Konrad Adenauers bekannter Ausspruch „Demokratie muss gelebt werden“ trifft auch auf die europäische Einheit zu. Die Völker identifizieren sich nicht oder nicht mehr mit der Europäischen Union (EU).1 Diese Entfremdung ist noch keine völlige Ablehnung des europäischen Projekts. Sie wird jedoch von rechts- und linkspopulistischen und/oder -extremistischen Parteien, aber zum Beispiel auch von der ideologisch nicht klassifizierbaren Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos bei Wahlen instrumentalisiert.2 Die „Ablehnung Brüssels“ und seiner Politik ist heute der politische Rammbock für eine Vielzahl kritischer Diskurse wie Antiliberalismus, Ablehnung der Globalisierung, Antikapitalismus, Antibürokratismus, Nationalismus, Verteidigung von Identität und Traditionen, Ablehnung der Zuwanderung und Xenophobie, Erhalt der sozialen Errungenschaften und so weiter. Je nach „linker“ oder „rechter“ politischer Ausrichtung haben unterschiedliche politische Forderungen Vorrang, zum Beispiel das „Europa der Nationen“ (Freiheitliche Partei Österreichs, FPÖ) oder der „antikapitalistische Altereuropäismus“ (Podemos).3 Die Annäherung der rechts- und linkspopulistischen und -extremistischen Diskurse ist offensichtlich. Ihr strategisches Ziel ist identisch: Destabilisierung des politischen Systems und Machtübernahme, wie zum Beispiel in Frankreich, sowie die Zerschlagung der EU.
Die Wahlergebnisse sind besorgniserregend. Bei den Europawahlen 2014 sowie den nationalen Parlaments- und sonstigen Wahlen 2015/16 in europäischen Ländern ist der Erfolg der europakritischen oder -feindlichen populistischen Parteien unübersehbar. Die im weitesten Sinne euroskeptischen Kräfte – Rechtsextreme, Nationalpopulisten, britische Konservative, Souveränisten, Kommunisten, Postkommunisten, radikale Linke und die Fünf-Sterne-Bewegung – errangen 2014 mehr als 200 Sitze und stellen 28 Prozent der Abgeordneten.
Mit dem am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht entstand die EU als Nachfolgerin von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Gemeinschaft (EG). EWG und EG waren von der Bevölkerung der Mitgliedsländer mit „permissivem Konsensus“ akzeptiert worden. Die Erweiterung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Machtbefugnisse der EU im Vergleich zur EG ließ in den 1990er-Jahren kollektive Besorgnis und Kritik anwachsen. In Meinungsumfragen jener Zeit zeigen sich viele Wähler verunsichert. Angesichts der geplanten Osterweiterung und insbesondere wegen der „Intransparenz“ der Diskussion der Ziele und der Eschatologie dieses Europas stellen sie die Frage nach der Legitimität der EU. In der Welt der 1990er-Jahre ist der sowjetkommunistische „Feind“ untergegangen. Der Wohlstand der EU-Mitgliedstaaten ist relativ hoch, die osteuropäischen Staaten erleben einen wirtschaftlichen Take-off. In dieser Phase politischer Stabilität mit vitalen demokratischen Parteien wird die EU nicht oder nicht mehr als bedeutender Faktor für künftige „Gewinne“ wahrgenommen.
Seit den 1990er-Jahren ist das Thema des Kapitalismus, der semantisch mit Hyperliberalismus und Globalisierung verwechselt wird, und seines Triumphes eines der bestimmenden ideologischen Module des euroskeptischen Populismus von rechts und links. Die EU wiederum vertritt die von den politischen Eliten nur unvollständig formulierte Vorstellung, dass diese Union an die Herausforderungen der Globalisierung angepasst ist. Die Konkurrenz der USA oder der Schwellenländer wie China kann das vereinte Europa leichter bestehen. Dazu muss es sich aber zu einer „engeren“ und von Natur aus supranationalen Union weiterentwickeln. Sie basiert auf einer Politik des freien Wettbewerbs, der, wo nötig, von Verwaltungs-, Finanz- und Gesetzesvorgaben der Europäischen Kommission und der nationalen Regierungen reguliert wird. Den betroffenen EU-Bürgern wurden diese Vorstellungen jedoch nicht klar und systematisch genug kommuniziert.
