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Der Sänger Toni Krahl im Gespräch mit Axel Reitel

Toni Krahl, geboren 1949 in Berlin, seit 1975 Sänger der Band „City“. Ihre Lieder „Am Fenster“ und „Casablanca“ wurden von der DDR- Jugend als Hymnen der Reisefreiheit verehrt. 1968 wurde Krahl wegen Protests gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verhaftet. Laut „Staranwalt“ Wolfgang Vogel hätte er sofort in den Westen gehen können. Als er ablehnte, strafte der SED-Staat doppelt: Sein Vater darf nicht Auslandskorrespondent des Parteiorgans „Neues Deutschland“ bleiben, Krahl selbst wird von der Erweiterten Oberschule ausgeschlossen und mit einer zweijährigen Bewährung in der Produktion beauflagt. Dieses Interview ist der zweite Teil einer Serie, in der der einstige DDR-Oppositionelle Axel Reitel seine Gesprächspartner – wie er ebenfalls politische Häftlinge – zu ihren Hafterfahrungen und den daraus erwachsenden Konsequenzen befragt. Reitel, geboren 1961 in Plauen (Vogtland), wurde 1982 von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“. Heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller.

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Du bist 1949 geboren – im Gründungsjahr der Bundesrepublik wie auch der DDR. Wo setzt Deine erste politische Wahrnehmung ein?

Toni Krahl: Meine Eltern waren sehr politisch, antifaschistisch. Mutter wie Vater stammten aus jüdischen Familien, die nach der sogenannten „Machtergreifung“ Deutschland in Richtung Prag verlassen hatten. Dort lernten sie sich kennen. Vor­ her hatte mein Vater als Kommunist zwei Jahre zusammen mit Robert Havemann und Erich Honecker im Zuchthaus Brandenburg gesessen. Als Prag besetzt wurde, emigrierten meine Eltern weiter nach England. Der Rest der Familie – Großeltern, Onkel, Tanten – starben in den Lagern. So gab es einen tiefen Hass gegen den Faschismus, und entsprechend bin ich erzogen worden. Das habe ich bis heute verinnerlicht.

 

Wie erinnerst Du Dich an Deine Schulzeit?

Toni Krahl: Mein Vater war Auslandskorrespondent der Tageszeitung „Neues Deutschland“. Er wurde nach England geschickt, als ich in der dritten Klasse war. Ich musste dann aufs Internat, weil die Kinder von Botschaftern oder Journalisten nicht ins kapitalistische Ausland durften – wahrscheinlich, um keine „kapitalistisch-imperialistisch“ geprägten Schulen besuchen zu müssen. Als mein Vater nach Moskau versetzt wurde, bin ich bis zur siebten oder achten Klasse dort zur Schule gegangen.

Insgesamt war alles in der Schule sehr verbissen – überall Gleichmacherei und Drill. Keiner sollte aus der Reihe tanzen. Nichts war unpolitisch. Dazu gab es den Begriff von der „breiten Spitze“ – SED-Jargon, mit dem das Misstrauen gegenüber Intellektuellen und allen beschrieben wurde, die mit Kunst und Kultur zu tun hatten. Jeder wurde sofort verdächtigt, Spielball des Klassenfeinds zu sein.

 

Da half die Musik …

Toni Krahl: Die erste Single der Beatles „Love me do“ war so etwas wie der Gegenentwurf zu allem, was mir die Erwachsenenwelt vorgelebt hatte. Plötzlich war et­ was Wildes da, was anders war. Sie hat mich in Herz und Seele getroffen und beeinflusst mich bis heute.

 

1967, mit achtzehn, hast Du Deine erste Band „Wurzel minus 4“ gegründet. Dann kam 1968 – der Prager Frühling. In der Tschechoslowakei gab es jetzt – anders als in der DDR – Reisefreiheit, Pressefreiheit, Streikrecht …

Toni Krahl: Ich war damals ein paarmal in Prag. Auf dem Wenzelsplatz spürte man eine unglaubliche Freiheit und Liberalität. Da waren junge Leute aus Polen, Portugal, Westdeutschland, Tschechoslowaken sowieso – und kurioserweise sahen wir alle gleich aus: Ami-Parka-Kutten, Hippie-Klamotten, und bei den Jungs lange Haare. Und irgendjemand hatte immer eine Gitarre dabei. Bob Dylan und Joan Baez wurden von allen wie Gurus der Pop-Protestkultur verehrt.

