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Finsterwalde aus der Retrospektive

Vier Monate nach meinem offenen Brief an die Bundeskanzlerin

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Dieser Text hat eine Vorgeschichte, und die lautet so: Anfang September 2017 rief mich ein Redakteur von Zeit Online an und bat mich, vor der Bundestagswahl noch einmal einen längeren Essay über Angela Merkel und ihr Verhältnis zu Ostdeutschen zu schreiben. Die Sommerferien gingen zu Ende, und der Wahlkampf schleppte sich so dahin. Vor allem die Medien hatten gehofft, der Wahlkampf würde noch einmal an Fahrt aufnehmen, aber niemand wollte so recht darauf hören. Merkels Herausforderer Martin Schulz wurde nicht müde, zu beklagen, dass die Amtsinhaberin jeder Debatte aus dem Weg gehe; mehr war zu diesem Wahlkampf bis dahin wirklich nicht zu sagen. Geht es den Deutschen zu gut, begannen sich die Ersten schon zu fragen.

Eigentlich saß ich gerade an einem Essay für ein Schweizer Magazin, einem über Angela Merkel. Die Schweizer wollten etwas zur Bundestagswahl machen und wussten auch nicht recht, was. Sie wussten nur, dass sie jenem Gefühl zustimmten, wonach Angela Merkel nach der Wahl von Donald Trump mehr als je zuvor jene Politikerin war, der man die Geschicke der Welt am ehesten in die Hände geben wollte. Ich schrieb dann solche Sätze wie: „Ich möchte mir ein Deutschland ohne Angela Merkel nicht vorstellen. Es wäre nicht mein Land, hätte wahrscheinlich nie mein Land werden können. Mein Deutschland-Gefühl ist in Wahrheit ein Angela-Merkel-Gefühl.“

Der Redakteur von Zeit Online rief mich an, weil in den Tagen zuvor im Internet wacklige Handyvideos aufgetaucht waren, die pöbelnde Menschen auf zumeist ostdeutschen Marktplätzen zeigten, die die Kanzlerin während ihrer Wahlkampfauftritte niederbuhten. Die überregionalen Medien hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht darüber berichtet. Noch am selben Tag fuhr ich mit meinem Sohn nach Finsterwalde in die Niederlausitz. Dort würde Angela Merkel am Abend einen ihrer letzten Wahlkampfauftritte in einer, sagen wir, größeren ostdeutschen Stadt vor der Wahl haben. Auch dort wurde sie ausgebuht. Man kann jetzt natürlich annehmen, dass ich das als Reporterin irgendwie gehofft hatte, aber ich muss sagen, ich habe das natürlich nicht. Eigentlich hatte ich naiverweise gedacht, zu einer völlig normalen Wahlkampfveranstaltung zu fahren.

Noch in derselben Nacht, zurück in Berlin, setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb auf, was ich gesehen und erlebt hatte. Ich schrieb darüber keinen normalen Text, das schien mir der Situation nicht angemessen, sondern ich schrieb einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin. Ein solcher Brief kam nämlich meinen Empfindungen am nächsten. War ich doch auf dem Marktplatz von Finsterwalde den ganzen Abend zwischen den erkennbar von der AfD mit Transparenten und Schildern ausgestatteten Pöblern, den normalen Zuschauern und der Bühne hin- und hergelaufen und hatte innerlich Zwiesprache mit Angela Merkel gehalten. Und genau dieses Gefühl wollte ich festhalten.

Reaktionen auf den offenen Brief

Der Brief an Angela Merkel erschien noch am selben Abend auf Zeit Online und erreichte in den nächsten 24 Stunden mehr als 500.000 Leser („Warum haben Sie denen nicht die Meinung gesagt?“, Zeit Online, 07.09.2017, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-09/angela-merkel-finsterwalde-wahlkampf-demonstranten-brief). Er wurde in den sozialen Netzwerken gelikt und geteilt wie noch kein Text, den ich vorher geschrieben hatte. Aber mal abgesehen davon, dass es natürlich toll ist, von so vielen Menschen gelesen zu werden, mal abgesehen davon, dass es den Deutschen offenbar doch nicht so gut ging, ist es doch um etwas anderes gegangen. Und was war das nun genau?

Hier kommt die gute Nachricht: Ich glaube, viele Leser waren froh, dass ich in dem Text etwas ansprach, was sie fühlten, was mit der Formel „Es lag in der Luft“ gleichsam wolkig und doch präzise beschrieben ist. Etwas, das mir vorher so nicht klar war: Sie sehnten sich nach einem schlüssigen Umgang mit dem immer stärker werdenden und sich ständig lauter und breitbeiniger inszenierenden Rechtspopulismus. In Deutschland, aber eigentlich in beinahe der ganzen westlichen Welt. Diese Sehnsucht schien und scheint bei vielen noch immer sehr groß zu sein.