EU-kritische Populisten hatten leichtes Spiel, eine negative Bilanz des europäischen Einigungsprozesses zu ziehen. Liberalismus und Hyperliberalismus wurden attackiert als deregulierende und die Globalisierung verstärkende Politiken. Die europäischen Eliten als „Agenten“ und Unterstützer der liberalen Globalisierung hätten die europäischen Bürger im Stich gelassen. Die Errungenschaften des Sozialstaates der 1950erbis 1980er-Jahre – soziale Sicherheit, Rente, Kündigungsschutz, Mitbestimmung – würden infrage gestellt und abgeschafft. Die kapitalistische Logik würde zur Deindustrialisierung der historischen wirtschaftlichen Strukturen und zur Standortverlagerung, zur innereuropäischen Migration, zum Verschwinden der Regionen und ihrer Besonderheiten, aber auch zur Immigration aus Nicht-EU-Mitgliedsländern und damit zu wirtschaftlichem Druck auf Einkommen und Arbeitnehmerrechte führen.4 Schließlich würden die Nationalstaaten verschwinden oder zumindest die meisten Hoheitsrechte verlieren.
Rückwendung zum „goldenen Zeitalter der Nation“
Dies propagierend, präsentieren sich die euroskeptischen Rechtspopulisten als Verteidiger eines identitären Nationalismus. Dabei nutzen sie verschiedene Diskurse parallel: die Verteidigung des Europas der Nationen, der Nation und ihrer spezifischen Geschichte und Traditionen (zum Beispiel in England und Frankreich), der Regionen und der Heimat. Für jede dieser Ebenen formulieren sie einen spezifischen identitären Diskurs. Die Rettung der Volkswirtschaften und der traditionellen Industrien, die Abschaffung des Euro, der Vorrang der eigenen Bürger auf dem Arbeitsmarkt und bei der sozialen Sicherung, die Festung Europa und der Kampf gegen die amerikanische Akkulturation gehören zu den komplementären ideologischen Modulen. Sie lassen Modernisierungsverlierer (oder Menschen, die ihren Status bedroht sehen) Parteien wie den Front National oder die FPÖ wählen. Dies gilt auch für eine wachsende Zahl von Modernisierungsgewinnern, die ihre Errungenschaften schützen wollen.5 Übertüncht vom altereuropäischen antikapitalistischen Dialog, wird die Nation auch von links wiederentdeckt, wenngleich in eher versteckter Form. Dies wird deutlich sichtbar in der Monde diplomatique, die zur intellektuellen Vorhut des Altermondialismus (der eine Globalisierung „von unten“ befürwortet, wie beispielsweise Attac) gehört. Aktuell scheint die spanische Podemos dem Kommunismus und dem traditionellen Linksextremismus näher zu stehen als Syriza. Ihrem Programm zufolge strebt Podemos zunächst auf der nationalen, dann auf der transnationalen Ebene6 eine Politik gegen die EU an. In beiden Fällen reflektiert der antieuropäische Populismus das Entstehen neuer politischer Kulturen: Die Beteiligung an Wahlen ist nicht mehr die Regel. Traditionelle Milieus und Stammwählerschaft sind im Westen verschwunden und haben im Osten niemals existiert. Die Distanz zur nationalen und europäischen Politik ist gewachsen.
Tabus sind gefallen: Breite Wählergruppen stimmen für populistische oder extremistische Parteien, die nicht zum traditionellen politischen System gehören, besonders unter den jungen Menschen (zum Beispiel in Österreich und Frankreich). Die Entdämonisierung der nationalpopulistischen Parteien hat verfangen. Charismatische Vorsitzende wie Marine Le Pen, Nigel Farage oder Heinz-Christian Strache verweisen in ihrem Diskurs zurück auf eine Art „goldenes Zeitalter der Nation“. Aus der Stimme für eine Nicht-Mainstream-Partei wird eine Wähleroption unter anderen, vor allem seit 2008, im Kontext der Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise in der EU und in ihren Mitgliedstaaten.
Die antieuropäischen populistischen Parteien haben es verstanden, diese lange Krise auszunutzen. Sie prangern die offensichtliche fehlende Koordination der Europäer an, die Schwäche des Euro als Einheitswährung, die Austeritätsmaßnahmen, gewünscht von Deutschland, das als dominant und arrogant charakterisiert wird, den Anstieg von Arbeitslosigkeit und die Zunahme des Prekariats. Als Lösung fordern sie den Stopp der Zuwanderung, mehr Protektionismus auf europäischer und nationaler Ebene, den Vorrang der eigenen Bürger auf dem Arbeitsmarkt und den Austritt aus dem Euroraum. Die Frage der Zuwanderung hat an Bedeutung gewonnen, nicht nur wegen ihrer ökonomischen Folgen (Langzeitkosten, Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zuwanderern), sondern auch – und vielleicht vor allem für die noch wirtschaftlich prosperierenden Nationen – wegen ihres Verweises auf eine gesamtgesellschaftliche Identitätskrise. Globalisierung und Akkulturation werden wahrgenommen als Bedrohung der nationalen Gemeinschaft, der Identität, regionaler Kultur und traditioneller Lebensweise. Deshalb betrachten viele Wähler das ideologische Angebot des Rückzugs und der Hinwendung zum „Glanz einer idealisierten Vergangenheit“ der antieuropäischen Populisten als Hoffnung auf eine „bessere Welt“, als Orientierungshilfen und Referenzwerte. Jenseits der ökonomischen Folgen können antieuropäische Diskurse nur erfolgreich sein, wenn die europäische Integration teilweise als negativ wahrgenommen wird und im Alltag Probleme bereitet. Der Erfolg der Brexit-Kampagne hat dies eindrucksvoll bewiesen.
