Spätestens mit der 18-Uhr-Prognose am 13. März 2016, dem Sonntag der Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, hat der Kampf um die Deutungshoheit der AfD-Erfolge eingesetzt. Seither kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass so manchem in der Union der Erfolg der AfD gar nicht so ungelegen kommt, schließlich passt einigen der Kurs der CDU und der Kanzlerin schon lange nicht mehr. Angesichts der 41,5 Prozent bei der letzten Bundestagswahl hatten ihre Kritiker jedoch wenig mediale Aufmerksamkeit gefunden. Insofern geht es bei der Auseinandersetzung über die Ursachen des AfD-Erfolgs nicht nur darum, insbesondere in Fragen der Flüchtlingspolitik recht gehabt zu haben, sondern um einen Generalangriff gegen den Weg eines umfassenden Modernisierungsprozesses, den die CDU-Vorsitzende in ihrer Zeit als Regierungschefin beschritten hat.
Der Vorwurf gegen Merkel ist dabei leicht formuliert: Die Verluste der CDU, gerade auch in Baden-Württemberg, und die Ergebnisse der AfD werden eins zu eins in einen Zusammenhang gebracht und das Scheitern Merkels als evident beschrieben. Eine Rückorientierung zu einer traditionell-konservativeren Politik wird als heilende Strategie eingefordert. Richtig ist daran jedoch nur eins: Die Entwicklung der notwendigen Strategie für die Unionsparteien sollte von einer Analyse der Wahlergebnisse wesentlich beeinflusst werden, denn Wahlen sind der Lackmustest für die Wirklichkeit. Aber dafür muss man in eine intensive Analyse der Erfolge der AfD und der Wahlergebnisse der CDU eintreten, statt nur lapidar einen offensichtlichen Zusammenhang zu postulieren.
Höchst heterogene Wählerschaft der AfD
Stutzig sollte die „AfD-Gewinne-gleich-CDU-Verluste“-Anhänger schon das Ergebnis in Sachsen-Anhalt machen: Dort kommt die AfD aus dem Stand auf den Rekordwert von 24,3 Prozent, und die CDU hat lediglich Verluste in Höhe von 2,8 Prozentpunkten. Da muss ganz offensichtlich etwas anderes stattgefunden haben, als dass nur vom Merkel-Kurs enttäuschte konservativtraditionell orientierte CDU-Wähler sich in Massen von der CDU abgewandt hätten und ins AfD-Lager gewechselt wären. Und in Baden-Württemberg, wo bei der Bundestagswahl 2013 die CDU mit Merkel als Kanzlerkandidatin noch auf 45,7 Prozent gekommen war, erreicht sie jetzt bei der Landtagswahl lediglich 27,0 Prozent. Die AfD erhält zwar in Baden-Württemberg 15,1 Prozent, was aber auch nicht so ganz verwunderlich ist, wenn man sich erinnert, dass die Republikaner hier zweimal in Folge bei einer Landtagswahl um die zehn Prozent erzielt hatten. Viel dramatischer aus der Sicht der CDU ist die Tatsache, dass die Grünen in dem vermeintlich konservativen CDU-Musterländle Baden-Württemberg 30,3 Prozent erreicht haben und stärkste Partei wurden. Auch da fehlt schon bei einer einfachen Plausibilitätsprüfung ein überzeugender Zusammenhang zwischen Merkels Modernisierungskurs und den CDU-Verlusten. Die Grundlage dieses Erfolgs der Grünen in Baden-Württemberg wurde übrigens bereits fünf Jahre zuvor in der Konfrontation ausgerechnet mit einem dezidierten Bekenner eines konservativen CDU-Kurses gelegt, nämlich mit Stefan Mappus.
Eine solide Analyse der Ergebnisse der Landtagswahlen hingegen liefert ein differenziertes Bild der Realität. Das trifft gerade auch auf die AfD und ihre Erfolge zu. Bei den Wählern der AfD handelt es sich nämlich nicht nur einfach um eine Ansammlung enttäuschter konservativ-traditioneller ehemaliger CDU-Wähler, sondern um eine höchst heterogene Wählerschaft, deren gemeinsame Klammer die Unzufriedenheit ist – wenn auch eine Unzufriedenheit mit ganz unterschiedlichen Dingen.
