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Hinterm Bindestrich geht's weiter

Über eine verhältnismäßig unfallfreie Zwangsehe

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Siebzig Jahre Nordrhein-Westfalen. Gnadenhochzeit. Mein HERZLICHER GLÜCKWUNSCH kommt geringfügig verspätet, also NACHTRÄGLICH. Einigermaßen pünktlich wäre er Ende August eingegangen, aber – jetzt mal unter uns Erwachsenen – nach siebzig Jahren sollte es auf ein paar Tage mehr doch wohl nicht ankommen.

Zum anderen bin ich mir meiner Herkunft und der mit ihr verbundenen Pflichten bewusst. Als lebenslänglicher Insasse des östlichen Ruhrgebietes, als West-Westfale also, ist es selbstverständlich meine vornehme Aufgabe, auch und gerade anlässlich des 70. Hochzeitstages des Bindestrich-Bundeslandes das Vorurteil zu bestätigen, dass der Westfale immer ein bisschen zu lange auf der Leitung steht. Oder so gesagt: Es kann schon mal was dauern, bis er was merkt. Aber dann – dann merkt er was – und das merkt er sich dann auch. Diese Eigenschaft macht ihn ja so attraktiv für den rheinischen Ehepartner, dem gar nicht bewusst ist, dass er im Zustand der Gnade lebt. Nichts zu merken und trotzdem unbeschwert durch den Tag karnevallen zu dürfen, weil der andere mit zuverlässiger Verspätung in den Terminkalender guckt: Das ist das Erfolgsrezept einer von der britischen Besatzungsmacht vor siebzig Jahren verordneten Zwangsehe.

Der Wissenschaftsbetrieb ist sich da nämlich weitgehend einig. Nordrhein-Westfalen ist ein Kind des Kalten Krieges. Das Bundesland wurde von der Siegermacht Großbritannien gegründet, und das heutige NRW-Gebiet gehörte zur Britischen Besatzungszone. Die Briten hielten die alliierte Sowjetunion für eine massive Gefahr und befürchteten eine kommunistische Unterwanderung des Ruhrgebiets. Also ordneten sie eine neutralisierende Zwangsheirat der Westfalen mit den überwiegend katholisch veranlagten Rheinländern an. Soweit die Lehrmeinung.

On the other hand machen die Briten ja auch gerne mal einen Witz. Möglicherweise wollten sie sich also einfach nur ein wenig amüsieren, als sie mit ihrer „Operation Marriage“ zwei geografisch zwar benachbarte, sich wesensmäßig aber eher antipodisch gegenüberliegende Völker verhochzeiteten.

Das ist nun siebzig Jahre her, und wenn ich dem rheinischen Ehepartner jetzt zur Gnadenhochzeit gratuliere, dann weiß ich, dass das für diesen nur von untergeordnetem Interesse ist. Ich bin mir darüber im Klaren, dass der ideelle Gesamtrheinländer nach wie vor ein ungünstiges Schicksal dafür verantwortlich macht, dass er mit seinem Zwangsgatten so oft in einem Atemzug genannt wird: Nordrhein-Westfalen!

Nein, wenn der Rheinländer denkt, dann denkt er keinesfalls daran, dass ihn und den Westfalen ein Bindestrich zusammenhält. Er lebt in einem mentalen Eigenkosmos. Er denkt, wenn er denkt, allenfalls, dass ihn und den Gatten Welten trennen, also Gräben, Flüsse, Gebirge, Zeitzonen, Kontinente; dass möglicherweise sogar ein exklusiv für die Schöpfung des Rheinlands zuständiger Haupt-Weltenmacher an seiner Schöpferscheibe einen eigenen Globus für ihn getöpfert hat. Einen Leuchtglobus selbstverständlich, einen alles andere überstrahlenden, einen also, neben und unter dem irgendwelche Randerscheinungen in einem nachtschwarzen Schatten versinken. Oder mal so gesagt: nicht existieren.

Ich weiß also, liebe Rheinländerinnen, liebe Rheinländer: Es ist nicht weiter wesentlich für Euch, aber aus gegebenem Anlass möchte ich mich heute mal ganz kurz in Euer regelmäßig an den engen Grenzen des nördlichen Rheinlands scheiterndes Navigationssystem einloggen. Glaubt es mir einfach: Westfalen ist keine geografische Einbildung. Ihr findet es hinter dem Bindestrich. Es grenzt nicht an den Irrsinn, es grenzt an das Rheinland, und das kommt nur manchmal aufs Selbe raus.

Und seid Euch gewiss: Auch wenn der Westfale es oft geschickt hinter einer unergründlichen, wie mit sauerländischen Schieferschindeln verkleideten Gesichtsfassade zu verbergen versucht – der Rheinländer übt eine starke, fast erotische Anziehungskraft auf ihn aus. Westfalen, die auf Rheinländer starren, sind fasziniert von deren weltläufiger Leichtigkeit und ihren unüberhörbaren akustischen Emissionen. Und eine der größten Herausforderungen für den Westfalen ist es, daraus die Partikel herauszufiltern, die von Belang sind.

Gegensätze ziehen sich tatsächlich an. Der eine liebt den anderen für das, was er selbst nicht hat. Schon der Düsseldorfer Heinrich Heine wusste, dass die Westfalen „sentimentale Eichen“ sind. Also stämmige, tiefwurzelnde und zartfühlende Wesen. Speziell Letzteres kann man dem Rheinländer wirklich nicht vorwerfen. Er durchflutet das, was er für die Welt hält, mit einer nicht enden wollenden Woge seines rheinischen Frohsinns. Dieser universell einzigartigen Mischung aus tiefgründiger Intellektualität und subtiler Hochkomik. Da bleibt dem Westfalen nichts anderes übrig, als mit angemessener Verspätung bewundernd, wie frischverliebt auf die Knie zu sinken und geduldig und demütig zu hoffen, dass auch die nächsten siebzig Jahre einigermaßen unfallfrei vergehen mögen.

 

No Loreley, no cry

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so heiter bin.
Ein Pärchen aus hiesigen Breiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist schwül und es dunkelt. Man sitzt in erhitzter Natur.
Sie ist nicht zufrieden, es schunkelt zu sehr ihr das Boot auf der Ruhr.

Die stöhnende Schöne schwitzet. Es ist ihr recht sonderbar.
„Watt is jezz, ich denke du tritts et?
Jezz komm ma zu Potte und fahr
datt dämliche Tretboot da drüben an’ Steg!“
Er kennt das Geschrei. Es ist die sattsam bekannte,

gewöhnliche Melodei.

Der Schiffer im kleinen Schiffe fügt sich zum Schein ins Geschick.
Dann formt er die Rechte zum Griffe und schmeißt seine Schöne in’ Schlick.

Ich glaube, nur so konnt’s gelingen, von Anfang an plante er nur,
die Laute zum Schweigen zu bringen beim Tretbootfahrn auf der Ruhr.

Fritz Eckenga, in: Mit mir im Reimen, Verlag Antje Kunstmann, München 2015, S. 55.


Fritz Eckenga, geboren 1955 in Bochum, Kabarettist, freier Autor und Kolumnist in Radio und Presse. Letzte Buchveröffentlichung: „Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum“, Edition Tiamat, Berlin 2016.

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