Der Dialog zwischen Deutschland, der Europäischen Union (EU) und der Türkei erlebt in diesen Monaten eine bisher noch nicht gekannte Intensität. War das Verhältnis in den vergangenen Jahren eher ein freundliches Nebeneinander, bei dem die gemeinsame Mitgliedschaft in der NATO die wesentliche Konstante war, bekennen Politiker aus der EU nun offen, dass der Türkei für die Lösung der Konflikte im Nahen Osten und bei der Steuerung der Flüchtlingsbewegungen eine zentrale Rolle zukomme. Was hier und da als Schmeichelei oder gar „Kniefall“ vor der Türkei verunglimpft wird, ist in Wirklichkeit die Anerkennung eines geopolitischen Faktums, das die EU in den letzten Jahren aus dem Blick verloren hatte. Denn beide – die Türkei und die EU – sind aufeinander angewiesen. Das wird nun deutlicher denn je.
Auch von grundsätzlicher Kritik werden die neuen Kooperationsformate wie die ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen im Januar 2016 oder das EU-Türkei-Gipfeltreffen begleitet. Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen, deutsch-türkische Intellektuelle und nicht zuletzt Unterstützer der Anliegen der Kurden in der Türkei beklagen, dass eine vertiefte Zusammenarbeit mit der heutigen Türkei einem Ausverkauf europäischer Werte sowie demokratischer und rechtsstaatlicher Standards gleichkäme. Zu diesen Vorwürfen möchte ich im Folgenden Stellung nehmen. Offene Worte zwischen Partnern und verstärkte Zusammenarbeit in einzelnen Bereichen schließen sich nicht aus. Die deutsch-türkischen Beziehungen müssen sowohl besondere Belastungen, wie die aktuelle Fluchtbewegung, als auch Kritik aushalten können. Ich plädiere deshalb für ein differenziertes Türkeibild, bei dem eine Analyse der türkischen Innenpolitik und ihrer Bedingungen uns klarer aufzeigen kann, auf welchen Feldern die Türkei für uns ein wichtiger Kooperationspartner ist.
Größere Gegensätze
2015 war die Türkei durch zwei Wahlkämpfe geprägt, welche die inneren Spannungen der Gesellschaft so deutlich zutage treten ließen wie lange nicht mehr. Pole bilden dabei beispielhaft die junge säkulare Bevölkerung in Istanbul und der ländlich-konservativ geprägte Osten des Landes. Auch andere Gegensätze sind in der Türkei größer als bei uns: ein sehr verschiedener Grad an Autoritätsakzeptanz bei Jung und Alt, große Differenzen bei der Bewertung der Rolle der Religion sowie nicht zuletzt auch größere Wohlstands- und Bildungsunterschiede. Hier einen Interessenausgleich zu schaffen, ist ein schwieriger Balanceakt für jede türkische Regierung, der nicht alles entschuldigt, aber vieles erklärt.
Die Neuwahlen vom 1. November 2015, deren weitgehend friedlicher und korrekter Verlauf von unabhängigen OSZE-Beobachtern bestätigt wurde, brachten der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) die absolute Mehrheit der Stimmen. Dies ist Ausdruck des Wunsches der Mehrheit der türkischen Bevölkerung nach Stabilität und muss so akzeptiert werden. Deutschland und Europa sollten sich nun darauf konzentrieren, mit der neuen türkischen Regierung die beträchtlichen außenpolitischen Herausforderungen entschlossen und sachbezogen anzugehen.
Das deutsch-türkische Verhältnis lässt sich heute ohne einen Blick auf die große Zahl von drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland und 1,5 Millionen Rückkehrern in die Türkei nicht erklären. Hier liegt wohl das Fundament für die besonderen bilateralen Verbindungen, die heute tief in die deutsche Gesellschaft und ihr Wirtschaftsleben, in kulturelle Angebote bis hinein in familiäre Bindungen reichen.
