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"Friedlicher Ritter des Geistes"

Walther Rathenau im Heute-Gestern Stefan Zweigs und anderer

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Er ist nicht auf einen Begriff zu bringen: Walther Rathenau (1867–1922), der Vielperspektivist, universell gebildet, wie er war, präzise fokussiert, wenn es darauf ankam, ein patriotischer jüdischer Deutscher, der als Geistesrepublikaner dem Wilhelminismus zu entwachsen verstand. Er war ein vertrauensvoller Gesprächspartner für Schriftsteller, Ingenieure, Bankiers, Künstler, Politiker und Wissenschaftler, war ihr geistiger Anwalt; man scheut sich aber vor der Verwendung des Wortes ‚Freund‘ in diesem Zusammenhang. Denn das nietzscheanische „Pathos der Distanz“ gehörte zu seinem Wesen wie das intime Interesse an buchstäblich Allem.

Emil Ludwig (1881–1948), einst gefeierter Biograph, urteilte in seinem Nekrolog auf Rathenau: „Er wusste Porträts zu malen, sein Haus zu zeichnen, Turbinen zu bauen, […] Fabriken umzustellen, Verse zu schreiben, Staatsverträge zu schließen, die ‚Waldstein‘-Sonate zu spielen.“ Rathenau war der Musensohn unter den Industriellen seiner Zeit, der Logistiker unter den Politikern sowie ein Intellektueller, der auf das setzte, was das späte 18. Jahrhundert „Einbildungskraft“ nannte. In Ungeschriebene Schriften befand er 1907: „Die materielle Unternehmenswelt von heute kann nur vorankommen, wenn sie sich von der krassen Bewunderung für das Analytische Denken abwendet, und sich dem Ideal verschreibt.“ Aber welchem ‚Ideal‘? Einer Materialität in geistiger Perspektive. Er war ein Krösus, der dem Mammon abschwor, der materiellen Verblendung, der Anmaßung der Konzerne, die Welt zu regieren, die über alles verfügen, nur nicht über demokratische Legitimation.

John H. Finley, ein amerikanischer Politikwissenschaftler und Journalist für die New York Times, führte 1921 ein kurzes Gespräch mit Rathenau, das ihn zeitlebens nicht mehr losließ. Er hatte in ihm das Gegenbild zum Industriemagnaten erkannt, den subtilen Ästheten, dem das Vermitteln angeboren schien. So erging es nicht nur Finley, sondern auch Thomas Mann, Stefan Zweig und wohl auch Edvard Munch, als er Rathenau porträtierte. Betrachtet man dieses Gemälde, dann achte man auf den Schatten an der kahlen Wand, dessen Flüchtigkeit ebenso präsent bleibt wie die intensive Farbigkeit des Porträtierten.

 

Widerständige Gesinnung

 

Oft ist sie erzählt worden, die kleine Geschichte ihrer Begegnungen, am aussagekräftigsten von Stefan Zweig selbst. Sie fanden offenbar rasch Gefallen aneinander. Es war, so schien es, Einverständnis auf den ersten Blick: zwischen einem jüdischen Deutschen aus Berlin, Sohn des Gründers der AEG, promoviertem Philosophen, Physiker und Chemiker dazu, sowie dem um vierzehn Jahre jüngeren jüdischen Österreicher aus Wien, Sohn eines Textilfabrikanten, gleichfalls promoviert, und zwar mit einer Arbeit über die Philosophie Hippolyte Taines. Als sie einander im Juni 1907 erstmals begegneten, war der eine, Walther Rathenau, ehemaliger Leiter der Elektro-Chemischen Werke Bitterfeld und Direktoriumsmitglied der AEG, Vorstandsmitglied der Berliner Handelsbank und Berater der kaiserlichen Regierung, umfassend gebildet und Verfasser zahlreicher, am Talmud ausgerichteter literarischer Texte prophetischer Art sowie kulturkritischer Arbeiten; der andere, Stefan Zweig, war auf dem Weg, sich als Lyriker, Erzähler, Dramatiker und Übersetzer französischsprachiger Lyrik, vor allem jener Émile Verhaerens und Paul Verlaines, einen Namen zu machen.

