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100 Jahre Völkerschlachtdenkmal, 200 Jahre Völkerschlacht

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Anfang der 1990er-Jahre studierte ich in Leipzig. Ganz in der Nähe des Studentenwohnheims ragte das Völkerschlachtdenkmal auf, ein riesenhafter Steinklotz. 91 Meter ist es hoch, die Kuppelhalle im Inneren misst 68 Meter. Bis heute ist es das größte Denkmal Europas. Man kann den Koloss aus Granit und Beton nicht übersehen. Er ist einfach immer da. Kaum jemand denkt darüber nach, was es mit dem Denkmal auf sich hat.

Dabei wissen die Leipziger: Es geht um die Völkerschlacht im Oktober 1813 – eines der größten Gemetzel, das die Menschheitsgeschichte bis dahin erlebt hatte. Eine halbe Million Soldaten standen sich bei den Dörfern um Leipzig gegenüber. Im Ergebnis unterlagen der französische Kaiser Napoleon und seine deutschen Verbündeten den Armeen Preußens, Russlands und Österreichs.

120.000 Soldaten wurden getötet oder verstümmelt. Den meisten Leipzigern sind diese Hintergründe bewusst, aber einen emotionalen Bezug dazu haben sie längst nicht mehr. Man erklomm den Turm vor allem, um die schöne Aussicht über die Stadt zu genießen.

 

„Völkische Empfindungswuchten“

Das Völkerschlachtdenkmal ist ein sperriges Wahrzeichen. Der Berliner Architekt Bruno Schmitz gestaltete es in einer reduzierten, zu seiner Zeit durchaus modernen Formensprache. Es zeigt keine Herrscher, keine kämpfenden Soldaten, sondern wirkt allein durch seine wuchtige Architektur. Aufgetürmte Baumassen verbinden sich mit riesenhaften Figuren, die aus einer fernen, mythischen Vergangenheit zu stammen scheinen – eine Ästhetik, die an die „Herr-der-Ringe“-Filme erinnert. Schmitz berief sich bei seinem Entwurf auf die germanische Vorgeschichte der Deutschen, und für diesen mythischen „Urgrund“ fand er eine eigene, heute durchaus fremde Bilderwelt. Das entsprach ganz den Bestrebungen des Werdandi-Bundes, einer konservativen Künstlervereinigung, die „aus völkischen Empfindungswuchten“ die „todkranke deutsche Kunst“ erneuern wollte. Und so geht es beim Völkerschlachtdenkmal kaum um die Völkerschlacht. Nirgendwo finden sich Darstellungen, die auf die Ereignisse im Oktober 1813 oder auf die Kriegsparteien verweisen. Schmitz inszenierte den Krieg als ein abstraktes, zeitloses Ereignis.

Die opulente Festschrift zur Einweihung am 18. Oktober 1913 verrät, dass das Völkerschlachtdenkmal aus der Spendensammlung des „Deutschen Patriotenbundes“ finanziert worden war, einer privaten Initiative also. Gegründet von dem Leipziger Architekten Clemens Thieme, strebte er eine einige Nation an, die über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg als „nationale Gesinnungsgemeinschaft“ auftreten sollte. Das selbstlose Opfer der Soldaten in den „Befreiungskriegen“, so der Denkmalgedanke, habe eine „Volksgemeinschaft“ begründet. Diese Gemeinschaft gelte es weiterzuführen – durch Begeisterung, Glaubensstärke, Opferbereitschaft und Tapferkeit: So jedenfalls lauten die Bezeichnungen der zehn Meter hohen Steinfiguren in der Kuppelhalle. Die Verherrlichung des Opfergedankens förderte schon die Bereitschaft zum nächsten Krieg.

 

Fehlgeleitetes Bürgerengagement

Von der auftrumpfenden Denkmalbegeisterung, die die Leipziger wie die meisten Deutschen vor 100 Jahren, an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg, zu diesem gigantischen Bauvorhaben antrieb, ist – zum Glück – nichts geblieben. Aber vielleicht tut es uns trotzdem gut, daran zu erinnern, dass das Völkerschlachtdenkmal auch das Monument eines kraftstrotzenden, aber politisch und moralisch irrlichternden zivilgesellschaftlichen Engagements gewesen ist. Bei allem berechtigten Enthusiasmus über die „Mutbürger“ unserer Tage mahnt das Leipziger Völkerschlachtdenkmal ein Stück weit zu Demut und Vorsicht: Auch Bürgerbewegungen können fehlgehen.