Handels- und Bündnispartner
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und der größte ausländische Investor. Das Handelsvolumen betrug in den letzten Jahren stets über dreißig Milliarden Euro jährlich. Sowohl türkische Exporte nach Deutschland als auch deutsche Exporte in die Türkei verzeichneten in den letzten Jahren einen konsequenten Anstieg. Als ich im vergangenen Herbst die Präsidentin der Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute TÜSİAD (Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği), Cansen Başaran-Symes, traf, stellte sie klar, dass die türkische Wirtschaft in Richtung EU ausgerichtet sei. Hier lägen aus türkischer Sicht die Wachstumschancen und Perspektiven der Zukunft. Aus deutscher Perspektive ist die Türkei ebenfalls ein Markt der Zukunft. Die Bedeutung der Türkei zur Diversifizierung unserer Energieversorgung und als Transitland für Energielieferungen aus dem Iran, dem Irak oder dem Kaspischen Raum wird zunehmen.
Wenn die Türkei regelmäßig auf ihre prekäre geostrategische Lage aufmerksam macht, die sie nunmehr seit Jahren an der Konfliktlinie zu Syrien, dem Irak und dem Iran zu verkraften hat, so ist dies zugleich mit dem berechtigten Anspruch der Rückversicherung durch die NATO-Partner verbunden. Ankara erwartet von seinen Allianzpartnern in der NATO ausdrückliche Zeichen politischer und militärischer Solidarität. Dem wird Deutschland auf verschiedenen Gebieten gerecht. Auch deutsche Soldaten dienen auf türkischem Boden und lassen keinen Zweifel an deutscher Bündnistreue.
Stabilitätsanker in einer Konfliktregion
Wie Deutschland engagiert sich die Türkei stark im Europarat und in der OSZE. Die Bundesrepublik baut auf türkische Unterstützung während des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016. Das Land ist zentraler außenpolitischer Akteur und Stabilitätsanker in der konfliktreichen Region zwischen dem Schwarzen Meer, dem Persischen Golf und dem Mittelmeer. In der Vergangenheit hat die Türkei bewiesen, dass sie nach Israel unser verlässlichster Partner in der Region ist. Bei der Beilegung des syrischen Bürgerkrieges, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie bei der Lösung der Fluchtursachen in der Region kann der weitreichende Einfluss Ankaras für Deutschland von großem Nutzen sein.
Eine besondere Leistung erbringt die Türkei mit der Versorgung von mittlerweile etwa 2,5 Millionen Flüchtlingen – das sind mehr als in jedem anderen NATO-Staat. Die Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist zu beiderseitigem Nutzen und beruht auf Gegenseitigkeit. Heute muss die Kooperation unserer Länder auch darauf abzielen, die Lebenssituation der Flüchtlinge in der Türkei messbar zu verbessern. Mit sechs Milliarden Euro vonseiten der EU und den Mitteln der Londoner Geberkonferenz sollte dies heute nun möglich sein. Doch Geld allein wird der Türkei nicht helfen. Es ist nachvollziehbar, dass die Türkei bei den Flüchtlingen auch zahlenmäßig entlastet werden will. Im Gegenzug erwarten wir von Ankara die konsequente Bekämpfung des Schlepperunwesens an der türkischen Westküste und eine bessere Überwachung illegaler Einwanderung aus dem Iran.
Verhandlungen offenbaren Defizite
Die Notwendigkeit der Kooperation in der Fluchtursachenbekämpfung und bei der humanitären Flüchtlingsarbeit hat erneut eine Dynamik der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei entfacht. Aber auch wenn wir bilateral an historisch enge Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern anknüpfen, ist die Flüchtlingskrise nicht nur ein Problem Deutschlands oder der Türkei, sondern eben auch der EU. Es scheint daher richtig zu sein, einerseits die Türkei bei ihrem Einsatz für die Flüchtlinge zu unterstützen, andererseits aber auch über die Möglichkeiten einer weiteren Annäherung der Türkei an die EU zu sprechen. Die Eröffnung neuer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen bietet dabei die Möglichkeit, sehr konkret über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der EU und der Türkei zu sprechen. Besonders am Herzen liegt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dabei die Lage der Christen und der religiösen Minderheiten in der Türkei. Hier bestehen nach wie vor erhebliche Defizite. Nicht zuletzt durch die wachsende Verbreitung eines konservativen, streng ausgelegten Islam sind Christen in der Türkei wieder in wachsendem Maße benachteiligt. Genau deshalb ist es sinnvoll, weitere EU-Beitrittsverhandlungskapitel zu öffnen. Ich halte die beabsichtigte Öffnung der Kapitel 23 und 24, die sich den Themen Justiz, Grundrechte sowie dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit widmen, für zielführend. Beitrittsverhandlungen anhand konkreter Vorgaben der EU sind die beste Möglichkeit, Grundrechtsfragen, Menschenrechtsfragen, Fragen der Religionsfreiheit und Fragen der Pressefreiheit auf den Tisch zu legen und die rechtliche und tatsächliche Lage in der Türkei mit den Anforderungen der EU zu vergleichen. Am Grundrechtekanon der EU wird es keine Abstriche geben.
Der Beitrittsprozess selbst ist offen. So ist am Ende nicht ausgeschlossen, dass beide Seiten zu dem Ergebnis kommen, nicht die Mitgliedschaft der Türkei in der EU, sondern eine Privilegierte Partnerschaft sei der beste Weg. Schon heute kann festgehalten werden: Eine Türkei, die den Beitrittsprozess durchlaufen hat und den Acquis communautaire der EU adaptiert, würde sich deutlich von der Türkei unterscheiden, wie wir sie heute kennen.
Im Kontext der europäisch-türkischen Beziehungen stellt sich auch die Frage, ob die EU die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige im Schengen-Raum bereits in einem überschaubaren Zeitraum aufheben könnte. Die Voraussetzungen für Visaerleichterungen sind klar definiert, und die Verhandlungen sollten ursprünglich bis Ende 2017 abgeschlossen sein. Falls die notwendigen Maßnahmen nun schneller umgesetzt werden, steht jedoch meiner Meinung nach einer visafreien Einreise türkischer Staatsbürger zu einem früheren Zeitpunkt nichts entgegen. Wichtig ist dabei jedoch, dass die Türkei zuverlässig biometrische Pässe an ihre Staatsbürger ausgibt. Deren Kontrolle an den EU-Außengrenzen garantiert dann unsere Sicherheit auch besser als die aktuelle Visaregelung mit der Türkei.
Aussöhnung mit Kurden als Zeichen der Stärke
Deutschland und die EU haben ein Interesse an einer stabilen Türkei. Sorge bereitet, dass die Türkei innenpolitisch erneut in eine schwierige Situation geraten ist. Die Realität der Türkei wird heute von Anschlägen überschattet. So forderte die Detonation einer Autobombe am 13. März 2016 37 Leben. Dem gingen der dem „IS“ zugeschriebene verheerende Anschlag in Ankara am 10. Oktober 2015 mit 102 Toten und der Anschlag von Suruç mit über dreißig vorwiegend kurdischen Opfern am 20. Juli 2015 voraus. Letzterer führte zum Wiederaufflammen des Konflikts in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten im Südosten des Landes. Es ist aber auch angesichts der zahlreichen Kurden in Deutschland auch im deutschen Interesse, dass die türkische Regierung und die Kurden am Friedensprozess festhalten. Nur wenn dieser weitergeführt wird, kann die ohnehin komplizierte Lage entschärft werden. Es ist grundsätzlich legitim, dass die Türkei kurdischen Terrorismus verurteilt und sich gegen diesen zur Wehr setzt. Allerdings muss dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Nicht zuletzt aus Sicht der türkischen Regierung wäre es klug, auf diejenigen Kräfte im Land zuzugehen, die sich mit friedlichen Mitteln für eine politische Teilhabe der Kurden einsetzen. Wenn ein Aussöhnungsprozess gelänge, wäre dies auch über die türkische Landesgrenze hinaus ein positives Signal und ein Zeichen der Stärke der türkischen Regierung. Bedauerlicherweise ist derzeit zu beobachten, dass gerade der Kurdenkonflikt immer wieder dazu herangezogen wird, demokratische Grundrechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit einzuschränken. Stirbt jedoch die Pressefreiheit, stirbt die Demokratie und damit die Legitimation einer Regierung. Die türkische Regierung sollte souverän mit friedlicher Opposition und anderen Meinungen umgehen. Es wird stetige Aufgabe und Pflicht der deutschen Regierung sein, eine Lösung dieses jahrzehntelangen Konfliktes und weitere demokratische Reformen anzumahnen. Die deutsch-türkische Freundschaft verträgt auch klare Worte und verkraftet Meinungsverschiedenheiten. Wie erkannte schon Otto von Bismarck vor über 100 Jahren: „Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, daß sie niemals zerbrechen wird.“
Jürgen Hardt, geboren 1963 in Hofheim am Taunus, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2009 Abgeordneter des Deutschen Bundestages und seit September 2015 Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.