In Europa hat man höchst unterschiedliche Wege eingeschlagen, um sich mit den schlimmen Seiten der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In Frankreich brauchte man Jahrzehnte, um die Verbrechen unter dem Vichy-Regime – zum Beispiel die Deportation der jüdischen Bevölkerung – anzuerkennen. In Russland dauerte es fünfzig Jahre, bis sich Präsident Boris Jelzin bei den Polen für die Massaker von Katyn offiziell entschuldigte. In Spanien wählte man nach der Franco-Diktatur den versöhnlichen Weg von Amnestie und Amnesie. In Lateinamerika oder in Südafrika sind sogenannte Wahrheitskommissionen mit der Aufarbeitung der Gewaltexzesse in Militärdiktaturen oder Apartheitsregimen beschäftigt.
Unter den Völkern, die die Erinnerung an die Schattenseiten ihrer Vergangenheit immer noch unter Strafe stellen, ragen die Volksrepublik China, aber auch die Türkei heraus. Im kommunistischen Riesenreich wird das Geschichtsbild nicht nur vom Zentralkomitee dekretiert, sondern es existiert ein drakonisches Gedächtnis- und Erinnerungsverbot gegenüber heiklen Themen wie der opferreichen Kulturrevolution von 1966 oder dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989. Steht der chinesische Weg für die kommunistische Variante des Umgangs mit Geschichte, so löst die strikte Verweigerungshaltung der Türkei, den Genozid an den Armeniern auch hundert Jahre später nicht gebührend anzuerkennen, noch immer Unverständnis in Europa aus. Der Paragraf 305 des türkischen Strafgesetzbuches ahndete bislang die Anerkennung eines Völkermords an den Armeniern als staatsfeindliche Propaganda.
Stockende Aufklärung
„Es war noch keine ‚Industrie‘ wie Auschwitz“, pointiert Lukas Kieser, „wohl aber eine durchorganisierte ‚Manufaktur des Todes‘.“ Am 24. April 1915 begann der Genozid des Osmanischen Reiches an den christlichen Armeniern. Trotz einer langen, friedlichen Koexistenz zwischen beiden Ethnien und Religionen kam es zu systematischen „Umsiedlungen“, Verschleppungen, Deportationen, Todesmärschen von Frauen, Kindern und Greisen aus den armenischen Dörfern Anatoliens.
Bereits 1894 bis 1896 hatte Sultan Abdul Hamid armenische Untertanen zu Tausenden töten lassen. Bis Ende Juli 1915 waren alle armenischen Ansiedlungen im Osten, Südosten und in Zentralanatolien geräumt worden. Ein Jahr danach wurde verkündet, „die armenische Frage“ existiere nicht mehr. Zuvor hatten die armenischen Christen zehn Prozent der Einwohner Anatoliens gestellt. Insgesamt umfasste die armenische Minderheit im Osmanischen Reich 1,8 Millionen Menschen. Nach Gründung der Türkischen Republik waren es nur noch 300.000. Die Opferzahlen schwanken zwischen 800.000 und 1,4 Millionen. Heute leben nur noch 60.000 Armenier in der Türkei, bevorzugt in Istanbul.
Obwohl Frankreich und Großbritannien der Türkei seinerzeit Sanktionen und internationale Tribunale angedroht hatten, kam die Aufklärung der Deportationen und Massentötungen über Jahre nicht voran. Rolf Hosfeld hat in seinem Buch Operation Nemesis (2009, 2. Auflage) geschildert, wie von allen zaghaften Impulsen einer Aufarbeitung der Vergangenheit seit der Republikgründung 1922 nichts übrig geblieben ist. Verurteilt und hingerichtet wurden nur ein paar untergeordnete Chargen, die Hauptverantwortlichen konnten sich ins Ausland absetzen oder wurden von Mustafa Kemal Atatürk verschont, der den Engländern mit Geiselerschießungen drohte, falls es zu weiteren Todesurteilen des Kriegsgerichtshofs in Sachen Armenien komme.