Bekanntlich stellte niemand seine Uhr beharrlicher nach „Sternstunden“ als Stefan Zweig. Und diese erste Begegnung mit Rathenau vermerkte er als eine solche. Ein reger Briefwechsel war ihr vorausgegangen, nachdem Zweig in Maximilian Hardens Wochenzeitschrift Die Zukunft, erschienen 1898 bis 1922, einige unter Pseudonym veröffentlichte Artikel aufgefallen waren und er den Herausgeber nach der Identität dieses Autors gefragt hatte. Zweig selbst gehörte zu Hardens fleißigen Beiträgern. Dieser teils scharf zeitkritisch argumentierende, teils prophetisch sich artikulierende Anonymus hatte es Zweig augenscheinlich angetan. Zweig selbst urteilte fünf Jahre später (1912) in seiner Besprechung von Rathenaus erstem Hauptwerk Zur Kritik der Zeit, der Verfasser sei ein „amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmensch und Denker […]. Er baut an der neuen deutschen Kultur, an jenem neuen Deutschland, das in Technik, Dichtung, Architektur und Sitte heute immer deutlicher aus einem Zwischenstadium der alten germanischen Staatskultur und vielen breiten Epochen der Selbstfremdheit entsteht.“ Bei aller Bewunderung für die technische Befähigung Rathenaus interessierte Zweig, dass dieser Industrielle gerade in der fortschreitenden „Mechanisierung des Lebens“ eine „Zwangsorganisation“ erkannte, durch die „menschliche Freiheit“ verkümmere, wie es in Rathenaus Schrift Von kommenden Dingen (1917) heißt. Er kritisiert darin überdies die „Publizistik“ als manipulatives Meinungsmonopol, weil sie zum hauptsächlichen „Wahrnehmungszentrum der Gemeinschaft“ geworden sei. „Besitzfreude“ sei zudem „zum irrsinnigen Warenhunger“ verkommen. In der Mechanisierung, so Rathenau, behaupteten sich allein „Zahl und Maß“, wodurch der Mensch eindimensional werde: „Gilt von den Dingen die Abmessung, so gilt vom Handeln der Erfolg; er betäubt das sittliche Gefühl, so wie Messen und Wägen das Qualitätsgefühl verblöden.“ Nein, ein solches Urteil hatte man vom Sohn des AEG-Gründers nicht erwartet; man kann schwerlich umhin, dabei an Stefan Georges berühmtes Diktum „Schon eure Zahl ist Frevel“ („Die tote Stadt“, 1907) zu denken. Und gerade dergleichen widerständige Gesinnung beeindruckte Zweig nachdrücklich.

 

„Der Andere“ schlechthin

 

Es verwundert nicht, dass Rathenau bereits um 1900 – nicht zuletzt durch seine Verbindung zu Harden – literarisch bestens ‚vernetzt‘ war: von Gerhart Hauptmann bis Harry Graf Kessler, der zu seinem ersten Biographen wurde, von Fritz von Unruh bis Ernst Troeltsch, Frank Wedekind, Max Reinhardt und Martin Buber bis zu Carl Sternheim und Hugo von Hofmannsthal. Mit der Berliner Sezession war Rathenau zudem über seinen Onkel mütterlicherseits, Max Liebermann, verbunden. Zum Gegenstand der Literatur wurde Rathenau dann nicht in einer Erzählung Stefan Zweigs oder einer der anderen genannten Autoren, sondern in der ironisch gebrochenen Gestalt des Paul Arnheim in Robert Musils kolossalem Zeitroman Der Mann ohne Eigenschaften (1930), eines unablässig von seelischen Belangen sprechenden „Großschriftstellers“. Als der noch völlig unbekannte Musil in Berlin Rathenau im Januar 1914 anlässlich einer Gesprächsrunde mit dem Soziologen und Volkswirt Werner Sombart über ökonomische Fragen aus nächster Nähe beobachten konnte, notierte er in seinem Tagebuch über den AEG-Sohn: „Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment […].“ Das Typisierende dieser Schilderung, so abstoßend es auf uns in seiner Plumpheit heute wirken mag, vermittelt zumindest eines: Rathenau wurde als etwas dezidiert Fremdes wahrgenommen. Er war der Andere schlechthin.