Institutionelle Intransparenz, überpräsente Demokratie
Die Europäische Kommission und „Brüssel“ werden als autoritäres, technokratisches und intransparentes System angeprangert. Ein Vorrang der Wirtschaftspolitiken vor den politischen und sozialen Fragen wird behauptet; die Zuwanderung, zumal wenn sie als „unkontrolliert“ wahrgenommen wird, ruft Ängste hervor.7 Die Erweiterung der EU – man denke an die Türkei – wird ebenso kritisiert wie die weitgehend geheim gehaltenen Verhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP). Die institutionelle Intransparenz kontrastiert mit der Perzeption einer im Alltag überpräsenten Bürokratie, die alles regeln will (zum Beispiel die Krümmung der Bananen). Gravierend ist ferner die Unkenntnis der Funktionsweise Europas und seiner Institutionen. Instinktiv empfinden die Bürger einen großen Unterschied zwischen den parlamentarischen Demokratien und der „Brüsseler Welt“.
Die Autonomie von Einrichtungen wie der Europäischen Zentralbank, die von der Politik nicht mehr kontrolliert wird, bringt viele Wähler dazu, die Rückübertragung bestimmter Rechte auf die nationale Ebene zu fordern. Schließlich führte die nur allmähliche Zunahme der politischen Macht des Europäischen Parlaments dazu, dass die Wähler die Europawahlen als weitgehend nutzlos betrachteten. Bis heute gehen sie davon aus, dass die Entscheidungen ohnehin an anderer Stelle fallen. Deshalb ist die Wählermobilisierung schwach. Und schließlich zeigen die Umfragen, dass die Wähler 2014 ihre Wahlentscheidung von der nationalen – und nicht der europäischen – Politik abhängig machten. Sie nutzten die Wahlen zum Europäischen Parlament oft als Gelegenheit, ihren Regierungen einen Denkzettel zu verpassen.
An diesem Punkt kehren wir zu Adenauer zurück. Weder den europäischen Eliten noch den Medien ist es gelungen, der europäischen Einigung ein positives Image zu verleihen. Dabei ist sie trotz der aktuellen Probleme ein erstaunlicher Erfolg. Die starke Demotivierung der Bürger bezüglich Europa ist nicht überraschend, denn es fehlt ein europäisches Ideal, das zu einer neuen Identität führen und im Alltag gelebt und erfahren werden kann. Diese Herausforderung muss bestanden werden, um den rückwärtsgewandten Nationalismen Paroli zu bieten.
Patrick Moreau, geboren 1951 in Wetzlar, Politikwissenschaftler und Extremismusforscher, Centre Nationale de la Recherche Scientifique, Straßburg (Frankreich).
1 Vgl. Forschungsprogramm IDEX – Université de Strasbourg – Airbus Group: „The New AntiEuropeanism“, Leitung: Patrick Moreau, Birte Wassenberg; Veröffentlichungen: Centre Raymond Poidevin (Hrsg.), Abstentionnisme, euroscepticisme et anti-européisme dans les élections européennes de 1979 à nos jours, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, erscheint im Herbst 2016; Moreau, Patrick / Wassenberg, Birte (Hrsg.): The 2014 European Elections: The Rise of Anti-Europeanism, Franz Steiner Verlag, 2 Bde., Stuttgart, erscheint im Herbst 2016; dies., Perceptions of “External” States on European Integration. Between Europeanism, Euroscepticism and alter-Europeanism, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, Frühjahr 2017.
2 Vgl. Pew Research Center: Euroskepticism beyond Brexit. Significant opposition in key European countries to an ever closer EU.
3 Ders.: Ideological splits on EU favorability.
4 Vgl. Pew Research Center, op. cit.: Europeans generally disapprove of EU’s handling of economy.
5 Vgl. Moreau, Patrick: De Jörg Haider à Heinz-Christian Strache. L’extrême droite autrichienne à l’assaut du pouvoir, Verlag Cerf, Paris 2012.
6 Vgl. Stéphane Couteau / Moreau, Patrick (Hrsg.): En Europe, l’éternel retour des communistes 1989–2014, numéro spécial de Communisme, Edition Vendémiaire, Paris 2014.
7 Vgl. Pew Research Center, op. cit.: Overwhelming majorities unhappy with EU’s handling of refugees.