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Amerika auf der Suche nach einem gemäßigten Liberalismus

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War früher wirklich alles schlechter? Zumindest die Vertreter eines progressistischen Liberalismus, verbündet mit einem nicht weniger radikalen und doktrinären Egalitarismus, wollen uns das glauben machen. Nach dieser Lesart leben wir in der besten aller möglichen Welten, abgesehen von der, die noch kommen wird und in der die Reste der Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und überhaupt aller Zumutungen vergangener Zeiten beseitigt sein werden. Aber was dann? Der progressistische Liberalismus hat das Problem, dass er einerseits das Ende der Geschichte erreichen will, aber andererseits nicht stehen bleiben kann, weil er dann nicht mehr fortschrittlich wäre. Zum Glück für seine Anhänger gibt es das, was sie für den Geist der Reaktion halten. Solange es Reaktionäre gibt, ist die Welt für sie in Ordnung, denn dann bleibt etwas zu tun. Reaktionäre sind aus Sicht der Progressisten all diejenigen, die glauben, dass auch einmal etwas so bleiben könne, wie es ist, oder die sogar so weit gehen, eine Fehlentwicklung mit der Rückkehr zu einem früheren Zustand korrigieren zu wollen. Dass die Progressisten sich mit dieser Einschätzung irren, zeigt Mark Lilla in seinem Essay The Shipwrecked Mind, in dem er versucht, der politischen Reaktion als einem prägenden Phänomen unserer Zeit auf den Grund zu gehen.

Gleich in der Einleitung stellt der Ideenhistoriker, der an der Columbia University in New York lehrt, fest, Reaktionäre seien keine Konservativen. Nicht einmal die Neigung, in der Geschichte zurückzukehren, um etwas zu reparieren, was die Verfechter eines falsch verstandenen Fortschritts beschädigt haben, erfüllt für Lilla den Tatbestand der Reaktion. Nur wer sich ganz und gar von historischen Imaginationen in den Bann schlagen lasse, qualifiziere sich als Reaktionär. Das dürfte eine gerechte Definition sein, in der sich das Bemühen nach tieferem Verständnis ausdrückt. Es mündet in die Erkenntnis, dass der Reaktionär nicht aus der Zeit gefallen, sondern eine ebenso moderne Figur wie der Revolutionär ist, mit dem er das Streben nach einer vollkommenen Welt teilt. Während der Revolutionär eine Utopie verwirklichen will, die noch niemand gesehen hat, nimmt der Reaktionär für sich in Anspruch, in eine Welt zurückzukehren, deren Existenz niemand leugnen kann, da es sie tatsächlich gegeben hat. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass die von ihnen ersehnte politische Ordnung nur durch einen vollkommenen Bruch mit der Gegenwart und im Grunde auch mit der historischen Entwicklung verwirklicht werden kann. Den Theorien des Revolutionärs stellt Lilla die politische Nostalgie des Reaktionärs gegenüber.

Revolutionärer Antiliberalismus

Natürlich ist für Lilla nicht jeder ein Reaktionär, der etwas Vergangenes vermisst – wer etwa glaubt, dass Radios in den 1950er-Jahren ästhetisch ansprechender gewesen seien als ein heutiges Smartphone, oder wer denkt, die politische Kultur früherer Jahrzehnte habe ihre Vorzüge gegenüber der gegenwärtigen Polarisierung der westlichen Gesellschaften gehabt. Lillas Reaktionär zeichnet sich vielmehr durch die Militanz seiner politischen Nostalgie aus, durch die Verbindung des Gegenwärtigen mit der Unwirklichkeit des Erstrebten. Gerade das macht ihn zu einem legitimen Kind der Moderne. So einleuchtend das ist, bleibt doch die Frage, ob die Unterscheidung von Reaktionären und Revolutionären dann überhaupt Sinn ergibt oder ob man nicht eher von linken und rechten Revolutionären sprechen sollte, zumal, wie Lilla selbst sagt, der Reaktionär nicht notwendigerweise rechts steht; er kann ebenso gut ein Linker sein, der seinen von der Geschichte zurückgelassenen Traum zurückgewinnen und doch noch verwirklichen will. Am Ende kommt es nicht darauf an, ob der Verächter der Gegenwart zurück in die Zukunft oder vorwärts in der Vergangenheit reisen will. Was Lilla als Reaktion begreift, ist, da es immer eine Revolte gegen den modernen Liberalismus darstellt, nichts anderes als ein revolutionärer Antiliberalismus.

Viel hat Lilla zu diesen definitorischen Dingen ohnehin nicht zu sagen. Was man über seine Idee des reaktionären Geistes wissen muss, handelt er in der Einleitung seines Buches ab, das eigentlich nur eine Sammlung von bereits erschienenen Essays ist, die sich nicht ohne Weiteres zu einem Ganzen fügen. Auf die Einleitung folgen zunächst Porträts von drei Philosophen – Franz Rosenzweig, Eric Voegelin und Leo Strauss –, denen in Lillas Augen der Versuch gemeinsam war, eine verlorene religiöse oder philosophische Tradition wiederzugewinnen. Diese Texte sind alles in allem gelungene Einführungen in das Denken dieser Philosophen, tragen aber nur wenig zum Verständnis des Reaktionären bei. Rosenzweigs Vorstellung eines anderen Judentums war eine nostalgische Sehnsucht nach dem Transzendentalen und nichts, was man aktiv oder gar politisch zurückgewinnen konnte; Voegelin widerrief seine reaktionäre Ablehnung der liberalen Moderne am Ende seines Lebens selbst; und Strauss war ein Verteidiger der liberalen Demokratie, der mit der Wiedergewinnung der klassischen politischen Philosophie keine politische Absicht verband.

Konservativer Exilant

Von diesen drei Essays ist derjenige über Strauss am schwächsten. Lilla will mit ihm zeigen, dass Strauss von seinen – angeblich oder tatsächlich neokonservativen – Adepten in den Vereinigten Staaten missverstanden wurde. Lilla geht großzügig über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen der Straussianer, die Strauss selbst niemals ins Leben gerufen hat, hinweg, um sie alle zu Wegbereitern eines reaktionären und populistischen Konservatismus zu erklären. Dass Lilla das Bemühen um Ausgewogenheit und Fairness, das seine Schriften im Allgemeinen auszeichnet, in diesem Fall beiseitelegt, hat wohl vor allem persönliche Gründe. Von 1980 bis 1987 arbeitete er als Redakteur des von Irving Kristol gegründeten Magazins The Public Interest, also für das renommierteste Organ des frühen Neokonservatismus, bevor er sich politisch anders besann, weil, wie er später schrieb, dem Neokonservatismus im Laufe der Zeit die für ihn typische Mäßigung abhandengekommen sei.

In gewisser Weise scheint Lilla für sich in Anspruch zu nehmen, der letzte Vertreter dieser neokonservativen Mäßigung zu sein, womit er eine ganz eigene Position im intellektuellen Leben Amerikas einnimmt, als eine Art konservativer Exilant im linksliberalen Milieu. So wie Charles de Gaulle 1940 die Legitimität Frankreichs mit sich nach London nahm, so führte Lilla die Mäßigung der frühen Neokonservativen und der Straussianer mit sich nach links, weshalb er offenbar glaubt, mit seinen früheren Freunden besonders hart ins Gericht gehen zu müssen. Wie unnötig solche Absetzbewegungen sind, wird deutlich, wenn man sich die folgenden Kapitel von The Shipwrecked Mind ansieht, in denen Lilla zwei Strömungen zu Leibe rückt, gegen die auch die älteren Neokonservativen Stellung bezogen hätten: zum einen die sogenannten Theocons, eine Gruppe von Katholiken, die die gesamte Geschichte seit der Französischen Revolution und damit auch die Vereinigten Staaten für eine Fehlentwicklung halten; und zum anderen die ehemals marxistischen europäischen Linksintellektuellen, die nach dem Scheitern der Sowjetunion den Apostel Paulus als Ersatzpropheten für den diskreditierten Marx entdeckt haben.

Tugend der Mäßigung statt „Tyrannophilie“

Auch die dann folgenden Ausführungen über den reaktionären Geist im heutigen Frankreich, den Lilla anhand von Rezensionen über Michel Houellebecqs Soumission und Eric Zemmours Pamphlet Le Suicide français vor Augen führt, und die Bemerkungen über den islamistischen Totalitarismus in der Schlussbetrachtung hätten in einem neokonservativen Magazin erscheinen können. Insofern erweist sich Lilla in The Shipwrecked Mind wie schon in The Reckless Mind, einem Buch über die „Tyrannophilie“ der Intellektuellen, als ein gemäßigter Zentrist, den nur die Wechselfälle des Lebens ins linksliberale Milieu verschlagen haben. Denn anders als seine Freunde von der New York Review of Books, in der die meisten Kapitel seines neuen Buchs zuerst erschienen sind, weiß Lilla genau, dass politische Polarisierung immer zwei Seiten hat.