Zweifellos hat sich die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der Kanzlerin auf das Wahlergebnis für die CDU negativ ausgewirkt. Insbesondere nach den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten ist die Stimmung in Deutschland in dieser Frage gekippt und hat zu einer Verunsicherung auch ursprünglich aufgeschlossener Wähler geführt. Da war es dann ein Leichtes für die AfD, mit der Angst vor einer Sicherheitsbedrohung durch Flüchtlinge auf Stimmenfang zu gehen. Trotzdem hatte sich bis zur Landtagswahl im März die Lage wieder etwas beruhigt, und sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz fand die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin anders als in Sachsen-Anhalt eine mehrheitliche Unterstützung. In den beiden westlichen Bundesländern sind aber die CDU-Spitzenkandidaten relativ kurz vor der Wahl und für die Wähler erkennbar auf Distanz zu Merkel gegangen. Sie haben dadurch ihrem jeweiligen Hauptkonkurrenten – Malu Dreyer (SPD) in Rheinland-Pfalz und Winfried Kretschmann (Grüne) in Baden-Württemberg – die Chance geboten, sich als die entschiedeneren Merkel-Unterstützer zu präsentieren. Gleichzeitig entstand der Eindruck, dass die CDU hier zu sehr auf den rechten Rand schielte. Diese Strategie hat der CDU nicht nur nicht geholfen, Wähler, die mit der AfD sympathisierten, von deren Wahl abzuhalten, sondern gerade in Baden-Württemberg nach 2011 ein weiteres Mal einen erheblichen Aderlass in Richtung Grüne bewirkt.
Selbst wenn man die methodisch problematischen Zahlen der ARD-Wählerwanderung ernst nimmt und einmal davon ausgeht, dass die 190.000 ehemaligen CDU-Wähler in Baden-Württemberg nicht zur AfD gewechselt, sondern alle bei der CDU geblieben wären, wäre die CDU dort lediglich auf 30,5 Prozent gekommen. Allein daran kann man erkennen, dass die AfD nicht der alleinige und nicht einmal der hauptsächliche Grund für das baden-württembergische CDU-Fiasko gewesen sein kann.
Bürgerliche AfD-Anhäner nicht mehr dominierend
Der weit verbreitete Eindruck, dass es sich bei den AfD-Wählern nur um ehemalige CDU-Wähler handelt, hängt auch wesentlich mit der Entstehungsgeschichte der AfD zusammen. Damals sind bei den Gründerfunktionären vor allem ehemalige CDU- und auch FDP-Mitglieder aus dem etablierten wirtschaftsliberalen Milieu in Erscheinung getreten und haben das Image der AfD zumindest bis zum Austritt von Bernd Lucke im Sommer 2015 geprägt. Inzwischen bestimmen andere und radikalere Personen den Kurs der AfD.
Das macht sich auch in einer deutlich veränderten Sozialstruktur ihrer Wähler bemerkbar. Bürgerliche Anhänger sind dort inzwischen nicht mehr dominierend. So erreichte die AfD beispielsweise in Baden-Württemberg bei den Arbeitern ein Ergebnis von 22 Prozent, bei den unter 35-Jährigen, die maximal über einen Realschulabschluss verfügen, 26 Prozent und bei den 35bis 59-Jährigen mit Hauptschulabschluss 24 Prozent. Bei Wählern mit Hochschulreife oder Hochschulabschluss blieb sie hingegen unterdurchschnittlich. Bei Beamten schaffte die AfD nur acht Prozent.
Und selbstverständlich haben die massiv ablehnenden Einstellungen gegenüber Flüchtlingen und Ausländern, mit denen die AfD punkten konnte, wesentlich mit der ökonomischen Situation der Wähler zu tun. Das wird nirgends deutlicher als in Sachsen-Anhalt: Während 58 Prozent aller Befragten, die ihre ökonomische Situation als gut einstuften, sagten, dass Sachsen-Anhalt die vielen Flüchtlinge verkraften kann, waren es bei denen, die ihre wirtschaftliche Lage als schlecht bewerteten, nur 19 Prozent. Da ist es dann kein Wunder, dass hier – ähnlich wie schon bei den Landtagswahlen 2014 – vor allem auch die Linke unter dem Erstarken der AfD leidet und ihrer klassischen Rolle als Partei des Protests und der Unzufriedenen beraubt wird.
