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Hoffen auf die Weltgemeinschaft

Deutschland und die Vereinten Nationen

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Die vier Jahre der Trump-Regierung waren keine guten Jahre für die Weltgemeinschaft. Die US-Regierung war auf das eigene Land ausgerichtet: „America First“. Das Wohlergehen der internationalen Gemeinschaft, die Beachtung der Regeln, die sich diese Gemeinschaft gegeben hat, waren – wenn überhaupt – von untergeordneter Bedeutung. Die lange Liste ist bekannt: Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen, der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), dem Menschenrechtsrat, dem Iran-Abkommen. Völkerrechtlich verbindliche Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN) wurden ignoriert: Die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, die Anerkennung der territorialen Souveränität Israels über die Golanhöhen und Marokkos über die Westsahara verstießen gegen internationales Recht.

China gerierte sich in dieser Zeit als Retter der Weltgemeinschaft, verteidigte „Paris“ und die WHO. Aber auch China scheute – bei fortwährender Bekundung seiner Unterstützung des internationalen Rechts und des Multilateralismus – nicht davor zurück, das Völkerrecht mit Füßen zu treten: Es setzte seine Aggression im Südchinesischen Meer fort, beendete einseitig den vereinbarten Sonderstatus von Hongkong, beging massive Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Minderheiten, insbesondere mit den Uiguren. Humanitäre Notlagen und die Umsetzung humanitären Völkerrechts sind für China sekundär gegenüber der „nationalen Souveränität“ menschenverachtender Gewaltherrscher: So unterstützte es 2020 mit seinem Veto im VN-Sicherheitsrat Russland bei der Verhinderung einer von Deutschland und Belgien eingebrachten Resolution zur breiten Versorgung von Flüchtlingen im Norden Syriens.

Russlands Politik veränderte sich während der Trump-Jahre nicht: Neben der fortdauernden Unterstützung des menschenverachtenden Assad-Regimes setzte es die völkerrechtswidrige Besetzung von Teilen der Ukraine fort, entsandte Söldner und exportierte Waffen nach Libyen – unter Verstoß gegen von Russland selbst mitverabschiedete Resolutionen des VN-Sicherheitsrates.

Mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden hat sich die Stimmung verbessert. Das Bekenntnis der neuen US-Regierung zum Multilateralismus und zur regelbasierten internationalen Ordnung klingt wohltuend in deutschen Ohren. Viele „Fehltritte“ Trumps wurden korrigiert; die Weltgemeinschaft kann aufatmen. Aber können wir uns darauf verlassen, dass die Trump-Jahre ein einmaliges Ereignis bleiben, ein „Unfall“ der Geschichte? Die knappen Mehrheitsverhältnisse im Kongress und die polarisierte innenpolitische Stimmung in den USA lassen einen solchen Schluss nicht zu. Deutschland und Europa dürfen sich nicht zu sicher fühlen. Klar ist, dass sich die Zeiten, in denen die USA die Rolle des Weltpolizisten spielten, nicht mehr wiederholen werden. Unabhängig von der weiteren Entwicklung in den Vereinigten Staaten müssen Deutschland und Europa zur Wahrung ihrer Interessen immer mehr aus dem Windschatten der USA treten, die in Sonntagsreden angekündigte Übernahme von mehr Verantwortung in die Tat umsetzen.

 

Orientierungslinien deutscher Außenpolitik

 

Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg der regelbasierten internationalen Ordnung verschrieben. Als Verursacher dreier verheerender Kriege im Laufe eines Dreivierteljahrhunderts stand Deutschland 1945 in der Pflicht einer Wiedergutmachung und der Sicherstellung, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Die westlichen Alliierten förderten und sicherten diese Neuausrichtung: Das von ihnen abgesegnete Grundgesetz hat sich bewährt, Deutschland ist ein Rechtsstaat. Als größte Errungenschaft der Nachkriegszeit hat sich ohne Zweifel die Europäische Union (EU) herausgestellt. Anstatt Konflikte kriegerisch zu lösen, werden Streitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ausgetragen. Auf dem Gebiet der Europäischen Union herrscht länger Frieden als jemals zuvor in der Geschichte. Die Grundlage dieses Erfolges – eine Ordnung gestützt auf das Recht – war stets Orientierungslinie deutscher Außenpolitik, insbesondere auch bei den Vereinten Nationen.

Wie die Europäische Union sind die Vereinten Nationen in der Folge zweier furchtbarer Weltkriege gegründet worden. Konflikte sollten künftig friedlich beigelegt werden; sie sollten im Sicherheitsrat oder vor dem Internationalen Gerichtshof ausgetragen werden, nicht auf dem Schlachtfeld.

Die Bilanz der Vereinten Nationen ist hingegen durchwachsen. Ihre Erfolge sind zum Teil (insbesondere beim „peace keeping“) beachtlich. Bei der Verhütung und der Beilegung von Konflikten konnten die Vereinten Nationen allerdings wenig ausrichten, wenn einer oder mehrere der „P5“, der fünf Ständigen Mitglieder im VN-Sicherheitsrat, dem entgegenstanden. Erfolgreicher als bei der Beilegung bewaffneter Konflikte waren und sind die Vereinten Nationen bei anderen globalen Fragen. Weltweit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die großen Herausforderungen nur bewältigen lassen, wenn die internationale Gemeinschaft zusammensteht und zusammenwirkt. Ohne dieses Zusammenwirken – das machen der Klimawandel und seine Auswirkungen deutlich – ist die Erde nicht weniger als dem Untergang geweiht. In den 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs), den Zielen für nachhaltige Entwicklung, sind die Bedingungen zusammengefasst, unter denen die Weltgemeinschaft den zahlreichen Herausforderungen erfolgreich begegnen kann.

 

Historische Verpflichtung

 

Deutschland hat sich den Vereinten Nationen, ihren langfristigen Entwicklungszielen, dem Pariser Klimaabkommen und vielen anderen internationalen Vereinbarungen verpflichtet. Jede deutsche Bundesregierung sollte konsequent fortfahren, eine Umsetzung dieser Agenda zu befördern – und zwar nicht nur als Mitläufer, sondern in vorderster Linie. Unsere Geschichte verpflichtet uns dazu, aber auch die wirtschaftliche Stärke, die wir erreicht haben, und das Ansehen, das wir genießen. Aufgrund unserer Geschichte haben wir uns lange Zeit zu Recht im Hintergrund gehalten. Heute kann diese als Ausrede empfundene Begründung einer Zurückhaltung nicht mehr gelten. Im Gegenteil: Unsere Geschichte, unsere Erfahrungen und Erfolge verpflichten uns vielmehr, wenn Entwicklungen in die falsche Richtung laufen, uns nicht wegzuducken, sondern gegen sie anzugehen, auch wenn wir dabei gelegentlich heftigen Gegenwind erfahren.

Deutschland hat diese Herausforderung angenommen. Wir unterstützen die Vereinten Nationen nach Kräften. Wir sind zweitgrößter Beitragszahler zum gesamten VN-System; hinter den USA, aber noch vor China und allen anderen. Wir unterstützen das World Food Programme (Welternährungsprogramm), das Kinderhilfswerk UNICEF, die humanitären und Entwicklungsorganisationen, wie das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und das VN-Entwicklungsprogramm, mit enormen Mitteln. Wir gelten als Protagonisten des Kampfes gegen den Klimawandel, als Unterstützer der WHO. Wir engagieren uns bei der Umsetzung der langfristigen Entwicklungsziele, stehen an vorderster Front bei der Durchsetzung von Menschenrechten, der Gleichstellung von Frauen, LGBT-Rechten (Lesbian, Gay, Bi­sexual and Transgender). Und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir während unserer Mitgliedschaft 2019/20 unter Beweis gestellt, dass wir bei der Verletzung von Völkerrecht nicht davor zurückschrecken, die Dinge beziehungsweise den verantwortlichen Staat jeweils beim Namen zu nennen.

 

Engagement für universelle Werte

 

Für unsere Glaubwürdigkeit war es dabei wichtig, keine Unterschiede zu machen. Wir haben dagegengehalten, wenn Russland die Annexion der Krim oder Assad und dessen Einsatz von Chemiewaffen zu rechtfertigen suchte, China die Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren bestritt oder die Amerikaner geltende, rechtlich verpflichtende Sicherheitsratsresolutionen ignorierten. Und wir haben bei der Beilegung von Konflikten mitgewirkt: im Rahmen des Normandie-Formats bei der Eindämmung der Ukrainekrise, mit den Berliner Konferenzen haben wir eine politische Lösung für den Libyenkonflikt vorangebracht, mit der Beteiligung an Blauhelmeinsätzen im Libanon und in Mali haben wir uns in diesen Krisenherden engagiert und exponiert. Eine neue Bundesregierung sollte den eingeschlagenen Kurs konsequent weiterverfolgen.

Erstens: Die Unterstützung der Vereinten Nationen und damit des Multilateralismus und der regelbasierten internationalen Ordnung gehören in einen Koalitionsvertrag.

Zweitens: Die großen Herausforderungen der Weltgemeinschaft, in erster Linie der Klimawandel, die Bewahrung von Biodiversität, die Gefahren der Digitalisierung und der Schutz vor Pandemien, können mit Aussicht auf Erfolg nur im Rahmen der Vereinten Nationen bewältigt werden. Deutschland sollte hier Vorreiter bleiben.

Drittens: Deutschland sollte sein finanzielles und personelles Engagement für die Vereinten Nationen, ihre verschiedenen Programme, Agenturen und Unterorganisationen sowie die Teilnahme an Friedensmissionen fortsetzen.

Viertens: Auch in New York (und Genf) sollten wir weiter auf eine Stärkung der EU-Vertretung hinarbeiten und uns für gemeinsame europäische Positionen in den vielen Gremien und Verhandlungen einsetzen. Damit stärken wir unseren Einfluss. Wir sollten Frankreich ermutigen, sich auch im Sicherheitsrat nicht gegen eine ausgeprägtere EU-Profilierung zur Wehr zu setzen.

Fünftens: Im härter werdenden Systemwettbewerb innerhalb der Vereinten Nationen (China und Russland für Priorisierung staatlicher Souveränität im Verhältnis zu den individuellen Menschenrechten und Ablehnung internationaler Rechenschaftsmechanismen, unsere Priorisierung für universelle Achtung von Menschenrechten und Rechenschaftspflicht für völkerrechtswidriges Verhalten) gilt es, den Kreis der Verbündeten auszuweiten. Unsere Position, dass es sich bei der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht um „westliche“, sondern um universelle Werte handelt, sollte durch die Gewinnung von Verbündeten aus Afrika, Asien und Lateinamerika untermauert werden.

Sechstens: Wir müssen unsere Aufmerksamkeit vermehrt dem afrikanischen Kontinent zuwenden. Bei unseren Bemühungen, etwa im Dritten Ausschuss der Generalversammlung (Menschenrechtsausschuss), afrikanische Staaten für die Unterzeichnung einer China-kritischen Erklärung zu gewinnen, sind wir bisher auf Ablehnung gestoßen. Durch gezielte, arbeitsteilige Ansprache und Unterstützung afrikanischer Staaten, die sich durch eine „gute Regierungsführung“ auszeichnen, sollte es jedoch gelingen. „Gute Regierungsführung“ sollte im Übrigen unser über humanitäre Hilfe hinausgehendes Engagement ganz allgemein konditionieren. Das Desaster in Afghanistan hat schmerzhaft vor Augen geführt, dass die Unterstützung einer korrupten, dem Gemeinwohl wenig verpflichteten Regierung nicht erfolgreich sein kann.

Siebtens: Wir sollten uns weiterhin für eine Reform des Sicherheitsrates einsetzen. Dabei sollte es in erster Linie um eine Reform als solche gehen, denn ohne sie verliert der Sicherheitsrat in seiner jetzigen Zusammensetzung zunehmend an Legitimität und Akzeptanz. Erstes Ziel muss die Aufnahme tatsächlicher Verhandlungen sein, im Laufe derer Kompromisse gefunden werden müssen. Aber zunächst gilt es, den massiven chinesischen Widerstand gegen Verhandlungen zu brechen. Auch hier ist Afrika der Schlüssel.

Achtens: Wir sollten den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, ermutigen, nach erfolgter Wiederwahl seine herausgehobene Stellung häufiger zu nutzen, um sich für ein gemeinsames Herangehen an die vielen globalen Herausforderungen zu verwenden und die Verletzungen internationalen Rechts deutlicher anzuprangern.

Neuntens: Inhaltlich sollten wir die Schwerpunkte unserer VN-Politik weiter konsequent vertreten. Dabei geht es neben den genannten globalen Herausforderungen (Klima, Biodiversität, Digitales, Gesundheit) auch um die Verteidigung der Menschenrechte, um die Rechte von Frauen und LGBT-Rechte, um Schutz von Kindern, Schutz vor sexueller Gewalt besonders auch in Konflikten. Alle diese Schwerpunkte sind im Wesentlichen in den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen enthalten, auf deren Umsetzung wir im eigenen Land und weltweit weiterhin drängen sollten.

Zehntens: Gutes tun und darüber sprechen. Vielen Bürgern sind die Vereinten Nationen, die dort besprochenen wichtigen Themen, die deutsche Positionierung und unser Engagement nur wenig oder überhaupt nicht bekannt. Mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit, mit Podcasts und über Influencer sollten neue Interessenten und Unterstützer gewonnen werden.

 

Christoph Heusgen, geboren 1955 bei Neuss am Rhein, 2005 bis 2017 außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen, New York. In dieser Funktion leitete er im April 2019 und Juli 2020 als Präsident die Sitzungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.

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