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Eine voluminöse Biographie zeichnet ein differenziertes Bild eines Berufspolitikers der ersten Garde

Hanns Jürgen Küsters: Kai-Uwe von Hassel. Band 1: Aufstieg und Ministerpräsident 1913–1963; Band 2: Minister und Präsident 1963–1997, wbg Academic, Darmstadt 2023, 1.800 Seiten (Band 1 und 2, nur geschlossen beziehbar), 138,00 Euro.

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Im September 2020 erreichte die Otto-von-Bismarck-Stiftung ein Schreiben des Bildungsausschusses des Landtags von Schleswig-Holstein. Der Ausschuss bat um eine Stellungnahme zu einer Landtagsdebatte über die Antwort der Kieler Regierung auf eine Große Anfrage des Südschleswigschen Wählerbandes (SSW). Thema war die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit im Land zwischen den Meeren. Die Initiative des SSW wurde allgemein begrüßt; irritierend wirkte jedoch der von einigen Abgeordneten daraus abgeleitete Gedanke, ein in Aumühle unweit von Hamburg stehendes Kolonialdenkmal zu beseitigen, weil es einen Kommandeur der kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika zeigt, der 1904/05 als Kompaniechef am Völkermord an den Herero und Nama beteiligt gewesen war: Paul von Lettow-Vorbeck. Das Ansinnen des Ikonoklasmus konnte aus guten Gründen zurückgewiesen werden. Indes, bei näherer Beschäftigung mit der spätexpressionistischen Plastik des Bildhauers Walter von Ruckteschell traten Fakten zutage, die nachdenklich stimmten. So hatte die feierliche Enthüllung nicht etwa im Deutschen Kaiserreich, sondern in der Bundesrepublik stattgefunden, und zwar ausgerechnet am zehnten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Außerdem hatten die Organisatoren für die Festansprache keinen Geringeren als den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein gewonnen, Kai-Uwe von Hassel. Wie kam von Hassel dazu, der Einweihung eines, vorsichtig formuliert, aus der Zeit gefallenen Denkmals mit seiner Anwesenheit am 8. Mai 1955 Glanz zu verleihen?

Antworten auf diese – und mannigfache andere – Fragen findet man nun in einer zweibändigen Biographie, die der langjährige Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hanns Jürgen Küsters, verfasst hat. Auf Basis breitester Forschungen in sage und schreibe 35 nationalen respektive internationalen Archiven und der erschöpfenden Auswertung des veröffentlichten Schrifttums legt er ein ebenso monumentales wie luzides Werk vor, das sich von der Frage leiten lässt, welchen Beitrag von Hassel zur innen- sowie außenpolitischen „Implementierung und Stabilisierung der westlichen Demokratie in Deutschland“ geliefert habe (Bd. 1, S. 14).

Geboren 1913 in Deutsch-Ostafrika als Sohn eines aus Schleswig-Holstein stammenden Plantagenbesitzers, wuchs von Hassel nach der Enteignung der Eltern infolge der Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg in Glücksburg auf. Trotz einer entbehrungsreichen, von dem Verlust der Heimat und der Scheidung der Eltern überschatteten Jugend absolvierte er mit Erfolg das Abitur und kehrte nach einer landwirtschaftlich-kaufmännischen Lehre 1935 zu seinem Vater nach Ostafrika zurück, der dort wieder eine Pflanzung betrieb. Der Tod Theodor von Hassels und der wirtschaftliche Niedergang der Ländereien veranlassten den Sohn, eine Stelle bei einer Tochtergesellschaft der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft anzunehmen. Obwohl ursprünglich tief geprägt von den liberal-protestantischen Wurzeln und preußisch-adligen Idealen der Eltern, entwickelte von Hassel in den folgenden Jahren ein „antibritisches und antijüdisches Freund-Feind-Denken“ (Bd. 1, S. 122).