Mein Text hat ihnen also den Eindruck vermittelt, ich wüsste eine Lösung für dieses Problem, ich wüsste, wie man mit Rechten umgeht, weil ich von Angela Merkel gefordert hatte, dass sie mit den Pöblern hätte reden müssen. Oder dass sie sich, wenn nicht das, so doch wenigstens an all jene hätte wenden müssen, die in ganz friedlicher und, ja, demokratischer Absicht gekommen waren, um ihr zuzuhören. Es stimmt: Ich glaube noch immer, dass man mit allen Teilen der Gesellschaft im Gespräch bleiben muss, dass sich keine Ränder bilden dürfen, die sich als ungehört und ungesehen empfinden.

Und hier kommt die schlechte Nachricht: Es stimmt wiederum auch nicht. Denn so einfach ist es leider nicht, nicht mehr, war es vielleicht nie. Heute, fast drei Monate später, wissen wir das klarer, spüren wir unsere Ohnmacht deutlicher. Die AfD sitzt nun als drittstärkste Fraktion im Bundestag, in meiner Heimatregion Sachsen sind die Rechtspopulisten sogar auf CDU-Stärke angewachsen, zum Ende des Jahres sind die „Jamaika“-Sondierungen, also die Vorgespräche zur Bildung eines politischen Bündnisses der Mitte, gescheitert, und das, was sich als Wut auf das sogenannte System und seine demokratischen Übereinkünfte während des Wahlkampfes auf den Marktplätzen so fassbar und anschaulich gezeigt hatte, jagt in Form rassistischer Meinungsäußerungen seither noch lauter und alltäglicher durchs Internet.

Entsolidarisierung mit jeder Art gesellschaftlicher Gruppe, der man nicht selbst angehört – so lassen sich die vergangenen Monate verkürzt beschreiben. Die Willkommenskultur ist stigmatisiert, stattdessen versuchen sich Ignoranten als neue Avantgarde zu inszenieren. In jener Frage jedoch, wie wir mit diesem Rechtsruck der Gesellschaft, dieser großen Welle der Entsolidarisierung, die längst die sogenannte Mitte erreicht hat, umgehen sollen, sind wir seither kein Stück weitergekommen. Mir scheint sogar, die Pöbler auf den Marktplätzen während der Bundestagswahl waren nur der Anfang, eigentlich ein Fanal. Die Gesellschaft reißt seither jeden Tag ein Stück weiter auseinander, und wir sind dabei, uns daran wohl oder übel zu gewöhnen. Eine verstörende Einsicht.

„Eine sonst stumme Leserin“

Nachdem mein Text erschienen ist, haben mich viele Reaktionen erreicht, mehr als 1.700 Leserkommentare kann, wer will, auf Zeit Online nachlesen. Es gab viel Beschimpfung und viel Lob, einige schrieben mir auch direkt und versuchten, aufrichtig ihr Leben zu schildern. Darunter war auch eine Frau, die ich gern ein wenig länger zitieren möchte. Sie erscheint mir exemplarisch; der Selbstbeschreibung ihres Facebook-Profils entnehme ich, dass sie einen Hochschulabschluss hat.

Sie beginnt ganz freundlich und schreibt sich zum Ende hin dann immer mehr in Rage: „Liebe Jana Hensel, gerne habe ich gelesen, was sie so geschrieben haben und ich schätze Sie auch für Ihren Mut sich öffentlich zu empören über den Hass der Angela Merkel entgegen schlägt. Da gehe ich mit, das kann ich verstehen, dass dies beängstigend und verstörend ist. Aber haben Sie sich auch mal gefragt warum diese Menschen so wütend sind? A. Merkel hat durch Ihre Politik der letzten 12 Jahre viele Misstände geduldet oder gar produziert: gucken Sie zur Massentierhaltung, … gucken Sie in die Schule Ihres Sohnes dort arbeitet vielleicht zeitweise 1 Erzieherin mit 85 Kindern im Hort … im Krankenhaus wo ich in der Pflege arbeite, herrschen fast ähnlich kriminelle Zustände wenn ich mit 30 Patienten in der Nacht alleine bin … Gucken Sie zur Wohnungspolitik, zur Rentenpolitik, zu den Hebammen! Wachen Sie auf! Die Politik von Angela Merkel duldet all dies: der Kapitalismus, die Ausbeutung von Mensch und Umwelt sind im vollen Gange!! Und Sie Frau Hensel unterstützen dies mit Ihrem Bekenntnis zu dieser Partei der CDU. Und wundern sich, dass unter dieser Politik durch diese Frau Hass produziert wird und eine Partei wie die AFD solchen Zulauf erfährt! Angela Merkel und die CDU sind doch dafür verantwortlich, dass diese Partei überhaupt entstanden ist. Sie lassen Flüchtlinge in unser Land ohne sich später darum zu kümmern und diese werden ähnlich wie viele andere arme sozial schwache Menschen alleine gelassen. Wenn das so weiter geht werden Bürgerkriegs ähnliche Zustände produziert! Diese Politik muss ein Ende finden! Bitte denken Sie als öffentliche Person noch mal darüber nach. Mit besten Grüßen, eine sonst stumme Leserin“.

