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Der „autoritäre Charakter“ in der Gesellschaft ohne Zentrum

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Der Begriff „Autorität“ hat einen doppelten Sinn – den der Anerkennung eines fremden Willens und den der Unterwerfung unter einen fremden Willen. Verwandt, aber nicht gleichbedeutend mit dem Begriff „Macht“, ist jener einer klassischen Definition zufolge die Chance, den eigenen Willen in einer sozialen Beziehung durchzusetzen – auch gegen Widerstreben. Doch setzt jede Machtausübung ein Minimum an Gehorchenwollen voraus, eine Freiwilligkeit im Verhältnis zu heteronomen Mächten. Insofern schwingt im Begriff Autorität ein polysemes Spiel mit, das in das Begriffsfeld von Macht changiert.

Die Kritik an Autoritätsgebundenheit ist im Programm der Aufklärung elementar. Die Aufforderung zur Mündigkeit, der Wahlspruch Immanuel Kants, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, selbstverantwortlich zu handeln, stehen im Gegensatz zur Leitung durch andere, zur Subordination. Aber auch diese Vernunft wird im Prozess der immer weitergreifenden rationalen Naturbeherrschung selbst zu einer autoritären Struktur. Sie schlägt von einer befreienden Kraft in ihr Gegenteil um, in den totalen Herrschaftsanspruch der Zweck-Mittel-Kalkulation. Das ist die These der Dialektik der Aufklärung (1947), eines Klassikers des 20. Jahrhunderts von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, während des Zweiten Weltkriegs im US-Exil geschrieben.

Als Autoritätskrise wurde auch der Erfolg von Faschismus, Nationalsozialismus wie korporatistisch-rechtsextremen Gruppierungen der Zwischenkriegszeit in Europa und den USA gedeutet: In diesem Kontext stand die Arbeit einer US-Forschungsgruppe von Adorno und anderen Sozialwissenschaftlern. Sie fragte, warum sich Menschen Faschisten oder Rechtspopulisten anschließen, und vor allem, wo nach 1945 deren zukünftiges Rekrutierungspotenzial, die Attraktivität dieser Bewegungen liegen könnte.

 

Das Gegenteil von Autoritätshingegebenheit

 

Das Ergebnis war ein völlig neues Konzept – nichts weniger als der kühne Versuch einer Anthropologie des Individuums im gegenwärtigen Kapitalismus. Demnach hatte sich ein neuer sozialer Typus herausgebildet, der „autoritäre Charakter“, den eine spezifische Rezeptionsbereitschaft für solche Bewegungen auszeichne. Er verbinde die für die hochindustrialisierte Gesellschaft typische Rationalität mit irrationalen Überzeugungen: „Er ist zugleich aufgeklärt und abergläubisch, stolz, Individualist zu sein, und in ständiger Furcht, nicht so zu sein wie alle anderen, eifersüchtig auf seine Unabhängigkeit bedacht und geneigt, sich blindlings der Macht und Autorität zu unterwerfen.“1

Man ging von der psychoanalytischen Hypothese aus, dass dieser Typus durch eine bestimmte Charakterstruktur gekennzeichnet war, die ihn – durch unbewusste psychologische Bedürfnisse – für Autoritarismus empfänglich mache, manchmal sogar im Widerspruch zur eigenen Weltanschauung. Schon eine frühere Studie über Arbeiter und Angestellte vor 1933 hatte etwa gezeigt, dass ein erheblicher Anteil der männlichen Mitglieder der Kommunistischen Partei starke autoritäre Überzeugungen vertrat, die in eklatantem Widerspruch zur sozialistischen Weltanschauung standen: etwa zur Unterordnung von Frauen unter die Autorität von Männern oder der von Kindern unter die Eltern. Als Hauptmerkmal galt eine tiefe Ambivalenz, die innere Spannung zwischen dem Wunsch, sich einer Autorität zu unterwerfen, und dem, zugleich gegen andere Autoritäten destruktiv zu rebellieren. Dieses Phänomen war weit entfernt von dem, was man demütige Autoritätshingegebenheit nennen würde. Auch für die Nationalsozialisten sah man diesen Sozialtypus als maßgeblich an. Sie waren, so die Vorgängerstudie, erfolgreich nicht nur durch Unterdrückung und brutale Gewalt, vielmehr öffneten sie ihren Gefolgsleuten zugleich Ventile der Rebellion gegen Mächte und Autoritäten: gegen die demokratische Ordnung der Weimarer Republik, das „internationale Finanzkapital“ und „das“ Judentum. Damit befriedigte der Nazismus zwei gegensätzliche Bedürfnisse zugleich, offene Rebellion und latente Sehnsucht nach Unterordnung.

