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Wie der Not von Migranten begegnet werden kann

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Verlässliches Zahlenmaterial gibt es kaum beim Thema der Migration nach Europa. Wir sind auf wenige Angaben angewiesen, die wir vor Ort erhalten – also auf Lampedusa, auf Sizilien, auf Malta oder in den spanischen Enklaven in Nord-Afrika, in Ceuta und Melilla. Literatur ist auch kaum vorhanden. Aber es gibt immerhin ein klares Problembewusstsein, das die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten bisher nicht annähernd akzeptiert haben. Ja, schlimmer noch: In den bisherigen Flüchtlingsadministrationspolitiken sind die Kategorien, unter denen wir Fremde bei uns aufnehmen oder sie nicht sofort zurückschicken, durcheinandergeraten. Am schärfsten macht sich das in der deutschen Realität bemerkbar. Die Bundesrepublik hatte nach 1945/1949 als eine Art Wiedergutmachung den „Asylparagraphen“ Artikel 16 Absatz 2 in das Grundgesetz aufgenommen. Dieser lässt sich jedoch nicht in Gänze umsetzen, weil die Bundesrepublik nicht alle Verfolgten dieser Erde aufnehmen kann.

Faktisch musste man die Zugänge so verengen, dass man von der ursprünglichen „Großzügigkeit“ unserer Verfassungseltern heute kaum noch etwas spürt (das Wort von der „Großzügigkeit“ stammt von einem der Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid).

An dieser Idee hält sich die aktuelle Debatte noch fest und erreicht damit das Problem gar nicht. Dabei wird die eigentliche Schwierigkeit durch Tragödien wie die des Schiffes, das am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa mit eritreischen und somalischen Flüchtlingen gesunken war und bei der 355 Menschen ihr Leben verloren, immer wieder verdeckt. Aus Eritrea wollen eben wirklich Menschen heraus, die es dort unter dem Regime des Diktators Isayas Afeworki nicht mehr aushalten. Aus Somalia hingegen flieht man in der Gewissheit, dass man dorthin nicht zurückgeschickt werden kann und eigentlich in jedem Land Aufnahme finden müsste. Dabei droht im europäischen Zuständigkeitsstreit jedoch die Existenz als refugee in orbit ohne Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthalt und Status.

 

Länder der Verheißung

Das größere Problem aber ist: Es sind Millionen von Migranten, meist junge Männer, die auf den Weg geschickt werden, um in Europa oder Südafrika etwas zu verdienen oder eine Ausbildung zu erhalten. Mit dem Geld oder dem Berufszertifikat können sie nach der Rückkehr die Existenz ihrer Familie sichern, ihr Dorf unterstützen oder ein Gewerbe aufmachen. Bei den Zahlen, die vor zehn Jahren geschätzt wurden, ging man von achtzehn Millionen jungen Afrikanern aus; etwa vier bis fünf Millionen davon sollen Südafrika als Ziel im Blick haben, die Mehrzahl aber Europa, das als verheißungsvollster Kontinent mit funktionierender Wirtschaft und Ausbildungsplätzen gilt.

Diese Schätzungen wird man heute auf zwei Drittel, wenn nicht die Hälfte reduzieren müssen. Ihre Größenordnung bleibt dennoch brandgefährlich, weil Europa außer Frontex, der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union, nichts eingefallen ist, um diesen Strom zu regulieren. Von nur halb so vielen Flüchtlingen ist momentan auszugehen, weil das Tor, durch das ein Hauptstrom von Migranten in Afrika über die Route Mali-Algerien-Libyen lange geflossen ist, gegenwärtig geschlossen bleibt. In Libyen gibt es zurzeit keinen Zugang für Schwarzafrikaner, da man in ihnen mögliche Verbündete des gestürzten Diktators sieht.

In der mauretanischen Hafenstadt Nouadhibou führt der katholisch-nigerianische Geistliche Jerome Dukaiyo genau Buch über die Menschen, die früher aus siebzehn, heute aus „nur“ dreizehn afrikanischen Ländern nach Europa wollen. Es sind an die 70.000 junge Migranten, die sich in Nouadhibou befinden. Sie kommen zu einer großen Zahl aus dem Senegal, aus Nigeria, Kamerun, Guinea-Bissau, Äquatorialguinea, der Demokratischen Republik Kongo, aus Gambia, Mali, dem Niger, aus Burkina Faso, Togo, dem Tschad und Ghana.

