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Glücksgriff oder Sanierungsfall?

Das Grundgesetz und die bundes­staatliche Ordnung

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Das Grundgesetz: „Glücksgriff oder Sanierungsfall“? Diese Frage wurde bereits vor zehn Jahren dem Staatsrechtler Christoph Möllers gestellt.1 Seine Antwort fiel differenziert aus: Er betonte, das Grundgesetz sei eine vorzügliche Verfassung, es entwerfe sogar eine seit vielen Jahren für andere Staaten exemplarische Rechtsordnung. Insofern sei es ein Glücksfall – mit Langzeitwirkung: seit nunmehr siebzig Jahren! Aber der Staatsrechtler erlaubte sich auch einen kritischen Blick auf manche institutionelle Lösung, namentlich die bundesstaatliche Ordnung und hier besonders auf die – nicht nur aus seiner Sicht – problematischen Verantwortungsstrukturen. Klare Verantwortlichkeiten sind für die Wahrnehmung von Demokratie von zentraler Bedeutung. Das Grundgesetz ist also kein Sanierungsfall – aber reformbedürftig schon?

Niemand stellt heute die institutionellen Grundentscheidungen, die der Parlamentarische Rat 1949 getroffen hat, ernsthaft infrage. Das Grundgesetz gewährt einen stabilen Ordnungsrahmen, der sich jedoch unter den sich permanent verändernden gesellschaftlichen Bedingungen weiterhin täglich neu bewähren muss.

Auch im freiheitlichen Verfassungsstaat gilt: Semper reformanda! Anpassungen müssen vorgenommen werden, wenn die Umstände sich ändern; aber ohne zu übertreiben. Es braucht Maß und Mitte. Wie bei allen Reformbemühungen gibt es auch bei der Fortschreibung von Verfassungsgrundsätzen keine perfekte Lösung. Der Verzicht auf Perfektionismus ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung zur Weiterentwicklung. Sie impliziert die Einsicht, dass wir immer nur besser werden können – im Sinne von trial and error, wie es Karl Popper vertreten hat.

Zur Realität gehört auch, dass Veränderungen manchmal nur in kleinen Schritten möglich sind. Sie führen trotzdem zum Ziel. Allerdings müssen sie in die richtige Richtung gehen, an Regeln gebunden sein. Auch wenn wir nur schrittweise vorangehen können, bleibt es von fundamentaler Bedeutung, dass die Entscheidungen in sich systemisch stimmig sind. Das fordert verantwortungsvolle Ordnungspolitik von uns.

 

Wust an verschränkten Verhandlungsarenen

 

Im „realexistierenden“ Föderalismus offenbart sich das Problem: Weil wir nicht die Kraft zum großen Schritt haben, also bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern die Aufgaben-, Ausgaben- und Einnahmenverteilung zwischen den föderalen Ebenen grundsätzlich neu zu gestalten, gehen wir fortwährend kleine Schritte. Die Verschränkung und Kooperation in den föderalen Beziehungen hat sich dadurch im Laufe der Jahrzehnte zu einer „Politikverflechtungsfalle“ entwickelt. Darauf hat der Politik- und Rechtswissenschaftler Fritz Scharpf bereits 1985 hingewiesen.2 Begleitet vom Ausbau der Mischfinanzierungen und steigender Finanzflüsse des Bundes an die Länder, haben wir uns dadurch in eine weitgehende politische Unbeweglichkeit und Handlungsunfähigkeit manövriert. Bund und Länder einigen sich aufgrund des hohen Kooperationsaufwands am Ende nur noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner – zulasten der Problemlösung.

Oftmals sind politisch bedingte Blockaden Ursachen für die scheinbare Regelungsunfähigkeit. Das gilt etwa für die Reform der Grundsteuer, mit der sich der Finanzminister derzeit befassen muss und bei der er sich mit entgegengesetzten Positionen einzelner Bundesländer konfrontiert sieht, die teilweise Blockaderechte innerhalb der jeweiligen Regierungskoalitionen in Anspruch nehmen. Ein Beispiel ist die Reform der Erbschaftssteuer in der vergangenen Legislaturperiode: Damals ließ die Vorgabe, einerseits keine Erhöhung der Gesamtbelastung zuzulassen und andererseits ein geringeres Steueraufkommen für die Bundesländer zu vermeiden, den Entscheidungsspielraum nahe null tendieren.

Gelebter Föderalismus bedeutet heute zu oft Kompetenzwirrwarr, diffuse Verantwortlichkeiten, einen Wust an miteinander verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Finanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle sind für alles zuständig und niemand ist für irgendetwas verantwortlich.