Fluchtstrategien: verdrängen, vergessen, verleugnen
Noch nach der heutigen offiziellen Geschichtsschreibung der Türkischen Republik waren die Deportationen kriegswichtig. Umsiedlungen und ethnische Säuberungen seien einer legitimen Notwehr des Landes in existenzieller Gefahr zu Beginn des Ersten Weltkriegs gleichgekommen. Außerdem bezweifelt die Türkei bis zum heutigen Tag die Opferzahl. Die staatsnahe Geschichtsschreibung geht „nur“ von 300.000 Opfern aus. Viele Quellen sind bis heute nicht ausgewertet worden. Wer in der Türkei von einem „Völkermord“ an den Armeniern spricht oder schreibt, dem droht ein Verfahren nach Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen „Verächtlichmachung des Türkentums“.
Sibylle Thelen hat in ihrer Untersuchung Die Armenierfrage in der Türkei (2010) drei staatliche „Flucht“-Strategien ausgemacht: Erst sei man in das defensive Verdrängen geflüchtet, dann in das voranschreitende Vergessen, schließlich habe man als Strategie das offensive Verleugnen gewählt. Dabei ging die staatlich verordnete Leugnung des Genozids mit einer Tilgung sämtlicher Spuren der armenischen Geschichte einher. An türkischen Schulen wird uminterpretiert oder geschwiegen. Es gebe kein Kapitel, „dessen wir uns schämen, das wir verdrängen, vergessen oder vertuschen müssten“, erklärte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan noch vor zehn Jahren zum 90. Jahrestag des Genozids. Erdoğan lehnt öffentliche Symbolpolitik ohnehin ab. Aussöhnungsarbeit soll nach seinem Willen allein in Archiven und von Historikerkommissionen besorgt werden, also im Verborgenen bleiben.
Zivilgesellschaftliche Versuche, monumentales Scheitern
Seit dem 90. Jahrestag 2005 hat es einige zivilgesellschaftliche Initiativen in der Türkei gegeben, sich dem Genozid-Komplex zu nähern. Künstler wie Orhan Pamuk, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2005, und Elif Shafak drängen darauf, dass die Wunden der Vergangenheit endlich untersucht werden und den staatlichen Stellen das Deutungsmonopol über die Geschichte streitig gemacht wird. „Man hat hier 30.000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es“, bekannte Pamuk. Unterschriftenlisten („Ich entschuldige mich“) wurden gestartet.
Einen herben Rückschlag erlebten solche Bemühungen, als der türkischarmenische Schriftsteller Hrant Dink, der für eine neue „Ethik und Empathie“ in der Armenierfrage geworben hatte, am 19. Januar 2007 von einem jungen Fanatiker ermordet wurde, wegen „Herabwürdigung des Türkentums“. Hunderttausende folgten dem Sarg des Ermordeten.
2014 unternahm der Filmemacher Fatih Akin mit seinem preisgekrönten Streifen „The Cut“ einen weiteren Versuch, sich dem tabubehafteten Thema zu nähern: „Wir müssen das aufarbeiten, nicht der Westen.“
Immerhin konnte 2005 ein erster unabhängiger Kongress in der Türkei zur armenischen Frage stattfinden, auch wenn ihn türkische Ultranationalisten zu verhindern suchten. Außerdem wurde der Einsatz einer internationalen Historikerkommission angeregt. Und das erste türkisch-armenische Annäherungssignal fand auf dem Felde der Fußball-Diplomatie statt, als die Türkei und Armenien 2009 in eine WM-Qualifikationsgruppe gelost wurden und die beiden Staatspräsidenten Gül und Sarkissjan bei den friedlich verlaufenden Matches in Eriwan und Bursa zusammentrafen.
2006 schuf der türkische Künstler Mehmet Aksoy im nordostanatolischen Kars sein „Denkmal der Menschlichkeit“. Die dreißig Meter hohe Skulptur zeigt einen Menschen, der in zwei Teile gespalten ist. Erdoğan, damals Ministerpräsident, nannte das steinerne „Denkmal der Menschlichkeit“, das weithin sichtbar in den Himmel ragt, „monströs“ und ordnete seinen Abriss an. Es beschmutze die Würde des türkischen Staates. Stattdessen schlug der türkische Außenminister Egemen Bağış die Errichtung eines „Museums gemeinsamer Schmerzen“ vor. Danach werden die ermordeten Armenier „nur“ als Opfer eines Bürgerkrieges innerhalb des Osmanischen Reiches angesehen, der auch Tausende Türken das Leben gekostet habe. Auch ein geplantes Mahnmal, das neben dem UNO-Gebäude in Genf auf den Armenier-Völkermord hinweisen sollte, führte zu Protesten und Interventionen der türkischen Diplomatie auf allen Ebenen – sie wollte erreichen, dass das Denkmal an eine weniger exponierte Stelle verlegt wird.