Man wundert sich, dass bei der Debatte in Europa meist nur von unserer Schuld ausgegangen wird. Europa sei schuldig, dass 355 Flüchtlinge vor Lampedusa ertrunken sind. Das scheint ein eurozentrischer Komplex zu sein. Niemand kommt darauf, die Regierung in Eritrea, die Afrikanische Union oder die Regierungen der 53 Staaten Afrikas anzuklagen, aus denen diese Migranten kommen.

Schuldig, wenn das Wort überhaupt erlaubt ist, genauer: verantwortlich für diesen Exodus, den Beobachter fast als Völkerwanderung sehen, sind die souveränen Regierungen souveräner Staaten, die, beginnend mit Ghana im Jahre 1957, unabhängig geworden sind; diese Regierungen sind es, die zuerst für das Wohl und den Wohlstand, die Wirtschaft und das Überleben der Menschen in ihren Ländern zuständig sind. Niemand in Europa, auch nicht die Europäische Kommission, zieht diese Regierungen für den Exodus zur Rechenschaft.

 

Das Sterben vor rettenden Häfen beenden

Es gibt kaum eine Parallele zu der Lage im Südchinesischen Meer außer der schlichten, aber zentralen Tatsache, dass Menschen in Meeren und Ozeanen ertrinken – im Atlantik, im Roten Meer, im Indischen Ozean, im Mittelmeer. Viele krepieren und verdursten schon in der brütenden Hitze vor den Häfen der Sahararegion.

Es wird nicht reichen, ein Schiff einzusetzen, auch nicht fünf. Es wird eine „geballte Ladung“ von Maßnahmen nötig sein, um diese Völkerwanderung junger Afrikaner zu bewältigen. Natürlich werden auch Schiffe nötig sein, um Afrikaner zwischen Europa und Afrika hin- und herzubringen, nicht zuletzt, damit ihnen nach ihrer Ausbildung in Deutschland, den Niederlanden, in Frankreich oder Österreich eine Rückkehr in ihr Dorf oder ihre Stadt erleichtert werden kann.

Gleichzeitig müssen Initiativen auf vielen Ebenen in Gang kommen. In Deutschland könnte Kolping International ein Berufsausbildungszentrum eröffnen. Die Bundesregierung oder einige Landesregierungen könnten einige junge Afrikaner aus Lampedusa, aus Malta und Griechenland aufnehmen, um sie hier zu qualifizieren. Die Katholische Jugend und der CVJM könnten junge Kontakt-Stewards für diese Afrikaner bereitstellen. Rheinland-Pfalz hat eine bisher einzigartige Partnerschaft mit Ruanda, die eine gute Basis weiterer Maßnahmen bildet.

Gleichzeitig sollten wir verhindern, dass die wertvollen Mittel für Entwicklungspolitik mit der Gießkanne verteilt werden; effektiver wäre ein strategischer Fokus auf wenige Staaten. Außerdem könnte es sinnvoll sein, dass jeweils ein europäisches Land für jeweils ein afrikanisches Land eine Art partnerschaftlicher Verantwortung übernimmt.

 

Exkurs nach Lampedusa

Das Flüchtlingslager auf Lampedusa 2013: Papst Franziskus besucht die Insel; bewegend zollt er denen Hochachtung, die sich diese Reise zugetraut haben, und denen, die auf der Insel das Banner der Menschenfreundlichkeit hochgehalten haben.

Ich zitiere aus meinem Bericht, weil er ein Schlaglicht auf die verfehlte Politik wirft: „Mächtige Eisentore, wir müssen unsere deutschen Pässe durch das Eisengitter schieben. Die Sozialarbeiterin Grazia Zavagla führt uns durch ein gähnend leeres Lager. Alle Betten sind so aufgestellt, als würden sie nie wieder benutzt. Die Klinik in dem Trakt ist ordentlich aufgeräumt und ohne Krankenpfleger, Arzt und Patienten. Eine Großküche und eine Mensa stehen leer vor uns. Auf dem Innenhof, der diese Gebäude trennt, ragen die sieben Telefonsäulen, an denen, durch kleine Zäune abgesperrt, die Migranten oder Flüchtlinge telefonieren durften mit ihren Familien in Ghana, Kamerun, Guinea, Sudan, dem Tschad, Eritrea, Pakistan oder Indien. Alles ist leer, abweisend sauber, eine Bewachung durch die sechs Carabinieri nicht mehr nötig. Grazia kann uns berichten, die letzte Ladung mit einem Boot von Afrika ist hier am 2. Oktober 2009 angekommen, seit dem 2. Oktober nie mehr.“

Dabei gab es in den vorigen Jahren an die 33.000 Flüchtlinge pro Jahr. Man kann nur feststellen: Die Abschreckung hat funktioniert. Die Abschreckung und das Abkommen, das Libyen und Italien vor einigen Monaten abgeschlossen haben und in dem es um viel Geld und um Abnahmeverpflichtungen Italiens für libysches Erdgas geht. Die Migranten oder Flüchtlinge werden im Gegenzug entweder an der Küste oder auf dem Meer abgefangen. Ein „Loch“ hat der italienische Innenminister Marone damit gestopft, aber es gibt vier weitere Schlupflöcher. Das zweite ist Malta, das dritte sind Ceuta und Melilla, deren immer höherer Maschendraht eben doch nicht alle Flüchtlinge aufhalten kann. Und schließlich gibt es die Ausfahrten mithilfe derer, die mit dem hässlichen Namen „Schlepper“ bezeichnet werden: von Marokkos Küste nach Andalusien. Ein neuer Anlaufpunkt für junge Afrikaner ist die Hafenstadt Nouadhibou an der westafrikanisch-mauretanischen Küste. Von dort gehen junge Menschen seit 2013 aus dreizehn afrikanischen Ländern auf die gefährliche Meeresreise nach Las Palmas, nach Gran Canaria, nach Teneriffa, nach Lanzarote.

Die EU ist in Lampedusa abwesend. Die anderen 27 Mitgliedsstaaten der Union haben weder einen Verteilungsschlüssel für Migranten aus Drittländern zur Verfügung gestellt noch versucht, mit einer Vision zu helfen. Eine solche Vision könnte so aussehen: Migranten erhalten am besten schon in den Küstenländern Nord- und Westafrikas eine große Berufsausbildung nach dem Vorbild des dualen Berufsausbildungssystems. Diese jungen Menschen haben finanzielle Mittel – manchmal bis zu 2.000 US-Dollar – von ihren Clans oder Dorfgemeinschaften bekommen, um auszuziehen, und können daher nicht ohne Gesichtsverlust zurückkehren. Eine Ausbildung würde ihnen einen Beruf und ein Zertifikat nach zwei Jahren verschaffen. Mithilfe von Mikrokrediten in Sinne Mohammed Yunus’ könnten anschließend in den Herkunftsländern Unternehmen aufgebaut werden. Das wären eine Antwort und eine Vision, mit der man auf die starke Sehnsucht junger Afrikaner nach Europa reagieren und sie in konstruktive Bahnen lenken könnte.

 

Was müsste geschehen?

Erstens: Die EU muss Italien und auch Spanien durch solidarische Aufnahmen auf Zeit helfen. Sie dürfen bei dieser Aufgabe nicht alleingelassen werden!

Zweitens: Die EU-Staaten müssen ihren kommerziellen Schiffen, die im Mittelmeer kreuzen und Menschen aus den Booten aufnehmen, die Abnahme der Migranten garantieren. Nachträglich müssen Kapitäne und Reeder, die Menschenleben gerettet haben, ausgezeichnet und belohnt werden.

Drittens: Es müssen Aufnahmequoten für junge Menschen aus ausgewählten Staaten Afrikas festgelegt werden. Ghana beispielsweise könnte dann 3.000 junge Ghanaer nach Deutschland schicken, die innerhalb von zwei oder drei Jahren zum Bau-, Elektro- oder Solartechniker ausgebildet werden. Danach kehren sie zurück und werden mit einer Mikrokredit-Organisation wie Opportunity International mit einem entsprechenden Kleinkredit ausgerüstet, der aber nur für die Gründung eines Wirtschaftsunternehmens eingesetzt werden darf.

Viertens: In den Küstenstaaten Libyen, Algerien, Marokko und Mauretanien werden großflächig Berufsschulzentren eingerichtet sowie Curricula ausgebaut, in denen mit Erlaubnis der gastgebenden Regierungen junge Afrikaner für ihre Herkunftsländer ausgebildet werden. Nachdem sie erfolgreich das Lehrprogramm mit einem Zertifikat abgeschlossen haben, können sie in ihre Heimat zurückgehen.

 

Rupert Neudeck, geboren 1939 in Danzig (heute Polen), deutscher Journalist, Gründer von Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e. V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e. V.

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