 

Weltseitiger Kosmopolitismus

 

Die entscheidende, weitaus inhaltsreichere Ergänzung in seiner frühen Charakteristik Rathenaus lieferte Zweig dann in seinem Erinnerungswerk Die Welt von Gestern (1941), wenn er schreibt: „Selten habe ich die Tragik des jüdischen Menschen stärker gefühlt als in seiner Erscheinung, die bei aller sichtlicher Überlegenheit voll einer tiefen Unruhe und Ungewißheit war.“

Nie zuvor und nie seither hat ein jüdischstämmiger Politiker in Deutschland ein so hohes Ministeramt innegehabt mit einem auch nur ansatzweise vergleichbaren Kenntnis- und Erfahrungsreichtum. Kein Politiker in der Weimarer Republik, Gustav Stresemann eingeschlossen, war solchermaßen auf das Amt des Außenministers vorbereitet gewesen. Weltläufig, wie Rathenau war, fügte es sich zudem, dass er bei jener ersten, für Zweig so denkwürdigen Begegnung dem Schriftsteller vorschlug, „Indien und Amerika“ aufzusuchen; denn auch Zweig schickte sich damals an, zum weltkundigsten der deutschsprachigen Autoren zu werden. Zweig gebraucht ein Wort Jean Pauls, um Rathenaus Kosmopolitismus zu kennzeichnen: „weltseitig“. Und er ergänzt: „Wenn man mit ihm sprach, fühlte man sich gleichzeitig dumm, mangelhaft gebildet, unsicher, verworren angesichts seiner ruhig wägenden, alles klar überschauenden Sachlichkeit.“ Dann die Einschränkung: „Aber etwas war in dieser blendenden Helligkeit, in dieser kristallnen Klarheit seines Denkens, was unbehaglich wirkte. […] Sein Geist war ein genial erfundener Apparat, seine Wohnung wie ein Museum, und in seinem feudalen Königin-Luisen-Schloss in der Mark [in Bad Freienwalde] vermochte man nicht warm zu werden vor lauter Ordnung und Übersichtlichkeit und Sauberkeit. Irgend etwas gläsern Durchsichtiges und darum Substanzloses war in seinem Denken.“

Darauf folgt eine Kette von Widersprüchen, die von ihrem Prinzip her gerade Zweig nicht fremd waren, wenn sie auch bei ihm eine andere Ausprägung fanden: „Bei Rathenau spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hochgeehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden […].“

 

Rastlose Tätigkeit als Opiat

 

Die rastlose Tätigkeit Rathenaus nennt Zweig ein „Opiat, um eine innere Nervosität zu überspielen und die Einsamkeit zu ertöten, die um sein innerstes Leben lag“, ein Phänomen, mit dem Zweig selbst nur zu vertraut war. Zutreffend sieht er im Zusammenbruch des Kaiserreichs und weniger in der Rohstoffverwaltung während des Ersten Krieges, die ihm oblag, Rathenaus großen Augenblick: als Minister für den Wiederaufbau Deutschlands, die Nachverhandlungen zu den Reparationsforderungen nach dem Versailler Vertrag, etwa mit dem französischen Unterhändler Louis Loucheur, dann auf der Konferenz von Genua, die bereits zu seiner tragisch kurz bemessenen Phase als Außenminister gehörte.