Ungünstige Zeiten für ein Armenien-Gedenken
Der Genozid an den Armeniern jährt sich 2015 zum hundertsten Mal. Erst im April 2014 machte die türkische Regierung ein Zugeständnis, als Premierminister Erdoğan die Armenier mit einer offiziellen Beileidsbekundung überraschte. Das türkische Volk teile das Leid der Armenier in Bezug auf das Jahr 1915. Doch auch Türken seien Opfer gewesen. Der armenische Präsident nahm an und attestierte, dass die Türken nicht mehr die Feinde der Armenier seien. Dennoch beharrte Erdoğan auf der türkischen Position, einen geplanten Genozid an den Armeniern habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Als die französische Nationalversammlung unlängst ein Gesetz verabschiedete, das die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe stellt, sprach Erdoğan von einem „Massaker an der Meinungsfreiheit“.
Der Soziologe Claus Leggewie hat in seinem Projekt über eine globale, europäische Erinnerung mehrere Kreise an „transnationalen Erinnerungen“ hervorgehoben, die in ein kollektives europäisches Gedächtnis einfließen müssten. Ausgehend vom Holocaust als „negativem Gründungsmythos“ hätte eine multinationale Erinnerungskultur das Thema Flucht und Vertreibung als gesamteuropäisches Trauma zu begreifen, den Sowjetkommunismus in seiner verbrecherischen Dimension zu erfassen und die europäischen Kolonialismusverbrechen wieder ins Blickfeld zu rücken. Als bislang weißer Fleck in Bezug auf eine ungeschönte Aufarbeitung der Schuldfrage sowie der europäischen Verstrickung darin – insbesondere der deutschen – bleibt das Streitthema Armenien.
Doch die Armenier haben mit ihrem legitimen Gedenkanspruch immer noch schlechte Karten. Denn die grassierende Erinnerungskultur ist massiv in die Kritik geraten, ein wachsendes Unbehagen an Geschichtspolitik ist spürbar, von einer „Gedenkerosion“, ja „Gedenkindustrie“ ist abfällig die Rede. Kritiker verwerfen eine „Sorry-Kultur“, die sie für genauso fragwürdig halten wie den Opferkult und Ruhmeshallen. Außerdem lässt der Vormarsch des Rechtspopulismus in Europa eher einen Boom an demagogischem Geschichtsrevisionismus als eine begrüßenswerte Aufklärungs- und Anerkennungswelle erwarten.
Schon 2010 hat gerade die armenische Gemeinde in Deutschland dieses neuerliche Unbehagen zu spüren bekommen: Sie forderte ein Mahnmal „im Blickfeld des Berliner Reichstages“, „das an die deutsche Mitverantwortung erinnern“ soll. Deutschland habe damals „als engster Verbündeter der Türkei“ dem Töten „tatenlos zugesehen und jede Hilfe verweigert“. Der Historiker Götz Aly verwarf diesen Vorschlag in der Berliner Zeitung mit bitterbösem Spott: „Wie wäre es mit je einem Zentralmonument für die ermordeten Indianer, für die von französischen Revolutionären massakrierten Girondisten, für die von Kommunisten liquidierten Kulaken oder für die von Belgiern zu Hunderttausenden hingeschlachteten Kongolesen? Weitere Vorschläge nimmt das NKGMGaZ (Nationales Komitee für das Größte Mordgedenken aller Zeiten) jederzeit entgegen.“ So bekämen wir „die lang ersehnte Massenmord-Promenade rund um den Bundestag“. Im Jahre 100 nach den Ereignissen finden sich hierzulande selbst solche drastischen Kommentare nicht mehr. Beim Genozid an den Armeniern gibt es in Deutschland immer noch einen erheblichen Nachholbedarf an Erinnerungskultur.
Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, Hörfunkautor beim Deutschlandfunk und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin.