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Aber Putin träumt von Gegenspielen

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Manche seiner scharfen Kritiker platzten vor Schadenfreude, als der bis vor Kurzem Wladimir Putin so zugeneigte Chef des Internationalen Olympischen Komitees (International Olympic Committee, IOC) Thomas Bach, kübelweise mit propagandistischem Kreml-Unrat überschüttet wurde. So hat die für ihre geschmacklosen Polemiken berüchtigte Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, den Ausschluss sogenannter „individueller, neutraler Athleten aus Russland“ von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris am 26. Juli 2024 mit der Hasstirade kommentiert: „Das IOC ist zu einem Ort geworden, an dem Neonazismus und Rassismus gedeihen.“ IOC-Sprecher Mark Adams verwies zudem auf haarsträubende Kommentare in den sozialen Medien, die Bachs deutsche Staatsangehörigkeit und den Holocaust mit dem Ausschluss der russischen Sportler in einen Begründungszusammenhang gebracht hätten.

Die Verschlechterung der einst so gedeihlichen Beziehungen zwischen dem IOC unter der Leitung von Thomas Bach und dem sportpolitisch hoch ambitionierten russischen Machthaber waren bereits zuvor an einem Tiefpunkt angelangt, nachdem die Sportorganisationen in den okkupierten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk und Saporischschja vom russischen Nationalen Olympischen Komitee zwangsintegriert worden waren.

Johannes Aumüller und Thomas Kistner beschreiben in ihrem Buch Putins Olygarch,1 dass Thomas Bach ohne die Hilfen Putins nicht zum „mächtigsten Sportfunktionär dieses Planeten“ hätte aufsteigen können. Denn der personelle und finanzielle Einfluss Russlands in etlichen internationalen Sportverbänden sei immens. Bach wolle sich dafür jetzt bei seinem langjährigen Politamigo im Kreml sozusagen revanchieren, indem er – trotz des seit 2014 aufgedeckten und sich bis heute hinziehenden Staatsdopingskandals und der kriegerischen Aggression gegen die Ukraine – wenigstens einigen russischen Athletinnen und Athleten in Paris 2024 die sportliche Teilnahme ermöglichen möchte, um eine komplette Verbannung des Schurkenstaates zu verhindern.

 

Krieger im Endkampf gegen den „dekadenten Westen“

Bereits bei den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio, die aufgrund der Corona-Pandemie erst im Jahr 2021 ausgetragen werden konnten, und bei den Olympic Games im winterlich umfrisierten Peking 2022 durften „cleane“ russische Sportlerinnen und Sportler in einem neutralen Olympiatrikot und unter neutraler Hymne und Fahne antreten; Putins Nationales Olympische Komitee verschwand dafür aus der Liste der teilnehmenden Nationen. Mit diesem schlitzohrigen Trennungstrick sollte die notorisch satzungsbrüchige Sportnation Russland nicht vollständig aus dem Weltsport verbannt werden, obwohl sie auch noch nach der Aufdeckung ihres staatlichen Dopingsystems täuschte, betrog und Dopingtestdaten manipulierte,2 um die Aufklärung ihrer Falschspielereien zu behindern.

Doch im Kreml scheint man nicht länger bereit, sich mit Bachs listigen Auswegen einer bloß neutralen Teilnahme russischer Athletinnen und Athleten abzufinden, zumal seit dem Überfall auf die Ukraine mit noch größerem olympischem Ärger zu rechnen ist – zum Beispiel durch Boykottandrohungen mehrerer Staaten. Putin will die Flucht nach vorn antreten und zu einem Gegenschlag gegen Olympia und die Idee friedfertiger Wettkämpfe ausholen. Denn offenbar versteht Moskau auch seine Sportler mittlerweile als Krieger im Endkampf gegen den „dekadenten Westen“. Kaum dass das olympische Feuer in Paris erloschen sein wird, sollen im September 2024 so etwas wie Gegenspiele in Moskau und Jekaterinburg stattfinden. Auch wenn von solchen Propagandaveranstaltungen nur ein sportlich unterklassiges Turnier zu erwarten sein dürfte, bedeutet es gleichwohl eine offene Kampfansage an den einstigen Geschäftspartner Bach und dessen sorgsam gehütetes Olympiamonopol.