Auch wenn ich der Frau in keinem einzigen Punkt zustimmen kann – ihre Sprache ist emotional bis aggressiv und außerdem polemisch, ihre Kritik an unserem Land pauschal, maßlos übertrieben und sicherlich in vielen einzelnen Punkten widerlegbar –, als Phänomen dagegen scheint sie mir interessant, muss ich sie ernst nehmen. Außerdem glaube ich, dass es mehr gibt, die so denken wie sie.

Am interessantesten jedoch scheint mir, dass sich diese Frau, die an unser Gemeinwohl Ansprüche erhebt und Interesse zeigt, zum Ende ihres Briefes hin letztlich doch zu jener beschriebenen Entsolidarisierung aufschwingt, in ihrem Fall zulasten der Flüchtlinge. Mit denen soll sie also, salopp wiedergegeben, die sonst schon untragbaren Zustände in unserem Land auch noch teilen müssen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es ihr aus genau diesem Grund um die Haltlosigkeit unserer Gegenwart geht. Sie beschreibt ein fiktives Szenario des Ausnahmezustandes, in dem sie sich außerstande sieht, auch noch Fremde aufzunehmen. Überspitzt formuliert, wird ihr das Selbstmitleid zu einem brauchbaren Argument für Fremdenfeindlichkeit, und sie wird im Alltag wahrscheinlich öfter schon die Erfahrung gemacht haben, dass dieser Argumentation kaum jemand widerspricht.

Problem in Ost und West

Dass diese Frau eine Ostdeutsche ist, habe ich mit Absicht noch nicht erwähnt. Denn ich halte das Problem längst nicht mehr für ein ostdeutsches, habe es in Wahrheit nie getan. Es hat nur in Ost und West unterschiedliche Gründe. Während Pegida in Ostdeutschland Nachwendeverwerfungen an die Oberfläche brachte, die über Jahrzehnte für jeden erkennbar unter der Oberfläche gegärt haben, glaube ich, dass der westdeutsche Rechtspopulismus im Kern eine antimoderne und nationale Deglobalisierungsbewegung ist. Beide allerdings haben die sogenannte Flüchtlingskrise als Initiation erfahren, und beide fühlen sich durch die anderen rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Europa bestärkt.

Pointiert formuliert könnte man sogar sagen, dass die ostdeutschen Anhänger von Pegida und der AfD aus einer jahrzehntelangen Isolation herausgetreten sind und ihr Protest zum ersten Mal nach dem Mauerfall anschlussfähig geworden ist, ja, sich sogar in dem Wahlverhalten jener weißen Mittelschicht spiegelt, die in Amerika für Donald Trump votiert hat. Lange Jahre fühlten sich diese ostdeutschen Wähler von dem strukturkonservativen Flügel der Linkspartei repräsentiert. Nun sind sie zur AfD abgewandert.

Hilft reden? Natürlich!

Ich gebe ehrlich zu, dass die momentane Situation wenig Anlass zur Hoffnung gibt. Wir müssen uns eingestehen, dass mehr Menschen als gedacht auf jenen Epochenwandel, der sich mit den Schlagwörtern Mauerfall und Ende des Kalten Krieges, Neoliberalismus, Europäische Union, 11. September 2001, Globalisierung, Digitalisierung, Einführung des Euro, neue Kriege und Terror eben nur schlagwortartig beschreiben lässt, mit Verbitterung und Aggression reagieren. Sie haben es sich mittlerweile in jenem Denkbild, dass niemand für sie sprechen würde, dass keiner sich ihrer annehmen würde, ziemlich bequem gemacht. Ganz so, wie sich die oben zitierte Briefeschreiberin selbst als „eine sonst stumme Leserin“ beschreibt.

Die Wahrheit ist freilich eher, dass sie mit jenen Werten der demokratischen Parteien nichts mehr anfangen können oder wollen, dass sie Solidarität und Teilhabe nicht mehr für zeitgemäß halten und so ihr Recht auf Wut, Empörung, Rassismus und Entsolidarisierung Stück für Stück stärker etabliert haben. Ob Reden dagegen hilft? Ja, natürlich! Unbedingt. Auch wenn wir mitunter – aus guten Gründen – daran zweifeln. Obwohl, nein, das stimmt nicht. Es gibt eigentlich keine guten Gründe, um an unserem demokratischen Diskurs zu zweifeln.

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Jana Hensel, geboren 1976 in Borna, Autorin und Journalistin.

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