Was Zweig nicht erwähnt: Rathenaus Befürwortung des U-Boot-Krieges sowie, zuvor schon, seine Weigerung, sich öffentlich von der Teilzerstörung von Louvain/Leuven und von Reims durch deutsche Truppen zu distanzieren, was ihm Zweig im Namen von Romain Rolland angetragen hatte. Rathenaus briefliche Antwort vom 24. Oktober 1914 an Zweig und Rolland ließ an enttäuschender Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Dieser Brief belegt jedoch, dass Rathenau – in seiner Stellung keine Kleinigkeit – anerkennende Worte für Rollands Arbeit im Genfer Hilfswerk für Kriegsgefangene fand:

„Ihrem Wunsche kann ich leider nicht entsprechen. Es ist mir nur dann möglich, eine Anregung weiterzugeben, wenn ich selbst mich mit ihr identifizieren kann, und dies ist im Falle Rolland unmöglich. Ich bitte Sie, mich daher von Ihrem freundlichen Auftrag zu entlasten. […] In diesem Kriege wird zu viel geredet und geschrieben. […] Ich halte es für gänzlich gleichgiltig, was in diesem Zeitpunkt über Löwen, Reims und andere Dinge geschrieben und geredet wird. Die Abrechnung kommt, wenn der Krieg zuende ist, und diese Abrechnung wird eine objektive sein.

Ich könnte nicht leben, wenn ich mir nicht eine Tätigkeit geschaffen hätte, die mir einen Feldzug auf eigene Hand ermöglicht –, den Feldzug der Rohstoffe. […] Von diesen Erwägungen ist Rollands Tätigkeit für militärische und bürgerliche Gefangene nicht betroffen; die ist dankenswert, aber ich kann nicht dabei mitwirken, denn mein Tag ist bis in die Nacht hinein von Arbeit erfüllt.“

Es scheint, als habe Rathenau durch seine betont deutsch-patriotische Gesinnung versucht, sein jüdisches Kulturbewusstsein zu überspielen; dass er trotz seiner Nähe zum Kaiser und dieser kriegsbereiten Haltung nach 1918 von Rechtsradikalen angefeindet, im Reichstag vor allem durch den Innenstaatssekretär Karl Helfferich als Politiker denunziert wurde, der den Deutschland schmähenden Geist des Versailler Vertrags „erfüllt“ habe, erwies sich als Rathenaus eigentliche Tragik. Aus dem Rufmord wurde der tatsächlich an ihm verübte Mord auf offener Straße im Grunewald – und das in jenem Wagen, in dem er mit Stefan Zweig bei deren letzter Begegnung kurz vor den Verhandlungen in Genua und Rapallo eine halbe Stunde lang „geplaudert“ hatte. Zweig kommentierte: „Tatsächlich war seine geistige Konzentrationsfähigkeit, seine stupende Umschalteleichtigkeit von einer Materie zur andern derart vollkommen, daß er jederzeit im Auto wie in der Bahn ebenso präzis und profund sprechen konnte wie in seinem Zimmer.“

 

Triumph der Brutalität

 

Zweig hatte zu Recht hinter diesem Anschlag auf den Reichsaußenminister einen Plan der rechtsradikalen „Alldeutschen“ vermutet, die durch politische Morde von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner bis zu Matthias Erzberger, Gustav Landauer „und jetzt Rathenau“ alle „Mutigen, alle wahren Anführer der pazifistischen oder revolutionären Parteien“ ausschalten und mit ihnen den „Geist töten“ wollen, „das unabhängige Denken in Deutschland“. Und Zweig fragt: „Ist die Menschheit immer so dumm gewesen, oder gleiten wir in eine ganz spezielle Krise der Bestialität und Beschränktheit?“ Er fürchtet den „Triumph der Brutalität über den Geist“, was ein Jahrzehnt später politische Praxis werden sollte. Dieser am 25. Juni 1922 an Romain Rolland gerichtete Brief gehört zu Zweigs entschiedensten politischen Stellungnahmen. Angesichts der Verrohung der Sitten in der jungen Weimarer Republik schreibt er: „Ich gestehe Ihnen ehrlich, daß wir froh sein müssen, daß Frankreich diese Armee am Rhein stationiert hat – sonst würde diese idiotische Bande [der Alldeutschen, Anmerkung des Verfassers] morgen den großen Wilhelm und seinen prächtigen Sohn wieder aufleben lassen. […] Heute ist Rathenau dafür ‚bestraft‘ worden, daß er für die Vernunft gekämpft hat.“