Russland hatte 2014 während der Winterspiele in Sotschi die gesamte Sportwelt hochgradig hintergangen. Mit seinem staatlich geschützten Dopingsystem lieferte es die bis dato hinterhältigsten Fake-Spiele in der Geschichte Olympias ab. Mindestens fünfzehn gedopte russische Medaillengewinner mussten ihr Edelmetall hinterher zurückgeben oder wurden auf Jahre gesperrt.3

Aber auch ohne den Dopingbetrug großen Stils war der Austragungsort am Schwarzen Meer aufgrund zahlreicher Menschenrechtsverletzungen höchst umstritten, weshalb sich unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck geweigert hatte, an Putins Eröffnungsfeier in Sotschi teilzunehmen. Er wollte sich nicht für eine scheinheilige olympische Friedensruhe instrumentalisieren lassen.

Damit lag der frühere Bürgerrechtler richtig, sollte Putin doch am vorletzten Tag der Spiele den Einsatzbefehl für die „grünen Männchen“ in Sewastopol – will sagen: für die völkerrechtswidrige Annexion der Krim – geben und damit in historisch einmaliger Weise gegen die olympische Friedenspflicht eines Gastgeberlandes verstoßen.

 

Das „Fest der Jugend der Welt“ im Kalten Krieg

„Nur noch Raketen und Goldmedaillen gelten“, soll US-Präsident John F. Kennedy ernüchtert festgestellt haben. Demnach hatten die Olympischen Spiele mitten im Kalten Krieg zu Beginn der 1960er-Jahre einen mit dem Wettrüsten vergleichbaren Status erreicht. Der Athletenwettstreit entwickelte sich zum Drama im Kalten Krieg, in dessen Mittelpunkt immer wieder die Folgen der deutschen Teilung standen. Hinzu kamen der Nahostkonflikt mit dem mörderischen Anschlag auf die israelische Olympiaequipe in München 1972 und vier Jahre später in Montreal der Boykott aller schwarzafrikanischen Mannschaften wegen des Umgangs mit dem Apartheidstaat Südafrika.

Dass Moskau den Zuschlag für die Spiele 1980 erhielt, wurde im Kreml als Resultat der entspannungspolitischen Bemühungen begrüßt. Doch als die Sowjetarmee Ende 1979 in Afghanistan einmarschierte, griff der schwächelnde US-Präsident Jimmy Carter die – von ihrer Wirkung aus betrachtet – höchst umstrittene Boykottidee auf. Der Kalte Krieg sollte das „Fest der Jugend der Welt“ nochmals dominieren. Fast fünfzig Verbände aus westlichen Ländern sagten ihre Teilnahme ab; allen voran die USA und die Bundesrepublik. Dagegen nahmen die westlichen Teams aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden teil.

Im Gegenzug musste Olympia in Los Angeles 1984 den Revancheboykott von vierzehn kommunistischen Staaten aushalten, darunter alle Staaten des Warschauer Paktes sowie Kuba, Vietnam, Nordkorea, Jemen und Äthiopien. Dies geschah zum Leidwesen der DDR, die zuvor ein neues sogenanntes sportmedizinisches Sonderprogramm – also eine Dopingoffensive! – gestartet hatte, um im Ländermedaillenspiegel noch besser abzuschneiden.

1988 wollte das steinzeitkommunistische Nordkorea das Boykottspiel fortsetzen, als die Olympischen Sommerspiele in Seoul, der Hauptstadt des verhassten Bruderlands, stattfanden. Dies blieb ohne nennenswerte Wirkung, denn nur der schlecht beratene kubanische Staatschef Fidel Castro gab sich die sektiererische Blöße, als einer von wenigen dem Boykottaufruf Kim Il-Sungs zu folgen – im Gegensatz zu den mit ihm befreundeten Ostblockstaaten. An deren Spitze konnte die Olympiamannschaft der DDR – ein Jahr vor dem Mauerfall – doch noch ihren Aufstieg unter die drei weltbesten Sportnationen erreichen, freilich mit unlauteren Mitteln. Es ist ein Treppenwitz der IOC-Historie, dass der olympische Sport, der nach seinen hehren Idealen Spaltungen überwinden will, diese vertieft hatte.

Als sich die „Jugend der Welt“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1992 in Barcelona wiedertraf, wurde hoch und heilig ein neues olympisches Zeitalter ausgerufen. Denn nach den Jahrzehnten des Kalten Krieges, der alles andere als friedfertigen Systemkonkurrenz und den Boykotten sollte eine neue, politisch unbeschwerte olympische Faszination möglich sein. Das IOC peilte geradewegs eine neue, beispielsetzende Weltordnung an.