Und nicht zuletzt hat die AfD mit ihren Landesvorsitzenden Björn Höcke und André Poggenburg durch gezielte Provokationen auch Rechtsradikale und Rechtsextremisten angesprochen und mit ihrer völkischen Rhetorik mobilisiert. Damit hat die AfD – noch mehr als 2014 in Sachsen – bei der Wahl in Sachsen-Anhalt die NPD dezimiert. Selbst der AfD-Vize Alexander Gauland, der sich gern als intellektueller Konservativer inszeniert, verstärkt dieses Profil der AfD durch eindeutig rassistische Äußerungen, wie etwa jene über Fußballnationalspieler Jérôme Boateng.
Alle Parteien mussten Federn lassen
All dies macht deutlich, dass alle Parteien wegen des Erfolgs der AfD Federn lassen mussten und nicht nur die CDU. Zudem gelang es der AfD durch ihre radikale Polemik, auch viele politisch eher weniger interessierte und eher weniger informierte Bürger an die Wahlurne zu bringen, die bei den vorausgegangenen Landtagswahlen nicht gewählt hatten.
Wenn aber die Analyse, AfD-Erfolge und CDU-Verluste gleichzusetzen, nicht zutrifft, kann auch die aus einer solchen unrichtigen Analyse abgeleitete Strategie nicht stimmen, dass sich die CDU wieder stärker der rechten Mitte zuwenden müsse. Gerade die Erfolge für die SPD in Rheinland-Pfalz und die Grünen in Baden-Württemberg, die sich jeweils im Wahlkampf als die wahren Vertreter von Merkels Kurs profilieren konnten (Kretschmann: „Ich bete für Merkel“), zeigen, dass der Erfolg für CDU, SPD und Grüne entscheidend davon abhängt, wie gut sie sich in der politischen Mitte etablieren können. Dort nämlich befinden sich in unserer modernen und immer stärker entideologisierten, pragmatischen Gesellschaft immer mehr Bürger. Die in der Grafik dargestellte Selbst-Einstufung der Wähler auf der Rechts-Links-Skala zeigt deutlich auf, wie viel Platz in der Mitte für die Union ist und wie wenig für sie in Richtung rechts zu holen wäre, selbst wenn sie es wollte und wenn es ihr gelänge, dort erfolgreicher zu sein. Insofern ist ein Kurs der Mitte für die Union ohne Alternative, jedenfalls wenn sie weiterhin erfolgreich sein will.
Rückwärtsgewandte Positionen jenseits der Adenauer-Zeit
Dankenswerterweise hat der AfD-Co-Vorsitzende Jörg Meuthen unter großem Beifall des Parteitages gesagt, wohin die AfD will: zurück in die Vor68er-Zeit. Das ist aber viel weiter zurück als zur CDU von gestern. Das ist die Zeit, bevor Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler die CDU modernisiert haben. Das ist noch vor einer CDU Rainer Barzels, und wenn man die Positionen der AfD zur Europapolitik und zur West-Bindung betrachtet, ist es noch nicht mal diejenige Konrad Adenauers.
Ganz sicher ist jedenfalls, dass die überwältigende Mehrheit der heutigen Wählerschaft nicht zurück in diese miefige und illiberale Zeit will. Vielleicht ist auch deshalb der Zuspruch bei den heute über 60-Jährigen für die AfD vergleichsweise schwach, weil sie aus ihrer Jugend noch Relikte dieser alten Zeit persönlich kennen, in die die AfD wieder zurück will.
Matthias Jung, geboren 1956 in Speyer, seit 1991 Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e. V. und geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung (ipos), seit 1994 geschäftsführender Gesellschafter der FGW Telefonfeld GmbH.