 

Ausdruck des schlechten Gewissens

 

Nach Artikel 70 Grundgesetz haben die Länder das Recht der Gesetzgebung – soweit das Grundgesetz dem Bund keine Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Eine irritierende Aussage, wenn man um die tatsächlichen Verhältnisse weiß. Roman Herzog hat als Präsident des Bundesverfassungsgerichts bereits 1992 beim Festakt zum vierzigjährigen Bestehen des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart ausgeführt, dass der Bund seine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz derart exzessiv in Anspruch nehme, dass den Ländern zu wenig Raum für Eigengestaltung bliebe. Aus Ausnahmen ist in der Verfassungswirklichkeit das Gegenteil geworden. Daran konnten alle Reformbemühungen bislang nichts substanziell ändern. Parallel dazu hat sich die politische Wirksamkeit der Länder auf den Bundesrat verlagert, wo sie Einfluss auf die Angelegenheiten des Bundes nehmen. Das bedeutet Beteiligung statt Gestaltung. Denn ein größeres Maß an Eigenständigkeit der Länder geht damit nicht einher.

Das Grundgesetz räumt den Ländern überall dort ein Mitspracherecht ein, wo ihre Interessen durch Bundesgesetzgebung berührt werden. Diese sinnvolle Regelung zustimmungspflichtiger Gesetze ist schleichend ausgedehnt worden – mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts. Das befand 1958, schon eine einzige zustimmungspflichtige Vorschrift mache die Zustimmung zum gesamten Gesetzeswerk notwendig.3 Hinzu kommt die Kooperation zwischen den Ländern. Dabei unterziehen die Länder häufig das, was seitens des Bundesgesetzgebers nicht vereinheitlicht wird, einer freiwilligen Angleichung: neben den Ministerpräsidentenkonferenzen in den Fachministerkonferenzen und in Hunderten Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen. Diese sogenannte „dritte Ebene“ ist in der Verfassung nicht vorgesehen, und sie ist – zugespitzt formuliert – ein Stück weit Ausdruck des schlechten Gewissens eigentlich zuständiger Länder, dem Wunsch in der Bevölkerung nach Vereinheitlichung zu begegnen.

Zur komplexen bundesstaatlichen Realität gehört der Widerspruch, dass wir Deutsche zwar einerseits in der lokalen und regionalen Vielfalt Geborgenheit suchen, andererseits jedoch ständig nach zentralen, einheitlichen Lösungen verlangen. Dieser Widerspruch wird in den Diskussionen um die Bildungspolitik besonders deutlich – inklusive zweier Reformkommissionen zum Föderalismus, die in Zusammensetzung, Arbeitsweise und Effizienz ihrerseits Beispiele für die skizzierte Problematik von immer größerem Perfektionsdrang bei immer geringerer Effizienz sind.

Derzeit wird wieder einmal über Investitionen im Bereich Bildung debattiert. Diese sind dringend notwendig, haben jedoch eine Nebenwirkung: Sie stärken die Rechte des Bundes. Das ist einerseits richtig, weil damit das ordnungspolitische Prinzip umgesetzt wird, dass derjenige, der das Geld zur Verfügung stellt, auch über seine Verwendung entscheiden soll. Das verlangt die Budgethoheit. Andererseits geht dies zulasten einer klaren föderalen Kompetenzabgrenzung und schwächt die Eigenverantwortlichkeit der Länder.

 

Besinnung auf bewährte Grundsätze

 

Wenn Baden-Württemberg und Bayern als Folge des Streits um den Digitalpakt nun das Bewusstsein für einen lebendigen Föderalismus stärken wollen, freut mich das, besonders wenn es dazu führt, sich wieder auf zwei bewährte Grundsätze zu besinnen.

Erstens: auf den Wettbewerb, ohne den Föderalismus keinen Sinn ergibt. Allein der Wettbewerb zwischen den Ländern zeigt, wo die bessere Lösung liegt, welche Politik das Vertrauen der Bürger eher rechtfertigt als andere. Der Begriff des Wettbewerbsföderalismus darf deswegen auch nicht als Schimpfwort aufgefasst werden.

Und zweitens: Wer politisch handelt, muss dafür auch erkennbar Verantwortung tragen. Entscheidungs- und Finanzierungszuständigkeiten dürfen nicht zu weit auseinanderfallen. Wer für eine Sache zuständig ist, sollte auch für die dafür benötigten Mittel verantwortlich sein. Und die Verantwortung für die Finanzierung sollte in der Regel einhergehen mit der Möglichkeit, Art und Umfang der Aufgabe weitgehend selbst zu bestimmen. Wo das nicht der Fall ist, werden Anreize möglicherweise falsch gesetzt.

Mein Eindruck ist allerdings, dass die Mehrheit der Länder von beidem bislang nichts hören wollte. Sie wollten weder zusätzliche Gestaltungskompetenzen, die mit einem Mehr an Verantwortung einhergehen, noch ein Mehr an Wettbewerb. Wenn es jedoch nicht gelingt, die Bürger davon zu überzeugen, dass es ein Vorteil ist, nicht alles zu vereinheitlichen, dann gerät die Legitimation des Föderalismus in Gefahr. Dabei wird in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung eine föderale Ordnung „from the bottom up“ wichtiger denn je. Um der freiheitlichen Demokratie Stabilität zu verleihen, durch Bindungen und Zugehörigkeitsgefühl. Und weil Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen, die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären, der gedankliche Schlüssel ist, um auch im globalen Rahmen ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.