Die Trauerfeier im Reichstag, angeführt von Reichskanzler Joseph Wirth, wurde zu einer Kundgebung für den Geist der Republik, die Oskar Loerke in einem Brief an Gerhart Hauptmann, einst Rathenaus Duz-Freund, als „gewaltig erregend“ bezeichnete. Hauptmann selbst hatte notiert: „Vorgestern früh Rathenau fortgerissen. Der wärmste und glanzvollste Mensch und Mann, von irregeführten Deutschen wahrscheinlich jungen Menschen, auf militärische Art gemeuchelt. Ich habe ein ekelhaftes Gemisch von Tagen erlebt.“ Seine Frau Margarete sollte sogar von Rathenau als einem Wiedergänger träumen. Zwar hatte sich das Verhältnis Hauptmanns zu Rathenau wegen dessen öffentlicher Abrechnung mit dem Kaiser und Befürwortung der Völkerbund-Idee getrübt, aber er hätte dennoch weiterhin Zweigs Urteil unterschrieben, der Rolland gegenüber konstatierte: „Nie hat Deutschland einen Mann von solchen Qualitäten, solcher Überlegenheit als Minister gehabt.“

 

Übel der Mechanisierung

 

Eine Entsprechung zu dieser Einschätzung Rathenaus findet sich mit besonderer Akzentsetzung bei Rainer Maria Rilke. Mitten im Ersten Weltkrieg berichtet er am 28. Mai 1915 von einem vierstündigen „Frühstück“ mit Rathenau und Lou Andreas-Salomé in München. Schon im Herbst 1914 hatte eine Begegnung zwischen Rilke und seiner anderen Lou, der Bildkünstlerin Lou Albert-Lazard, mit Rathenau stattgefunden. Sie erinnert sich 1952 wie folgt daran: „Ein Abend mit Walther Rathenau war besonders fesselnd. Rathenau in seiner sprühenden Weise sprach voller Aufruhr gegen die Epoche, die wir erlebten. Trotzdem brach sich seine von leidenschaftlichem Idealismus getragene Hoffnung auf die Zukunft immer wieder Bahn. Manches von dem, was er sagte, fand ich später in seinem Buch ‚Von kommenden Dingen‘ wieder. Rilke stimmte mit aller Sympathie seinen Reden bei.“

Dieser Hinweis ist bedeutsam, besagt er doch, dass er zu wichtigen Befunden, die seine kulturkritische Schrift Von kommenden Dingen bestimmen, bereits zu Anfang des Ersten Weltkriegs gelangt war. Dazu gehört die Kritik an der „Mechanisierung“ des Denkens und der Gesellschaft, die Herrschaft von „Zahl und Maß“, die zum „irrsinnigen Warenhunger gesteigerte Besitzfreude“ der Menschen und ihre dadurch selbstverschuldete Unfreiheit sowie das, was er die „Interessentenwerdung des Menschen“ genannt hat. Dennoch wüsste man gern, was Albert-Lazard mit „Aufruhr gegen die Epoche“ seitens Rathenaus genau meinte. Denn ein solcher „Aufruhr“ hätte im Widerspruch zu dem zuvor zitierten Brief an Stefan Zweig vom Oktober 1914 gestanden, in dem Rathenau glaubte, den Forderungen der Zeit und damit des Krieges nachkommen zu müssen. Die „Mechanisierung des Lebens“ jedoch, seine spätere Hauptthese, wenn sie denn in dem, was er in München gleichfalls im Herbst 1914 sagte, vorgebildet gewesen sein sollte, schließt die Möglichkeit einer Mechanisierung der Vernichtung und Zerstörung ein.