In Prag gab es Zeitschriften und Schallplatten zu kaufen, von denen haben wir in der DDR geträumt – und die haben wir irgendwie in die DDR geschmuggelt.

 

Im August 1968 wurde der Prager Frühling blutig niedergeschlagen. Wie hast Du darauf reagiert?

Toni Krahl: Bereits vor Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten wurden die Entwicklungen in der ČSSR von der DDR­ Presse mit einer unglaublichen Hetze diffamiert. Jedes Wort im „Neuen Deutschland“, in der „Jungen Welt“ und der „Berliner Zeitung“ empfand ich, wie man heute sagen würde, als „Fake News“. Am 21. August 1968 kam es zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Ich habe mich daraufhin so benommen, als wäre ich ein freier Bürger in einem freien und demokratischen Land, und ich habe meine Meinung gesagt. Zwar habe ich da­ mit nur mein verbrieftes Recht in Anspruch genommen, nur lebte ich in keinem freien, demokratischen Land. Auch bei der Aktion, die ich organisiert und mit meinen Freunden durchgezogen habe, musste ich feststellen, dass dieser Staat und dieses System nur darauf ausgelegt waren, einem die Grenzen aufzuzeigen, und das war eine bittere Erfahrung.

 

Ihr habt vor der Botschaft der UdSSR in Ost-Berlin demonstriert.

Toni Krahl: Wir wollten unter anderem vor der Sowjetischen Botschaft eine Schweigekundgebung abhalten. Die Aktion ist durch die Staatssicherheit und uniformierte Polizei vorher mehr oder weniger aufgerieben worden, sodass wir uns relativ schnell verpissen mussten. Etwa zwei Wochen später, am 13. September, einem Freitag, wurde ich ins Polizeipräsidium Berlin, Keibelstraße, einbestellt – zur „Klärung eines Sachverhalts“. Ich war Schüler der 12. Klasse, es war schönes Wetter, und ich freute mich aufs Freibad nach der „Klärung“. Der Tag endete allerdings nach endlosen Verhören wegen „staatsfeindlicher Hetze“ beim Haftrichter.

Mir war damals überhaupt nicht klar, wovon die dort redeten. Es fühlte sich nur unglaublich ungerecht an, denn ich war zwar gegen den Einmarsch, aber kein Feind des Staates. Ich dachte in dieser Sache allerdings anders als dieser Staat und war der Meinung, dass die das aushalten müssten.

 

Die Aktion brachte dich in den „VEB Knast“. Du warst 18 und schmortest in Untersuchungshaft. Sagte man Dir, wo Du bist?

Toni Krahl: Bis zum letzten Tag der Untersuchungshaft wusste ich das nicht. In der Keibelstraße wurde ich mit Handschellen in einen kleinen „Barkas 1000“ gesteckt – innendrin: Minizellen ohne Fenster. Und damit ging es durch Berlin, und so habe ich bald die Orientierung verloren. Ich kam in ein Gefängnis in Pankow, aber während der ziemlich genau einhundert Tage und Nächte, die ich dort verbracht habe, hatte ich davon keine Ahnung.

 

Die Untersuchungshaft bei der Stasi erinnern viele als Tortur – mit den unglaublichsten Vorwürfen und Erpressungen.

Toni Krahl: Die Vernehmungszeit ging früh um acht Uhr los und dauerte bis mittags. Nachmittags ging es noch einmal vier Stunden weiter. Das lief über mehrere Wochen und folgte der Strategie, immer wieder von vorn anzufangen. Ziel der immer gleichen Fragen war es, mich zu zermürben und mir zu entlocken, dass ich von westlichen Geheimdiensten geführt worden wäre. Natürlich haben sich so Widersprüche eingeschlichen, weil ich nach einem Vierteljahr die genauen Abläufe nicht mehr so genau wusste. Deshalb wurde mir unterstellt, ich würde lügen, um die eigentlichen Hintermänner zu decken. Es hat mich tief empört, dass ich kein denkender Mensch sein sollte, sondern nur ein von außen gesteuerter Typ. Im Plädoyer des Staatsanwalts stand schließlich drin, dass ich durch die Westmedien verführt worden wäre.

 

Dein Anwalt war der „berühmte“ Wolfgang Vogel.