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geriet er in britische Gefangenschaft, durfte Afrika jedoch Anfang 1940 verlassen und wurde wenige Monate später zum Kriegsdienst eingezogen. Geblendet von den frühen militärischen Erfolgen Hitlers, glitt er mehr und mehr in eine unkritische Zustimmung zur nationalsozialistischen Politik ab. Erst die schwindende Hoffnung auf den „Endsieg“ und die in den letzten Kriegsmonaten hautnah erfahrenen Fronterlebnisse ließen ihn zu einem „Geläuterten“ mutieren (Bd. 1, S. 153). Erfüllt von „moralische[r] Schuld“ (Bd. 2, S. 884), kehrte von Hassel im September 1945 nach Glücksburg zu seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern zurück.

Von der britischen Besatzungsbehörde als „politisch unbelastet“ ausgewiesen (Bd. 1, S. 173), begann der Mitte 1946 der CDU beigetretene von Hassel eine politische Karriere, die ihn Ende 1947 als Bürgermeister von Glücksburg zunächst in die Kommunal- und Mitte 1950 als Landtagsabgeordneter in die Landespolitik führte. „Ehrgeizig, leistungsorientiert und aufopferungsvoll“ (Bd. 2, S. 885), so Küsters, übernahm er 1951 die Stelle des geschäftsführenden Landesverbandsvorsitzenden der CDU, errang 1953 einen Sitz im Bonner Bundestag und wurde nur ein Jahr darauf mit 41 Jahren Ministerpräsident in Kiel.

Küsters’ Bilanz des nun beginnenden zweiten Karriereabschnitts von Hassels fällt gemischt aus. Einerseits meisterte der konservative „Modernisierer“ (Bd. 1, S. 265) mit Bravour die großen Herausforderungen Schleswig-Holsteins als „‚Flüchtlingsland Nr. 1‘ für Vertriebene aus den Ostgebieten und ‚Armenhaus der Bundesrepublik‘“ (Bd. 1, S. 395). Andererseits setzte er beim Umgang mit NS-Belasteten allzu stur darauf, deren Integration in die demokratische Gesellschaft voranzutreiben. Dass sich von Hassel nach der Wiederwahl 1958 ungeachtet aller Erfolge beim Wiederaufbau des Landes einer Fülle von Krisen und Affären gegenübersah, hing zum Gutteil mit seinen „Diffamierungen und Ressentiments […] gegen politisch Verfolgte [des NS-Systems] und Emigranten“ (Bd. 1, S. 485) oder seinem „Umgang mit der ‚braunen Patronage‘“ (Bd. 1, S. 492) zusammen. Küsters’ Kritik lässt diesbezüglich an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Von Hassel habe mit seiner rein legalistisch argumentierenden, auf einen Schlussstrich abzielenden Politik „um des Machterhalts willen […] nach allen Seiten einen ausgleichenden, versöhnlichen Kurs“ verfolgt. Doch „Schuld“ müsse „Sühne und nicht nur Vergebung zur Folge haben“ (Bd. 1,

S. 604). Auch die von unverbrüchlichem Korpsgeist bestimmten Kontakte zu Lettow-Vorbeck und den Kameradschaften der „Ostafrikaner“ (Bd. 1, S. 414) sind aus Sicht des Autors nicht dazu geeignet, Milde walten zu lassen.

 

Auf der Hardthöhe

 

