Fachkräftemangel, Flüchtlingskrise, Bevölkerungsrückgang – brauchen wir angesichts dieser Herausforderungen ein neues Einwanderungsgesetz? Eine neue gesetzliche Regelung würde zunächst nichts zur Lösung der aktuellen Flüchtlingskrise beitragen. Bei der Aufnahme von politisch Verfolgten und Flüchtlingen geht es ausschließlich um deren Schutz. Jeder Asylbewerber hat das Recht auf eine individuelle Prüfung seines Falles. Das Recht auf Asyl ist als Grundrecht im Grundgesetz verankert und hat damit in Deutschland einen so hohen Rang wie in wenigen anderen Ländern. Das war und ist ein starkes und wichtiges Zeichen.
Jedoch: Nur einer von hundert Asylbewerbern erhält Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz. Viel größer ist die Zahl derer, die internationalen Schutz erhalten, also als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland bleiben können. Auf diese Konvention bezieht sich auch der Vertrag von Lissabon. Sie ist damit die Grundlage der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Die Verpflichtung zur Aufnahme von Verfolgten ist also anders als das Grundrecht auf Asyl mitnichten eine deutsche Besonderheit. Entscheidend ist, dass der Schutz vor Verfolgung – außer bei Kriegsverbrechern – nicht eingeschränkt werden kann. Er gilt nicht etwa nur für die gut Ausgebildeten, die die Unternehmen als Arbeitskräfte brauchen. Er gilt auch nicht nur für Familien mit Kindern und ebenso wenig nur für Christen. Das Kriterium ist ausschließlich, ob ein Mensch verfolgt wird und daher nicht ohne Gefahr für Leib und Leben in sein Heimatland zurückkehren kann. Derzeit liegt bei 37 Prozent der Asylbewerber eine Verfolgung vor, etwa ebenso viele Anträge werden aber auch abgelehnt. Ganz anders funktioniert die Zuwanderung von Arbeitskräften, Studierenden oder Auszubildenden. Hier erfolgt die Auswahl nach bestimmten Kriterien. Der Staat kann steuern, und um die Mechanismen dieser Steuerung geht es bei einem möglichen neuen Einwanderungsgesetz.
Orientierung am Arbeitsmarkt
Durch ein Einwanderungsgesetz lassen sich zwar die Flüchtlingszahlen nicht regulieren. Es kann jedoch bei entsprechender Ausgestaltung dazu beitragen, dass Menschen, die über eine in Deutschland gesuchte Qualifikation verfügen, in Zukunft als Fachkraft einreisen statt als Asylbewerber. Dazu müssen sie vor allem von dieser Möglichkeit wissen und sollten nicht von bürokratischen Hürden behindert werden. Transparenz, Flexibilität mit Blick auf den regionalen Bedarf des Arbeitsmarktes, guter Service für Migranten und Unternehmen und ein internationales Migrationsmarketing sind also die migrationspolitischen Entwicklungsziele. Diese bedürfen einer Ergänzung durch ein ineinandergreifendes System von Integrationsangeboten, die durchaus verpflichtenden Charakter haben; Beispiele sind Integrationshilfen durch persönliche Paten beziehungsweise im Arbeitskontext Mentoren, Integrationskurse (Politik, Gesellschaft, Kultur und deutsche Sprache) und besondere Angebote für neu einreisende Kinder. Dieses System ist auch für an erkannte Asylbewerber sinnvoll, die ebenfalls in Deutschland bleiben werden. Ohne Integration funktioniert auf Dauer weder die Aufnahme der Flüchtlinge noch die gesellschaftliche Inklusion von Einwanderern.
Nach geltendem deutschen Recht ist Voraussetzung für ein Arbeitsvisum, dass der Migrant einen Arbeitsvertrag mit einem deutschen Unternehmen vorweisen kann. Ein klassisches Punktesystem funktioniert nach einem anderen Prinzip. Es vergibt Punkte für Merkmale wie Ausbildung, Sprache, Alter und Vorerfahrungen im Zielland. Wer genügend Punkte hat, kann zuwandern und sich vor Ort um einen Job bemühen. Das Ziel muss sein, dass Einwanderer tatsächlich eine Arbeit finden, die ihren Qualifikationen entspricht und sie davor bewahrt, von Transferleistungen leben zu müssen.