Toni Krahl: Mein Vater hat zu mir gestanden und mir sofort den besten Anwalt besorgt. Bis heute erstaunt mich, wie er, der nie mit politischen Prozessen in der DDR zu tun hatte, Wolfgang Vogel kontaktieren konnte – den Staranwalt in politischen Verfahren in der DDR und Unterhändler für Freikäufe durch die Bundesrepublik.

Nur ein wirklicher Anwalt war er nicht. Als ich ihn fragte, wie seine Verteidigungsstrategie vor Gericht aussehen würde, antwortete er, dass ich mich strafbar gemacht hätte und es nichts zu verteidigen gebe. Er würde aber dafür sorgen, dass ich nicht in den Vollzug nach Bautzen komme und bessere Haftbedingungen hätte. Er bot an, die Sache zu beschleunigen, wenn ich als Entlassungsort „Bundesrepublik“ angeben würde. Aber das wollte ich nicht, weil ich mir ein Leben im Westen – ohne Familie, Freunde, nicht einmal Bekannte – nicht vorstellen konnte.

 

Die Gerichtsverhandlung war also eine Farce.

Toni Krahl: Mein Urteil – drei Jahre Gefängnis wegen staatsfeindlicher Hetze – stand zwei Tage vor seiner Verkündung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Aber das wusste ich damals natürlich nicht. Womöglich durch Beschluss von Erich Honecker persönlich oder zumindest des Politbüros wurde die Strafe nachträglich in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Ich bekam nichts Schriftliches ausgehändigt. Allein ein späteres polizeiliches Führungszeugnis wies aus, dass ich verurteilt worden war.

 

Du sagtest bei früherer Gelegenheit, dass Dein Vater die eigentliche Strafe bekommen habe. Inwiefern?

Toni Krahl: Er wurde in die Parteigruppe, in die Gewerkschaftsgruppe und so weiter zitiert. Dort hat er sich meinetwegen „in den Staub werfen“ müssen und wurde unglaublich erniedrigt – immer nach derselben Leier: „Das ist nicht richtig. Du musst noch mal tiefer in dich gehen! Übe Selbstkritik!“

Im Ergebnis wurde er zwei Jahre lang beurlaubt. Als Verfolgter des Naziregimes und Kämpfer gegen den Faschismus hatte er zwar keine ökonomischen Einbußen, doch wurde er zur Untätigkeit verdammt. Danach durfte er wieder für das „Neue Deutschland“ arbeiten, aber natürlich nicht mehr als Journalist, sondern im Archiv.

 

Wie ging es für Dich weiter?

Toni Krahl: Ich durfte nicht mehr zur Schule gehen, sondern wurde mit Arbeitsplatzbindung in die sozialistische Produktion gesteckt: VEB Kombinat „7. Oktober“ für die Herstellung von Schwermaschinen in Berlin-Weißensee. In der Blechschlosserbrigade „Hans Marchwitza“ hatte ich dreißig Kollegen, die wegen der Prämien bestens auf der Klaviatur der Auszeichnungen spielten und schon dreimal „Kollektiv der Sozialistischen Arbeit“ geworden waren. Sie haben mich aufgenommen, mich unterstützt und gedeckt. Die wollten mich durch die beiden Jahre kriegen, damit ich nicht zurück in den Knast musste. Und das haben sie geschafft. Sogar die Schichten haben sie mit mir getauscht, damit ich nebenbei Musik machen konnte. Auch mein Abitur habe ich während der Bewährungszeit an der Abendschule nachgeholt.

 

Wie bist Du dann doch Musiker geworden?

Toni Krahl: Erst mal habe ich als Amateurmusiker „Mugge“ gemacht. Aber dann gab es die Möglichkeit, im Abendstudium die Musikschule in Berlin-Friedrichshain zu besuchen. Das war anders als eine Musikhochschule; ein Ort ohne großes Brimborium. Nicht einmal ein polizeiliches Führungszeugnis musste ich vorlegen. Dort habe ich meine „Profi-Pappe“ gemacht, mit der ich auftreten durfte.

 

Haben sie Dich weiterhin beobachtet?

Toni Krahl: Ich habe versucht, als freier Bürger in einem freien Land zu leben, selbst wenn ich die Grenzen dieses „freien“ Landes nun sehr genau kannte. Meine Erfahrungen musste ich nicht noch einmal machen.