Nachdem ihm der Rücktritt von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß infolge der Spiegel-Affäre die Tür zur Bonner Hardthöhe geöffnet hatte, begann für von Hassel Anfang 1963 die dritte Phase seiner politischen Laufbahn. Sein Biograph testiert ihm abermals eine eher durchwachsene Leistungsbilanz. Als Ministerpräsident hatte sich von Hassel einen Namen als Verfechter der Westpolitik Konrad Adenauers gemacht und auch dessen konservativ-christliche Werte geteilt. In dem Anfang der 1960er-Jahre in der Bonner Republik entbrennenden Streit zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ stand er jedoch klar auf der Seite der Atlantiker um Ludwig Erhard, was Küsters sowohl mit von Hassels Wunsch nach „Abwehr eines wieder aufflammenden Nationalismus“ (Bd. 2, S. 408) als auch einem „in Teilen negativen Frankreichbild“ (Bd. 2, S. 900) erklärt. Den Interessen der Bundesrepublik war die damit verbundene „fast blinde Amerika-Gläubigkeit“ des „Anti-Gaullist[en]“ nur bedingt zuträglich (Bd. 2, S. 409). In einer der wichtigsten sicherheitspolitischen Fragen seiner Amtszeit, der Mitsprache Deutschlands beim Einsatz nuklearer Waffen, versagte von Hassel ausgerechnet jene Macht die Unterstützung, auf die er fest gesetzt hatte – die USA. Nicht eben souverän wirkte seine Haltung in der die Bundesrepublik erschütternden Starfighter-Affäre, kritisierte er die öffentliche Aufregung über die tödlichen Abstürze doch als „inszeniert“ (Bd. 2, S. 291). Als Erfolg bezeichnet Küsters hingegen den 1965 von Hassel unterschriebenen „Traditionserlass“, weil damit „erstmals der Schritt zur Definition des neuen Traditionsverständnisses der Bundeswehr gewagt“ (Bd. 2, S. 220) und „das neue Selbstverständnis der Soldaten“ gestärkt worden sei (Bd. 2, S. 887).

 

Der „Gentleman-Präsident“

 

Nach dem Rücktritt der Regierung Erhard musste von Hassel die Hardthöhe Ende 1966 wieder verlassen, behielt jedoch in der neu gebildeten Großen Koalition aus Proporzgründen als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte einen Sitz am Kabinettstisch. Anfang 1969 gab er den wenig geliebten Posten auf, um für die Bundestagspräsidentschaft in der Nachfolge von Eugen Gerstenmaier kandidieren zu können. Wenngleich seine Wahl mit nur zwei Stimmen Mehrheit wie ein „Denkzettel“ (Bd. 2, S. 485) wirkte, blieb ihm die hohe Stellung als dritter Mann im Staate auch nach den Bundestagswahlen vom September erhalten. Politisch dürfte der nun beginnende vierte Abschnitt seiner Karriere zu den erfüllendsten, privat hingegen zu den tragischsten zählen. Mit Stil und Noblesse verlieh der „Gentleman-Präsident“ (Bd. 2, S. 489) seinem Amt Würde und Ansehen, setzte eine dringend notwendige Parlamentsreform in Gang und führte den Bundestag durch die Schlachten um die Ostverträge – mit Geschick, aber nicht ganz unbeschädigt, wie die Ungereimtheiten bei der Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum gegen Willy Brandt belegen. Überschattet wurden diese Jahre für von Hassel von zwei privaten Tragödien: dem Tod seines Sohnes Joachim beim Absturz eines StarfighterJets 1970 und dem Suizid seiner Ehefrau 1971. Einfühlsam schildert Küsters, wie Elfriede von Hassel sich von ihrem der „Droge Politik“ (Bd. 1, S. 238) verfallenen Mann vernachlässigt gefühlt und ihre „physisch[en] und psychisch[en]“ Probleme vergeblich mit „Genussmittelkonsum zu verdrängen“ versucht hatte (Bd. 2, S. 333).

Die Eheschließung mit Monika Weichert bescherte von Hassel 1972 persönlich neues Glück. Auch politisch wagte er nach dem Verlust seines Präsidentenamts infolge des Sieges der SPD bei den Bundestagswahlen einen „Aufbruch zu neuen Ufern“ (Bd. 2, S. 615). Als Präsident der Europäischen Union Christlicher Demokraten (seit 1973), Präsident der Versammlung der Westeuropäischen Union (seit 1977) und Abgeordneter des direkt gewählten Europäischen Parlaments (seit 1979) profilierte sich der ehemalige „Atlantiker“ nun als überzeugter Anwalt der supranationalen europäischen Einigung.