Dass 1813 auf Napoleons Seite auch Deutsche gekämpft hatten, wurde bei der Gestaltung des Denkmals einfach übergangen. Es galt einzig die preußische Sichtweise, wonach mit dem „Befreiungskrieg“ gegen Napoleon der Grundstein für ein neues Deutsches Reich gelegt worden sei. An der pompösen Einweihung des Denkmals nahmen Kaiser Wilhelm II. und König Friedrich August III. von Sachsen teil, dazu Abordnungen aus Russland und Österreich. Frankreich war selbstredend ausgeschlossen. Nur ein Dreivierteljahr nach der pompösen Feier begann der Erste Weltkrieg. Er veränderte alles und hatte gar nichts mit dem romantisch verbrämten Kriegsbild zu tun, das das Völkerschlachtdenkmal propagierte: Nirgends tapfere Reiter, wie sie der Reiterfries in der Denkmalkuppel zeigt, stattdessen Schützengräben, Panzer, Granaten.

 

Kulisse für politische Inszenierungen

Im Angesicht des millionenfachen Todes im Ersten Weltkrieg musste die Völkerschlacht bei Leipzig wie eine Petitesse erscheinen. Zudem löste sich manche hochtrabende Illusion, die mit dem Denkmalbau verbunden war, durch die Kriegsniederlage in Luft auf. Das Denkmal wurde zur fast beliebig nutzbaren Kulisse: Zwar fanden seit 1919 die Oktoberfeiern zur Erinnerung an die Völkerschlacht weiter statt, aber bei manchen Ereignissen bleibt doch unklar, weshalb sie vor dem steinernen Koloss stattfinden mussten – etwa die Feierstunde für die gefallenen China- und Afrikakrieger und für die in den Kolonien gefallenen Deutschen 1921 oder die Gedenkfeier für die Gefallenen des Deutschen Fußball-Bundes 1925. Immerhin ging es da noch um Opfer des Krieges. Doch als 1924 der Bundes-Saar-Verein die Rückgliederung des Saargebiets forderte oder 1932 der Gustav-Adolf-Verein zu seinem 100-jährigen Bestehen vor dem Denkmal eine „große evangelische Kundgebung“ abhielt, diente das Völkerschlachtdenkmal lediglich als imposante Staffage. Die Nationalsozialisten Sachsens begingen vor dem Denkmal im Juli 1933 ihren Gauparteitag, verbunden mit einer Rede Adolf Hitlers, der in seiner Partei „das Vermächtnis der Kämpfer von 1813“ erfüllt sah.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal immer wieder als Szenerie für politische Botschaften genutzt. In den frühen Jahren der DDR stand es für die deutsche Einheit, die – unter sozialistischen Vorzeichen – gegen die „Spalter aus Bonn“ durchgesetzt werden sollte. Die Feierlichkeiten am Völkerschlachtdenkmal sollten den ostdeutschen Teilstaat als einzigen rechtmäßigen Vertreter der deutschen Nation hervorheben. Während das Denkmal noch 1952 als „Mahnmal für den Völkerfrieden“ galt, verkörperte es spätestens seit Gründung der NVA den „Geist der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft“ und damit die Freundschaft zur Sowjetunion. Auf der Großkundgebung zum 150. Jahrestag der Schlacht 1963 durfte demzufolge der Aufmarsch von Einheiten der Sowjetarmee und der NVA nicht fehlen. Selbst zum VII. Turn- und Sportfest 1983 gehörte ein Zapfenstreich der NVA vor dem Völkerschlachtdenkmal dazu. 1979 forderte die FDJ auf einer Kundgebung: „Weg mit dem NATO-Raketenbeschluss!“ An die deutsche Einheit dachte längst niemand mehr. Als sie erstritten wurde, brauchte man das Denkmal nicht mehr, jedenfalls nicht als Träger politischer Botschaften. Das Wahrzeichen der Friedlichen Revolution ist die Nikolaikirche. 1996 verließ ich Leipzig und hörte nur noch gelegentlich vom Völkerschlachtdenkmal. Leider waren es nie gute Nachrichten. Das Denkmal bekam immer nur dann öffentliche Aufmerksamkeit, wenn die NPD einen Aufmarsch in Leipzig ankündigte. Schauerlich war vor allem der 1. Mai 1998, als sich 5.000 Rechtsextreme vor dem Völkerschlachtdenkmal zu einem „braunen Woodstock“ trafen. Seitdem wollen die „Nazis“ beinahe jedes Jahr durch die Innenstadt zum Völkerschlachtdenkmal ziehen. Das ist mehrfach verboten worden, oder Gegendemonstranten konnten die Aufmärsche stoppen. Gott sei Dank sind die Rechtsextremen nie wieder so nah an das Denkmal herangekommen wie 1998, aber der Makel des „Nazi-Denkmals“ bleibt bestehen.

 

Badewannenrennen vor dem „Völki“

Gleichzeitig mit der einseitigen Inbesitznahme durch die NPD vollzog sich eine „Entpolitisierung“. Das Denkmal steht nur noch für sich selbst, es ist, so scheint es, vor allem ein Wahrzeichen ohne Inhalt. Von den Leipzigern wird es neuerdings nur noch „Völki“ genannt. Ein Diminutiv, der einiges aussagt. Inzwischen ist das Monument vor allem eine Spaßkulisse. So veranstaltet das Soziokulturelle Zentrum „naTo“ seit 1993 jährlich Badewannenrennen auf dem Wasserbecken vor dem Denkmal. Dass das riesige Bassin einst als „See der Tränen“ gedacht war, also als Ort der Trauer für die gefallenen Soldaten, scheint kaum jemanden zu stören. Noch nicht einmal der Einspruch des jüngst verstorbenen Erich Loest, der in seinem Roman Völkerschlachtdenkmal – 1984 in West-Deutschland erstmals erschienen – zeitgemäße Geschichts- und Gegenwartsdeutungen aus dem fraglos anachronistischen Monument gewonnen hatte, konnte daran etwas ändern. Die „Badewannenrennen vorm Völki“ gehen weiter. Im Juli drängten sich 14.000 Zuschauer, um das Spektakel zu erleben.

Das Völkerschlachtdenkmal war immer schon vor allem eine Kulisse. Das Totengedenken war vielleicht von Beginn an nur eine Nebensache. Vielleicht wurden die Gefallenen sogar für die falschen Zwecke instrumentalisiert. Aber macht nicht gerade das einen bedachtsamen Umgang mit dem Denkmal notwendig? Gibt nicht die totale inhaltliche Leere, die heute herrscht, die Bahn frei für die Ewiggestrigen, die nichts lieber tun, als sich populärer Symbole zu bemächtigen?

Im Oktober 2013 begeht Leipzig zwei Jubiläen: 200 Jahre Völkerschlacht und 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal. Den Höhepunkt bildet eine „Historische Gefechtsdarstellung“, ein nachgestelltes Schlachtenspektakel. Geschichte als Event also.

Vielleicht bietet sich trotzdem die Gelegenheit zu einem vertieften Nachdenken. Wofür steht das Völkerschlachtdenkmal? Wozu brauchen wir es? Die Antworten werden nicht leichtfallen. Aber gewiss wäre viel gewonnen, wenn der fremde Nachbar „Völkerschlachtdenkmal“ uns im wohlverstandenen Sinne weniger fremd wäre, wenn wir uns wissend und kritisch, aber nicht meidend oder verachtend um Distanz zu diesem sperrigen Denkmal bemühten. Eines ist sicher: Das Beispiel der Nikolaikirche leuchtet umso heller vor dem dunklen Koloss im Leipziger Süden.

 

Matthias Donath, geboren 1975 in Freital, freiberuflicher Kunsthistoriker und Buchautor.

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