Doch weit gefehlt. Die Vorstellung, Politik jenseits der alten Systemkonkurrenz aus Olympia verabschieden zu können, erwies sich als naiver Wunsch, vergleichbar der nach 1989 grassierenden Utopie von einer neuen „Weltinnenpolitik“ oder dem „Ende der Geschichte“ nach dem Sieg des westlichen Liberalismus. Stets transportierte Olympia einen politikfernen Idealismus. Die „Herren der (fünf Olympischen) Ringe“ gaben haltlose Entwicklungsversprechen ab, weckten Freiheitserwartungen in Diktaturen, beschworen Friedensmissionen und beanspruchten für sich – völlig größenwahnsinnig – den Friedensnobelpreis.

 

Wie überlebt Olympia?

In Wahrheit traten die Olympischen Spiele seit dem Epochenbruch 1989/91 in das Stadium eines schier unbeherrschbaren Progressismus ein, gekennzeichnet durch drei Entwicklungen: erstens durch eine die gesamte Sportwelt mehr und mehr beherrschende biotechnologische Körperutopie, die Athletinnen und Athleten mittels kraftfördernder Aufputschmittel und Blutdoping noch stärker, schneller und ausdauernder machen wollte. Komplementär dazu erleben wir die forcierte Expansion von Wettbewerben und Teilnehmern, die unter dem wachsenden Druck von Sponsoren kaum limitierbar erscheint. Als mediale Supervision ist der Wachstumsfaktor Olympia schließlich in eine kommerzielle Gigantomanie fernab aller Nachhaltigkeitsversprechen ausgeartet.

Ganz Paris träumt von Olympia. Man darf davon ausgehen, dass Frankreich die Sportwelt im Juli und August 2024 mit einem phantasievoll gestalteten Olympiaturnier über drei Wochen begeistern wird. Doch droht sich ein Boykottschatten über die sportselige Metropole an der Seine zu senken, je länger die Aggression Russlands in der zunehmend bedrohlich unterlegenen Ukraine anhält und Thomas Bach und seine afro-asiatischen Gremienmehrheiten sich hinter der verlogenen IOC-Losung verschanzen, dass Sport und Politik zu trennen seien. Die Frage steht im Raum, ob ukrainischen Athletinnen und Athleten Duelle mit „neutralen“ russischen Sportlerinnen und Sportlern zugemutet werden können, die sich zuvor auf Solidarität mit Putins kriegerischer Barbarei verpflichten ließen.

Derweil erhebt der mafiöse Putin seinerseits den Mafiavorwurf gegen das IOC und droht mit seiner Offensive von Gegenspielen, das Rad der Geschichte auf einem weiteren gesellschaftlich relevanten Feld in neostalinistischer Manier zurückdrehen zu wollen. Einstmals hatte das Sowjetregime mit aufwendigen Spartakiaden und Weltjugendfestspielen über Jahre vergeblich versucht, eine sozialistische Gegenbewegung zu den kommerzorientierten Olympischen Spielen in Gang zu setzen. Erst in der späten Stalin-Ära gab die Sowjetunion ihren sportpolitischen Isolationismus auf und schloss sich 1951 der Olympischen Bewegung an.

Wem es wie Putin strategisch primär auf Destabilisierung und Destruktion ankommt, von dem ist kein falscher Ehrgeiz zu erwarten, in eine ernsthafte Konkurrenz zur olympischen Tradition zu treten. In Putins Kampf gegen den freien Westen genügt bereits eine Abspaltung, um das olympische Monopol zu treffen. So könnte die neue Weltordnung von Barcelona 1992 in Paris 2024 an ihr vorläufiges Ende kommen.

Norbert Seitz, geboren in Wiesbaden, Soziologe, Buchautor und freier Mitarbeiter des „Deutschlandfunk“.


1 Johannes Aumüller / Thomas Kistner: Putins Olygarch. Wie Thomas Bach und das IOC die Olympischen Spiele verraten, dtv Verlag, München 2024.
2 Laut Deutschlandfunk sollten später noch 200 (!) russische Sportlerinnen und Sportler bei der Überprüfung der Dopingdateien aus dem Moskauer Kontrolllabor überführt werden. 73 weitere Fälle wurden angeklagt und 182 werden noch untersucht (Stand: Mai 2023).
3 Laut Deutschlandfunk sind bei der Manipulation russischer Dopingtestdaten aus den Jahren Januar 2012 bis August 2015 15.000 Daten gelöscht und dabei 145 Sportler geschützt worden.

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