Wir müssen für uns die wesentlichen Fragen beantworten, ob wir Unterschiede grundsätzlich als einen Vorteil sehen, als Bereicherung. Oder ob wir im Zweifel lieber auf Einheitlichkeit setzen. Wollen wir alle an allem beteiligen, alle für alles zuständig sein, oder wollen wir, dass jeder in eigener Verantwortung seinen Bereich auch selbst gestalten kann? Letzten Endes: Wollen wir einen echten Gestaltungsföderalismus oder einen kooperativen Zentralstaat im föderativen verfassungsrechtlichen Gewand?

Im Übrigen ist zweifelhaft, ob der Einfluss der Ländergesamtheit auf die Bundespolitik von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes in diesem Ausmaß eigentlich beabsichtigt war. Im Bundesrat wirken die Länder als Verfassungsorgan, als föderatives Bundesorgan direkt an Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Über die Ministerpräsidentenkonferenz, von der im Grundgesetz nirgends die Rede ist, koordinieren sie wiederum ihre eigenen Interessen gegenüber dem Bund. Was das heißt, wenn die Ministerpräsidenten der sechzehn Länder mit ihrer eigenen Staatsqualität dem Bund gegenübersitzen, habe ich lange genug erlebt. Längst kommt dabei der Ministerpräsidentenkonferenz eine zentrale Entscheidungs- und Verhandlungsposition zu – zulasten des Bundesrates und oft auch zulasten des Bundes. Hier werden eigentlich strenge Unterscheidungen zunehmend verwischt, und es wird eine Problematik deutlich, die wir früher schon beim Spannungsverhältnis zwischen Tarifautonomie und Mitbestimmung gesamtgesellschaftlich diskutiert haben: dass in den Verhandlungen eine Seite auf beiden Seiten des Tisches vertreten ist.

 

Über Alternativen nachdenken

 

Freiheitliche Verfassungen sollen notwendige Veränderungen ermöglichen, ohne sich selbst verändern zu müssen, heißt es. Mit Blick auf die bundesstaatliche Ordnung bedeutet das, sich in der Verfassungswirklichkeit wieder stärker auf die Prinzipien zu besinnen, nach denen das Grundgesetz einst formuliert wurde.

Aber wir sollten auch die Kraft dazu aufbringen, immer wieder einmal mehr ändern zu wollen, als uns möglich erscheint. Für politische Führung reicht es auf Dauer nicht aus, uns in der Wirklichkeit unserer Koalitions- und Konsensbildung, bei der der Bundesrat bisweilen als ein Blockadeinstrument fungiert, immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Womöglich braucht es doch einmal den großen Schritt, ohne deshalb alles über den Haufen zu werfen.

Die föderale Ordnung gehört zu den historischen Grundtatsachen der Deutschen und ist das Organisationsprinzip unseres Staates. Aber der Föderalismus ist kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Es gibt andere dezentral organisierte Staaten wie die USA oder die Schweiz, wo im Prinzip jede staatliche Ebene ihre eigene Gesetzgebungszuständigkeit hat und für den Vollzug dieser Gesetze verantwortlich ist. Wenigstens über solche Alternativen zur föderalen Verflechtung, wie wir sie kennen, nachzudenken: Diese Anstrengung sollten wir siebzig Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes nicht scheuen.

 

 

1   Glücksgriff oder Sanierungsfall? 60 Jahre Grundgesetz. Christoph Möllers (und Eckart Conze) im  Interview  mit  dem  Deutschlandfunk,  
     24.05.2009,  www.deutschlandfunkkultur.de/ gluecksgriff-oder-sanierungsfall-60-jahre-grundgesetz.1270.de.html?dram:article_id=191117
    [letzter Aufruf am 12.02.2019].

2   Fritz W. Scharpf: „Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich“, in: Politische
     Vierteljahresschrift, 26. Jg., Nr. 4, 1985, S. 323–356.

3  BVerfGE 8, 274 (294). Vgl. auch Marcus Höreth: „Föderalismusreform in der Bewährungsprobe unter Schwarz-Gelb. Warum der Blick zurück die
​​​​​​​    Prognose des Scheiterns erlaubt“, in: Julia von Blumenthal / Stephan Bröchler (Hrsg.): Föderalismusreform in Deutschland. Bilanz und
​​​​​​​    Perspektiven im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 127.

 

Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg im Breisgau, Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands, 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, 1989 bis 1991 und 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern, 2009 bis 2017 Bundesminister der Finanzen, seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestages.

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