Es ist daher wichtig, Einwanderung mit den tatsächlichen Bedarfen auf dem Arbeitsmarkt zu verknüpfen. Kanada hat erst dieses Jahr sein Punktesystem um das Kriterium eines Arbeitsvertrages ergänzt. Auch Deutschland hat sein System gelockert: Wer über eine gesuchte Ausbildung verfügt und seinen Lebensunterhalt in dieser Zeit selbst bestreiten kann, darf für ein halbes Jahr in Deutschland leben und hier auf Jobsuche gehen. Von dieser Möglichkeit wissen leider zu wenige Menschen.
Aber muss Deutschland wirklich noch Migranten anwerben? In einer Zeit, in der schon so viele Flüchtlinge ankommen? Ja, denn für innovative Forschung und wettbewerbsfähige Industrie bedarf es qualifizierter Fachleute, die gezielt ausgebildet werden oder aus dem Ausland zuwandern. Dabei ist eben nicht entscheidend, wie viele Menschen zuwandern, sondern wer genau nach Deutschland kommt.
„Spurwechsel“ im Verfahren
Viele Syrer haben in den letzten Jahren die Möglichkeiten genutzt, über legale Wege nach Deutschland einzureisen, beispielsweise als IT-Fachleute, die keinen Asylantrag benötigten. Für diejenigen aber, die in Deutschland Asyl beantragen, steht derzeit die Möglichkeit eines „Spurwechsels“ in der Diskussion. Damit könnten sich Asylbewerber unabhängig vom Ausgang ihres Asylverfahrens als Arbeitskräfte bewerben und gegebenenfalls in den Arbeitsmarkt eintreten. Bei der Idee des Spurwechsels geht es also nicht so sehr um den Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber. Sie dürfen nach drei Monaten arbeiten, auch während des Asylverfahrens. Die erfolgreiche Arbeitsaufnahme verhindert allerdings nicht die Ausweisung, sollte der Antrag auf Asyl abgelehnt werden. Im Falle der Anerkennung dürfen Flüchtlinge ohne Einschränkung arbeiten. Ihr Aufenthalt ist damit sogar sicherer als der einer Fachkraft, die einen Arbeitsvertrag nachweisen muss. Vielmehr geht es beim Spurwechsel darum, ob und in welcher Weise eine bestimmte Qualifikation oder eine Arbeitstätigkeit in einem deutschen Betrieb Einfluss auf sein Bleiberecht haben sollten. Ein solches Kriterium könnte möglicherweise die Kriterien der Verfolgung und Schutzbedürftigkeit aufweichen und in Richtung Qualifikation und Nutzen für den Arbeitsmarkt verschieben. Worin besteht der Vorteil? Die Unternehmen hoffen, unter den Asylbewerbern Fachkräfte und Auszubildende zu finden. Im letzten Ausbildungsjahr blieben 37.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Vom Zugehen der Betriebe auf Flüchtlinge profitierten also alle Beteiligten: Die Unternehmen finden motivierte Mitarbeiter, die Flüchtlinge können sich sinnvoll einbringen und sind nicht auf Sozialleistungen angewiesen, und sie alle zeigen, wie Integration ganz selbstverständlich funktioniert.
Migration lenken und Chancen erhöhen
Trotz der zweifellos positiven Effekte stellt sich die Frage, ob es überhaupt einer grundsätzlichen Durchlässigkeit zwischen den Aufenthaltstiteln bedarf und ob diese langfristig ein sinnvolles migrationspolitisches Instrument ist. Das migrationspolitische Fernziel lautet: Migration in legale, steuerbare und für die Menschen sichere Bahnen zu lenken. Nach Berichten aus den Aufnahmezentren hegen nicht wenige der Asylbewerber, die trotz geringer Chancen auf Asyl einen Antrag stellen, die Hoffnung, während des Asylverfahrens einen Job finden und dann doch irgendwie bleiben zu können. Bei allem Verständnis dafür, dass die äußerst schwierigen Lebensumstände in den Herkunftsländern diese Hoffnungen nähren: Die Botschaft sollte nicht sein, dass das Asylsystem die erfolgversprechendste Möglichkeit bietet, nach Deutschland einzuwandern. Andersherum wird ein Schuh daraus: Wer über die Voraussetzungen verfügt, als Arbeitskraft nach Deutschland zu kommen, soll das auch tun können, mit einem Visum und auf sicherem und legalem Wege. Nur eine grundsätzliche Trennung von humanitärer und gesteuerter Zuwanderung in Verbindung mit einem besseren Migrationsmarketing kann dies leisten.
Pragmatische Ausnahmen von dieser Trennung müssen an Voraussetzungen gebunden sein, die den oben beschriebenen Pull-Effekt ausschließen. Dies wäre beispielsweise über eine Begrenzung der Möglichkeit eines Spurwechsels auf bestimmte Herkunftsgruppen abhängig von der Verfahrensdauer und der Schutzquote möglich. Bleiben Asyl und gesteuerte Zuwanderung grundsätzlich getrennt, kann auch die Einwanderung von Personen mit mittlerer und niedriger Qualifikation weiter erleichtert werden, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt es erfordert. Sie muss allerdings von Schutzmechanismen flankiert werden, damit weder Lohndumping entsteht noch die Arbeitsmarktintegration von Menschen leidet, die schon in Deutschland leben.
Ein Hauptargument der Wirtschaft für den Spurwechsel ist die Planungssicherheit für die Unternehmen. Sie sind bereit, in die Ausbildung und Integration von Asylbewerbern und Geduldeten zu investieren, zögern aber, weil diese am Ende doch abgeschoben werden könnten. Dieses Risiko können sie verringern, wenn sie bevorzugt bereits anerkannte Flüchtlinge einstellen, deren Aufenthaltsperspektive gesichert ist. Für Geduldete ist seit diesem Sommer eine neue Bleiberegelung in Kraft, die dem unsicheren Aufenthaltsstatus nach einer gewissen Frist ein Ende setzt. Da dennoch ein paar Jahre bis zur unbefristeten Niederlassungserlaubnis vergehen, bleibt für die Unternehmen ein gewisses Risiko bestehen. Der Staat sollte seinerseits die Beschleunigung der Asylverfahren weiter vorantreiben. Je kürzer die Verfahren, desto früher haben die Asylbewerber eine dauerhafte Lebensperspektive und die Unternehmen Gewissheit.
Mammutaufgaben der Zukunft
Wie Pilotprojekte zeigen, haben Flüchtlinge trotz der rechtlichen Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang noch ganz andere Hürden zu meistern. Meist sind Praktika und Arbeitsproben hilfreich, um die Fähigkeiten der geflohenen Menschen einschätzen zu können. Zeugnisse, die sie sich anerkennen lassen könnten, haben viele auf der Flucht dabei. Auch ausreichende aktive und passive Deutschkenntnisse sind Voraussetzungen, die man – je nach Anforderung der Tätigkeit – erst nach ein paar Monaten bis Jahren meistert. Bis ein Flüchtling sicher in den Arbeitsmarkt integriert ist und von seinem eigenen Verdienst leben kann, vergehen nach Schätzungen von Experten ein bis drei Jahre. Manchen gelingt es aufgrund von erlittenen Traumata viel leicht nie. Eine flächendeckende Unterstützung für Flüchtlinge und Arbeitgeber, allgemeine und berufsbezogene Sprachkurse, die Feststellung der Qualifikation und Angebote zur Nachqualifikation sowie ein erheblicher Ausbau der psychologisch-medizinischen Hilfen, und zwar mit dafür geeigneten Dolmetschern: Hier liegen die Mammutaufgaben, damit die Flüchtlinge von heute zu Fachkräften von morgen werden können.
Katharina Senge, geboren 1982 in Erfurt, Koordinatorin für Zuwanderung und Integration, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.