Dass ich weiter unter Beobachtung stand, zeigte sich etwa bei meiner damaligen Frau: Als ich sie kennenlernte, war sie Stewardess. Als wir heirateten, gehörte sie plötzlich zum Bodenpersonal.

 

Wie kam es zum Erfolg des Songs „Am Fenster“?

Toni Krahl: Der Erfolg kam völlig überraschend, noch bevor die Platte rauskam. Wir haben dem Label Amiga den Song immer wieder angeboten, aber die haben abgewunken – zu lang, zu lyrisch.

Als man uns aber dort eine Single mit zwei anderen Liedern produzieren ließ, haben wir den Tonmeister gebeten, noch eine Demo mit „Am Fenster“ zu machen. Und dieses Band haben wir kopiert und einem Freund beim Radio gegeben. Als er es spielte, bekamen wir mehr Hörerpost als der erste Platz der wöchentlichen Hitparade, sodass er es noch einmal gespielt hat. Und damit war es Bestandteil des Rundfunkprogramms. Schließlich hörte es auch ein Westverleger im Transit und kaufte sich bei Amiga ein. Es war keine schleichende Steigerung der Karriere. Es ging von Null auf Hundertzwanzig. Und das hat uns geschützt. Wir hatten nun einen Status, wie ihn ein Hofnarr bei Hofe hat.

 

Ist „Am Fenster“ ein politisches Lied?

Toni Krahl: Eigentlich ist es ein Liebesgedicht und stammt von der Lyrikerin Hildegard Maria Rauchfuß. In den 1940er­ Jahren geschrieben, hat der Text mit unserer Musik aber eine aktuelle politische Dimension bekommen. Wegen ihrer Balkan-Anmutung drückte die Musik Fern­ weh aus. Außerdem haben wir einige Worte aus der Schlusszeile des Gedichts – „Klagt ein Vogel, ach auch mein Gefieder / Nässt der Regen flieg ich durch die Welt“ – mehrfach wiederholt: „Flieg ich durch die Welt“, dreimal hintereinander! Und dadurch bekam das Lied einen eigenen Sehnsuchts- und Freiheitsgedanken.

 

Wie weit konntet ihr politisch gehen?

Toni Krahl: Bei Amiga gab es einen Chefredakteur, René Büttner, der dort die alleinige Herrschaft hatte. Er sagte, das mache ich oder das traue ich mich nicht. 1987 erschien das Album „Casablanca“ – relativ brisant mit Songs wie „Halb und Halb“, die die Mauer beschrieben: „An manchen Tagen sage ich mir: / die Hälfte ist rum und du bist immer noch hier / und nicht auf‘m Mond, nicht unterm Gras,/ aber immer halbvoll vor dem halbleeren Glas. / An solchen Tagen kommt es hoch: / die Hälfte ist rum, worauf wartest du noch? // … // Im halben Land und der zerschnittenen Stadt, / halbwegs zufrieden mit dem, / was man hat.“ Büttner hat damals gesagt, „das sind Lieder für die Periode nach der Stagnation.“ Und das hat er durchgehen lassen. Natürlich hat man sich bei Amiga gehütet, uns zu kritischeren Texten anzustacheln. Das haben wir selbst ausgelotet und sind sehr wohl Kompromisse eingegangen. Widerstandskämpfer oder Ähnliches waren wir nicht, die Grenzen haben wir nicht überschritten, aber sind immerhin bis an sie herangegangen.

 

1987 währte die DDR noch drei Jahre. Dann war sie …

Toni Krahl: … tot. Ich habe damit nicht gerechnet. Obwohl „1989“ seit Ende des Jahres 1988 förmlich durch die Tapeten träufelte. Als die Leute in Warschau und Prag in den Botschaften gesessen haben und die Ungarn die Grenze aufmachten, konnten wir keine Konzerte mehr machen, ohne darüber zu diskutieren. Das war eine ganz neue Erfahrung, die dann zu einer Resolution von Rockmusikern führte. Und plötzlich war die Mauer auf. Da war große Freude, aber auch das Gefühl: Schreck, lass nach! Nicht mal ein Jahr später kam die Wiedervereinigung, die ja mehr ein Beitritt war. Aber ich denke, es hätte nicht anders gehen können: Zwei demokratische Deutschländer hätten nicht funktioniert.

 

Das Gespräch fand am 12. August 2019 in Berlin-Glienicke statt.

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