Das hat er mit Paul O. Carrese gemeinsam, der mit Democracy in Moderation ein eindringliches Plädoyer für die Tugend der Mäßigung vorgelegt hat. Anders als Lillas Essay ist Carreses Studie nicht das Werk eines öffentlichen Intellektuellen, sondern eines Gelehrten, der der Bedeutung der Mäßigung für die liberale Demokratie auf den Grund gehen will. Gleichwohl hat Carreses Buch eher politischen als wissenschaftlichen Wert. Wie Lilla reagiert er in erster Linie auf das derzeitige politische Klima in den Vereinigten Staaten. Sein Buch, so schreibt er, sei vor allem ein „amerikanisches Buch“, geschrieben von einem Amerikaner zur Unterrichtung von Amerikanern, die vergessen hätten, dass ein liberales Regime nur erhalten werden könne, wenn es in der Lage sei, konfligierende Sichtweisen und Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Nur eine gemäßigte Demokratie ist aus seiner Sicht eine lebensfähige Demokratie. Das führt er zunächst mit Ausführungen über Montesquieu und Tocqueville vor Augen, die sich nicht immer auf der Höhe des Forschungsstandes bewegen und mitunter eigenartig kontextlos wirken. Es überrascht zum Beispiel, wenn Carrese schreibt, bisher habe noch niemand erkannt, dass die Mäßigung im Zentrum von Montesquieus politischer Philosophie stehe, obwohl doch Thomas Chaimowicz genau das schon 1985 in Freiheit und Gleichgewicht im Denken Montesquieus und Burkes zum Thema gemacht hat – ein Buch, das im Jahr 2011 auf Englisch erschienen ist. Auch ist es wenig überzeugend, Montesquieu zum wichtigsten Einfluss der amerikanischen Gründerväter zu erklären, ohne es auf der Grundlage einer genauen Quellenanalyse nachzuweisen oder davon auszugehen, dass Tocqueville die Mäßigung der Gründerväter „vertieft“ habe. Tocqueville ist gewiss einer der wichtigsten Kommentatoren der amerikanischen Republik, kann aber wohl kaum als Quelle für die sie tatsächlich oder angeblich auszeichnende Mäßigung gelten.

Politik ohne Mitte

Das eigentliche Verdienst dieses Buches ist denn auch gar nicht diese konventionelle und quellenarme Darstellung von Montesquieus und Tocquevilles Mäßigungsdenken, sondern die Wiederentdeckung Herbert Storings, der besser als Montesquieu oder Tocqueville dafür geeignet ist, zu zeigen, dass das politische Leben in den Vereinigten Staaten seine Mitte verloren hat. Geschult an William Blackstone, einem der wichtigsten juristischen Kommentatoren der britischen Verfassung im 18. Jahrhundert, interpretierte der Politikwissenschaftler Storing, der ein ausgewiesener Experte des Denkens der Anti-Federalists war, das amerikanische System als eine Art Mischverfassung, in der Freiheit und Gleichheit, Liberalismus und Demokratie beständig in Ausgleich zu bringen seien. Wichtig dabei ist, dass Storing ein Schüler von Leo Strauss war und zusammen mit anderen Ostküsten-Straussianern wie Walter Berns und Harvey Mansfield die politische Mäßigung repräsentierte, die Lilla in seinem StraussKapitel den Straussianern pauschal abspricht.

Storing wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass eine zu starke Polarisierung und ein extremer Parteigeist im Gegensatz zu den Gründungsprinzipien der amerikanischen Republik stünden. Er sei, so Carrese, ein komplexer Vertreter der Prinzipien Alexander Hamiltons gewesen und habe in den 1960erund 1970er-Jahren darauf hingewiesen, dass die amerikanischen Gründungsprinzipien nicht im Widerspruch zum „big government“ stünden, aber auch vor den Kosten und freiheitsbedrohenden Folgen einer zu starken Regierungszentralisierung gewarnt. Im Grunde repräsentierte er damit jenen alten Liberalismus, der nach der Ermordung John F. Kennedys unter immer stärkeren Druck der neuen Linken geriet und schließlich nur noch von einigen konservativen Liberalen verteidigt wurde, die später Neokonservative genannt werden sollten, während die Liberals einen neuen, radikalen, um die Interessen von Minderheiten kreisenden Liberalismus propagierten.

Diesen neuen „identity liberalism“, so hat Lilla jüngst in einem Meinungsartikel für die New York Times geschrieben, gelte es zu überwinden, wenn die amerikanische Politik ihre Mitte wiederfinden solle. Auch Lilla ist also ein Nostalgiker, der etwas Altes zurückholen möchte: den „liberalen Konsens“ der 1950er- und frühen 1960er-Jahre – oder mit seinen eigenen Worten: „die authentischen Grundlagen des modernen amerikanischen Liberalismus“, für den die Nation etwas anderes, nämlich viel mehr ist als das Nebeneinander ethnisch und geschlechtlich definierter Interessen. Carrese mag Ähnliches im Sinn haben, wenn er dazu aufruft, die Mäßigung der amerikanischen Verfassung durch den Verzicht auf einseitige Gerechtigkeitstheorien und die Förderung eines echten sokratischen Gesprächs wiederherzustellen. Offenbar war früher doch manches besser – zumindest in Amerika.

Mark Lilla: The Shipwrecked Mind. On Political Reaction, New York Review Books, New York 2016, 12,49 Euro.

Paul O. Carrese: Democracy in Moderation. Montesquieu, Tocqueville, and Sustainable Liberalism, Cambridge University Press, New York 2016, 82,49 Euro.

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Matthias Oppermann, geboren 1974 in Auetal-Rehren, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Universität Potsdam.

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