Auch wenn er 1984 aus allen Ämtern ausschied – sein Bundestagsmandat hatte er bei den Wahlen 1980 verloren –, trat von Hassel nicht in den Ruhestand. Vielmehr intensivierte der „Elder Statesman“ fortan sein schon seit Jahren betriebenes gesellschaftliches Engagement, das er als Dienst an der „Bewahrung von Ordnung und Stabilität“ verstand (Bd. 2, S. 767). Besonderes Augenmerk richtete er auf die Förderung der von ihm 1968 gegründeten Hermann-Ehlers-Stiftung in Kiel, mit der er im Norden der Republik ein Bildungsangebot zu etablieren suchte, das „der linksgerichteten Gesellschaftskritik entgegenwirken und Kritik am Parlamentarismus abwehren“ sollte (Bd. 2, S. 538). Sein Streben nach einem Aufwuchs der staatlichen Zuweisungen führte den Christdemokraten pikanterweise in einen jahrelangen Kampf mit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, den er 1993 verlieren sollte. Am 8. Mai 1997 erlag von Hassel am Rande der Feier zur Verleihung des Karlspreises an Bundespräsident Roman Herzog einem Herzversagen.

 

Einsatz für die parlamentarische Demokratie

 

Küsters’ Von-Hassel-Biographie zeichnet ein stets faires und differenziertes, keineswegs kritikfreies Bild von einem „tüchtigen, arbeitswütigen, aber nicht überragend brillanten Berufspolitiker“ (Bd. 2, S. 906), der privat zu Egozentrik und patriarchalischem Denken neigte und inneren Ausgleich „in seiner Liebe zur Musik, bei der Gartenarbeit und als Hobbyfotograf“ suchte (Bd. 2, S. 891). Wie kaum ein anderer Politiker in der bundesrepublikanischen Geschichte vor ihm hatte von Hassel Ämter auf unterschiedlichsten Ebenen ausgeübt, der lokalen, kommunalen, nationalen und europäischen. Dennoch war der Mann, der sich zeitlebens als „deutscher Ostafrikaner“ fühlte (Bd. 1, S. 14), „kein Homo politicus“ (Bd. 2, S. 882), auch kein eiskalter Machtpolitiker. Was ihm an politischer Begabung fehlte, kompensierte von Hassel durch Selbstdisziplin, Lernbereitschaft und Tatkraft. Sein hauptsächliches „Verdienst“, so Küsters, sei es, für die parlamentarische Demokratie und deren innere wie äußere Sicherheit gefochten und dazu beigetragen zu haben, „dass nach dem Nationalsozialismus die Deutschen wieder Vertrauen in die Politik und Politiker fassen, in Europa und der Welt wieder Achtung zurückgewinnen“ (Bd. 2, S. 908). Eine Leistung, die kaum zu gering geschätzt werden kann.

Bedarf es aber zum Verständnis dieses „Berufspolitiker[s] der ersten Garde“ (Bd. 1, S. 7) einer 1.800 Seiten umfassenden Biographie? Auf diese vom Autor selbst(kritisch) aufgeworfene Frage gibt der Rezensent ganz in seinem Sinne eine doppelte Antwort: Nein, denn selbstverständlich hätte sich alles knapper darstellen lassen. Und zugleich ja, weil das exorbitante Quellenmaterial eine Fülle vollkommen neuer Erkenntnisse zutage gefördert hat, die nach einer ausführlichen Analyse verlangten. Bleibt zu hoffen, dass die Leserschaft nicht in Ehrfurcht vor der stupenden Forscherleistung von Küsters erstarrt und die Wissenschaft das Werk als Ansporn versteht, spezifischen Aspekten des politischen Wirkens von Hassels noch intensiver nachzugehen. Vielleicht kann dessen Lebensgeschichte sogar seiner Partei bei der Beantwortung der virulenten Frage behilflich sein, wie moderner Konservativismus heute in der CDU aussehen könnte – und wie nicht.

 

Ulrich Lappenküper, geboren 1959 in Datteln, Geschäftsführer und Vorstand der Otto-von-Bismarck-Stiftung, apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg.

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