Die rechtsautoritären Agitatoren und Meinungsführer verstünden es, Gefühle der Entfremdung durch wirksamste Stimuli zu mobilisieren. Das wurde als Manipulation gedeutet, aber nicht nur: Der „autoritäre“ Charakter verkörpere sich nicht bloß im Gefolge, sondern ebenso in den Führern, seien es Hitler, Father Charles Coughlin, der antisemitische US-Rundfunkagitator, oder Martin Luther. Für all diese Gestalten galt, dass der autoritäre Charakter offensiv sein kann – aber nur angreift, wenn „er sich in trotziger Auflehnung gegen Autoritäten befindet oder sich im Besitz der Macht fühlt; er muss glauben, im Auftrag einer höheren Macht zu handeln und ihr Vollstrecker zu sein“.2 Dafür wurde der Begriff des „Rebellen“ geprägt, ein Terminus technicus der Kritischen Theorie.

 

Sehnsucht nach Krise

 

1944, kurz nach der Befreiung von Paris, schrieb Jean-Paul Sartre die Réflexions sur la question juive.3 Auch er untersuchte in einer idealtypischen Konstruktion den Typus, der im zeitgeschichtlichen Kontext so relevant geworden war. Den Antisemitismus betrachtete Sartre als dessen zeitgemäße, doch nicht einzig mögliche Gestalt. In anderen Zeiten könne sich dies im Hass auf Schwarze oder Asiaten äußern, und Unruhen könnten auch im Kontext von Meutereien, Verbrechen oder irgendwelchen Ungerechtigkeiten entstehen – immer aber seien es Krisen, die geschürt würden.

Sartre kennzeichnete den Idealtypus des Antisemiten durch die Sehnsucht nach Krisen: Unfähig, die Organisationsform der modernen Gesellschaft zu verstehen, nutze er diese Perioden für Rebellionen gegen die herrschende Ordnung. Eine gewisse Fusionstemperatur sei es, die, so Sartre, diese hinterhältige Form des Kampfes gegen die Staatsgewalt in einer demokratischen Ordnung brauche.

Befrage man den lärmenden Störer, werde der antworten, er wünsche sich eine starke Staatsmacht. Gewissermaßen treibt ihn die Liebe zum Gehorsam zum Ungehorsam. Wollte er wirklich eine starke Macht? Sartre meint, im Gegenteil, der Störer wolle für die andern eine strenge Ordnung und für sich eine Unordnung ohne Verantwortung. In einer Art permanentem Aufstand sei er Feind der Machtorgane, „das disziplinierte Mitglied einer undisziplinierten Gruppe“ in einer „Unabhängigkeit gegen den Strich“. Das, was Sartre den „Lausbub“ nennt – der prügelt, ‚aufräumt‘, Radau macht, in der Scheinkollektivität der Hassenden aufgeht, in der Negativität den Schein einer individuellen Existenz erzeugt – ist eine andere Formulierung einer Theorie des autoritären Charakters und ihres Hauptmerkmals: Ambivalenz zwischen autoritärer Unterwürfigkeit und destruktiver Rebellion.

Adorno und Sartre sahen in der Unfähigkeit, die Organisationsform der modernen Gesellschaft zu verstehen oder sich in ihr zurechtzufinden, die Ursache des Phänomens. Adorno verstand diese Organisationsform mit Karl Marx als Klassengesellschaft, für Sartre als Existenzphilosophen war die Freiheit entscheidend.

Machen wir zum besseren Verständnis einen soziologischen Umweg. Elementare Autoritätstypen wie der Älteste oder Anführer haben ihren Ursprung in vormodernen Gemeinschaften. Für die moderne Gesellschaft gilt nicht mehr die elementare „mechanische“ Solidarität von Gemeinschaften gleicher Teile (Clans, Dorfgemeinschaften), sondern eine „organische“ Solidarität ungleicher, sich ergänzender Teile. Émile Durkheim führte diese Begriffe zur Beschreibung einer komplexeren Form arbeitsteiliger Solidarität der verschiedenen Einheiten als den Beginn moderner Gesellschaftsentwicklung ein.

In der Soziologie seit 1945 finden wir zunehmend die Konzentration auf funktionale Differenzierung, die die Autonomie „primärer Teilsysteme“ (Niklas Luhmann) oder der „Felder“ (Pierre Bourdieu) betont. Diese Einheiten werden als Welten des Möglichen aufgefasst. Man hat es, sagt Bourdieu, mit einem Ensemble von in komplexer Weise voneinander abhängigen Teilbereichen zu tun, die jeweils relativ autonom, anonym, scheinbar anarchisch, tatsächlich aber strukturell zwingend sind.

Im 18. Jahrhundert entwickelte Montesquieu die Idee der Gewaltenteilung politischer Instanzen als Schutz vor Tyrannei. Bourdieu, in einer metaphorischen Übertragung, wendet das auf die moderne funktionale Differenzierung an: ‚Gewaltenteilung‘ der anderen Art. Die Ausdifferenzierung in Felder ermöglicht Freiheit und schützt vor ‚Tyrannei‘. Sie schiebt sich wie ein „Schutzriegel“ vor die Etablierung eines Zentrums, einer zentralen Machtinstanz.4

 

Funktionale Autorität

 

Die neue Autorität der Felder oder Teilsysteme ist ‚funktionale Autorität‘.5 Sie ist durch die Funktion als Sachdimension, ja Sachzwang gekennzeichnet. Das führt zu Repression: zu Heteronomien, anonymen, durch Sachzwang durchgesetzten Repressionen, dezentral, an vielen Orten parallel, in unterschiedlichen Graden, denn es gibt kein Zentrum (und keine Spitze) der Gesellschaft mehr.

Zugleich gibt es Möglichkeitsräume, Kontingenz. Sartre sagt treffend: zur Freiheit verurteilt, denn es ist mehr möglich, als je realisiert werden kann. Mit Luhmann ist man zu „Komplexitätsreduktion“ gezwungen, sonst wird das Individuum gelähmt, überwältigt von Angst. Komplexität kann durch Vertrauen reduziert werden, durch Systemvertrauen in funktionale Autorität.6 Dieses Vertrauen ist nicht mehr personalisierbar. Bourdieu betont einerseits stattdessen die Repression, ja symbolische Gewalt innerhalb jedes Feldes, ein immer enger werdendes Repressionsnetz. Andererseits verfügt jedes Feld über relative Autonomie gegenüber allen anderen Feldern. Das bietet auch die Chance, gegen Autoritäten eines Feldes rebellieren zu können, ohne andere zu tangieren – ein Teilaufstand sozusagen, ausgebremst durch moderne ‚Gewaltenteilung‘.

 

Anomie

 

A-nomisch, ohne Nomos, Ordnung, Sitte: Wem die Gesellschaft so erscheint, der ist auf sich geworfen. Im Zustand der Kontingenz, der Luhmann’schen Gesellschaft ohne Zentrum, ist das Individuum „in der Schwebe“. Das erzeugt Angst, Angst als Schweben in der Kontingenz. Mit Sartre und Adorno muss man diese Angst – Angst vor Verantwortung – bejahen; mit Luhmann kann man ihr durch Komplexitätsreduktion begegnen.

Aber auch Rebellion ist Komplexitätsreduktion – allerdings nicht des Ver-, sondern des Misstrauens. Im Idealtypus des „autoritären Charakters“ ist eine Tendenz erfasst, die erst heute richtig greift oder begriffen werden kann. Die aktuelle Autoritätskrise – die bis hin zu Eigensabotage, ja -destruktion gehen kann – ist selbst Element der modernen Gesellschaft, in der der Ruf des Rebellen nach Wiederherstellung alter Autoritäten die volle Befriedigung der Insubordination bietet, ohne die eigentlichen Strukturen anzutasten.

Moderne Gesellschaft ohne Zentrum – das heißt nicht, dass sie das Chaos des Anomischen ist, sondern dass sie Horizonte des Möglichen öffnet, die zu Freiheit und Entscheidungen zwingen. Als Dystopie erscheint dann der Rebell: Er versteht nichts von Ordnung – außer, dass man sich einer Gewalt unterwerfen muss und als Ventil der Destruktivität andere Angriffsziele attackiert. Aufklärung als Konformität missverstehend, immer angepasst und zugleich Individualität durch Rebellion, ja als Rebellion inszenierend, macht der Rebell aus der Menschenwürde eine große Schwierigkeit und aus der Ordnung sein endemisches Chaos der Gesellschaft.

 

Eva-Maria Ziege, geboren 1961 in Köln, Professorin für Politische Soziologie, Universität Bayreuth.

 

1 Max Horkheimer: Vorwort, Theodor W. Adorno / Else Frenkel-Brunswik / Daniel J. Levinson / R. Newitt Sanford: The Authoritarian Personality, New York 1950, S. IX [Übersetzung: Eva-Maria Ziege].
2 Erich Fromm: Studien über Autorität und Familie, herausgegeben von Max Horkheimer, Paris 1936.
3 Jean-Paul Sartre: Réflexions sur la question juive, Paris 1954.
4 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001.
5 Heinz Hartmann: Funktionale Autorität. Systematische Abhandlung zu einem soziologischen Begriff, Stuttgart 1964.
6 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 5. Aufl., Konstanz/München 2014.

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