Im Zusammenhang liest sich dieser Befund bei Rathenau so: „Das Übel der Mechanisierung beginnt, wo die ungebrochene, undurchgeistete Kraft sich des innern Lebens bemächtigt, wo die gewaltig entfesselte Bewegung verantwortungslos aus der dienenden Bindung sich befreit, um den Menschen und sein Geschlecht, den Herrn des Getriebes, zum Knecht seines eigenen Werkes zu erniedrigen.“ Was Rathenau hier beschreibt, ist Selbstentfremdung durch eigenes Tun – nicht durch Fremdverschuldung. Veränderung der Produktionsverhältnisse bedeutete für ihn eine Veränderung von innen heraus, ein geändertes Verhältnis zur Arbeit. Und genau das dürfte auch Rilke besonders angesprochen haben. Ein weiteres Argument Rathenaus kommt hinzu: „So wenig wie Wohlstand ist Gleichheit die äußere Forderung unserer Seelen. Welcher irregeleitete Gerechtigkeitssinn konnte je auf die Forderung der Gleichheit verfallen? Wie wenig wissen wir vom tiefsten Innern unsres Nächsten: Worte sind vereinbarte Botschaften über unverglichene Dinge; wir beide nennen Rot, was bekannte Reihen von Gegenständen als Farbe ausstrahlen, und wissen doch nicht, ob die Rotempfindung des einen nicht gar der Grünempfindung des anderen entspricht.“

 

„Allegro brillante“

 

Als Rilke im Juni 1921 Rathenau zu dessen Ernennung zum Reichsaußenminister gratuliert, geschieht dies auch deswegen, weil er in ihm den Gestalter von Politik erkennt, ja den kritisch bewussten Politikkünstler. Umso erschütterter war auch Rilke angesichts der Schreckensnachricht vom 24. Juni 1922. Bereits zwei Tage später schreibt er ausführlich an Rathenaus Schwester, Edith Andreae-Rathenau, er habe in dem Hingemordeten einen „Erzieher eines tieferen und gültigeren Gemeinwesens“ gesehen.

Man stelle ihn sich vor: Walther Rathenau, Beethovens „Waldstein-Sonate“ spielend oder den Klavierpart in Robert Schumanns Quintett op. 44 übernehmend, dessen „Allegro brillante“ seinem Lebenstempo entsprach, oder in seiner Villa im Grunewald zu später Stunde Luthers Bibelübersetzung kritisch betrachtend – Joseph Roth sah sie noch zwei Jahre nach dem grausigen Mordanschlag auf Rathenaus Schreibtisch aufgeschlagen – und über Vertragsentwürfen brütend, die zu Rapallo und der am Ostersonntag 1922 erfolgten Verständigung mit der jungen Sowjetunion führten, ausgehandelt mit Georgi W. Tschitscherin, Rathenaus russischem Gegenüber und übrigens subtilem Mozart-Kenner. In seinem Gedenkartikel auf Rathenau, zwei Jahre nach dessen Ermordung in der Frankfurter Zeitung erschienen, nannte ihn Joseph Roth einen „friedlichen Ritter des Geistes“. Es spricht einiges dafür, dass wir dessen solchermaßen nobilitiertes diplomatisches Geschick wieder dringender nötig haben denn je.

 

Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Queen Mary University of London und dortiger Direktor des „Centre for Anglo-German Cultural Relations“.

 

Gekürzte Fassung eines Vortrags anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Ermordung Walther Rathenaus in Bad Freienwalde (Oder) am 23. Juni 2022.

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