Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen, Bezirksvorsitzender der CSU Niederbayern, seit 2014 Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.

 

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