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Die Perzeptionen des Weltkriegsendes vor siebzig Jahren

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Am 8. Mai 2015 wird überall in Europa des siebzigsten Jahrestages des Kriegsendes gedacht. Einen Tag später, am 9. Mai, findet in Moskau die traditionelle Militärparade zum „Tag des Sieges“ statt. Bis auf das unterschiedliche Datum der Feierlichkeiten – es erklärt sich dadurch, dass die deutsche Kapitulation um 23.01 Uhr in Kraft trat, mithin die Uhren in der sowjetischen Hauptstadt bereits 1.01 Uhr zeigten – scheint der Kontinent im Gedächtnis geeint. Ein genauerer Blick dagegen macht die Zerrissenheit der Erinnerung deutlich.

In Moskau, London und Paris feiern die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ihren militärischen Sieg über das Dritte Reich in der Gewissheit, damit nicht nur militärisch, sondern auch moralisch auf der Seite der Gewinner gestanden zu haben. Angesichts der unbegreiflichen Dimension der Verbrechen des Nationalsozialismus stellt sich anders als beim Gedenken an den Ersten Weltkrieg nicht die Frage nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Opfer. Darüber hinaus verblasst neben Auschwitz alles andere, sodass selbst alliierte Schreckenstaten wie die Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung und die weitgehende Zerstörung ganzer Städte wie Köln, Hamburg oder Dresden als notwendiges Mittel zum Zweck scheinbar gerechtfertigt werden können.

 

Universalisierung der Erinnerung

Den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zu begehen, ist inzwischen auch in Deutschland weitverbreiteter Konsens, selbst wenn diese Interpretation gewiss nicht die Sicht der meisten Zeitgenossen 1945 wiedergeben dürfte. Und das nicht nur, weil ein unbestimmbarer, aber definitiv großer Teil der deutschen Bevölkerung auch nach fünfeinhalbjährigem Krieg Anhänger Hitlers geblieben war. Dem Gefühl der Befreiung standen viele handfeste Fakten entgegen: Millionen deutscher Soldaten befanden sich in Kriegsgefangenschaft, aus der die letzten erst über zehn Jahre später heimkehren sollten, sofern sie bis dahin überlebten. Die Alliierten, die nicht für Deutschlands Freiheit, sondern für die Befreiung Europas von der deutschen Herrschaft gekämpft hatten, hatten eine bedingungslose Kapitulation durchgesetzt. Die Deutschen in Ost und West waren somit dem Willen der Siegermächte vollständig ausgeliefert. Gewalt erschütterte nach wie vor den Alltag, insbesondere in den sowjetisch besetzten Teilen des Landes; nicht zuletzt sexuelle Übergriffe auf Frauen waren an der Tagesordnung. Im Zuge von Flucht und Vertreibung sollten rund zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat im ehemaligen Osten des Deutschen Reichs verlieren.

Es kann kaum verwundern, dass sich nur die wenigsten Deutschen 1945 befreit gefühlt haben dürften. Verwunderlich ist eher, dass dies retrospektiv anders ist. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zunächst dürfte die demografische Entwicklung eine Rolle spielen: Nur eine Minderheit der heutigen Deutschen hat klare eigene Erinnerungen an das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs. Dafür haben sie den Erfolg der Nachkriegsgeschichte – in erster Linie natürlich in der Bundesrepublik – vor Augen. Stabilität, Frieden und vor allem das höchste Niveau individuellen Wohlstands in der deutschen Geschichte lassen den 8. Mai 1945 als ersten Schritt in eine helle Zukunft erscheinen, die bald auch unter den Älteren die nostalgische Erinnerung an die „gute alte Zeit“ vor dem Krieg verblassen ließ. Dadurch wirkt rückblickend auch der Verlust, den viele bei Kriegsende empfanden, verkraftbar. Dies gilt umso mehr, als mit der Wiedervereinigung 1990 auch die am stärksten schwelende Wunde der Nachkriegsordnung geschlossen worden ist.

Gleichzeitig setzte sich immer stärker die Einsicht in die Monstrosität der NS-Gewaltverbrechen durch, an vorderster Stelle des Holocausts. Während in den ersten Nachkriegsjahren, wenn nicht -jahrzehnten, noch die eigenen Opfer, das heißt das Leiden der nicht-jüdischen Deutschen, im Vordergrund stand, nehmen nun die Toten der Shoah die zentrale Stelle ein.

Man kann darüber spekulieren, ob dafür neben der intensiven, erst in den 1960er-Jahren wirklich einsetzenden Holocaustforschung nicht auch eine Zeit nötig war, die eigenen Wunden vernarben zu lassen. Auffällig ist aber, dass inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa und in den USA die Erinnerung an den millionenfachen Judenmord alle anderen Aspekte der Gedächtniskultur überlagert. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, das Weltkriegsende eher als Befreiung von der Nazi-Barbarei denn als Sieg der Alliierten über Deutschland zu erinnern, ohne dass dieser Aspekt vollständig verschwunden wäre. Bis zu dieser Universalisierung der Erinnerung war es ein langer Weg, auch in den Ländern der Siegermächte. Dass Angela Merkel im vergangenen Jahr an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie teilnahm, lag nicht nur an der veränderten Haltung auf deutscher Seite. Anders als Präsident François Hollande hatte sein Amtsvorgänger François Mitterand 1984 – zur Fünfzigjahrfeier – gegenüber dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl noch keine entsprechende Einladung ausgesprochen.

 

Sowjetische Besatzung und manipuliertes Gedenken

Die so erreichte Gemeinsamkeit erweist sich jedoch bei einem Blick nach Ost- und Ostmitteleuropa als deutlich weniger universell: Weder wird der 8./9. Mai 1945 pauschal als Befreiung begriffen, noch kommt dem Holocaust eine ähnlich herausgehobene Rolle im kollektiven Gedächtnis zu. Vielmehr stehen die Erinnerung an deutschen und sowjetischen Terror in Konkurrenz zueinander, mitunter drängt letzterer den Massenmord an den Juden sogar in den Hintergrund. Die Ehrung des antisowjetischen Widerstands geht in einigen Fällen sogar so weit, dass Personen als Widerstandskämpfer geehrt werden, die offen mit den Nationalsozialisten kollaboriert haben, selbst wenn diese Kollaboration (etwa im Rahmen einer einheimischen Polizeitruppe) die Beteiligung an Verbrechen mit einschloss.

Die Gründe für diese unterschiedliche Erinnerungskultur sind vielfältig. Auch in Osteuropa brachte der Sieg der Alliierten die Befreiung von der deutschen Besatzung, die dort zudem deutlich grausamer gewesen war als im westlichen Teil des Kontinents. Anders als in Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden brachte diese Befreiung in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn oder Estland jedoch keine Freiheit, sondern markierte den Beginn einer neuen totalitären Diktatur. An vielen Orten gingen die Kämpfe weiter, Untergrundorganisationen wie die Waldbrüder im Baltikum oder die Ukrainische Aufstandsarmee (Ukrajins’ka Povstans’ka Armija, UPA) kämpften gegen die neuen Besatzer. Insofern brachte das Kriegsende noch nicht einmal Frieden.

Nicht nur gegen diese Widerstandsgruppen gingen die sowjetischen Okkupanten mit aller Macht vor. Sie unterzogen die gesamte Gesellschaft der besetzten Länder einem tief greifenden Umbau, bei dem staatlicher Terror eine zentrale Rolle spielte. Personen, die aufgrund ihrer tatsächlichen Tätigkeit, ihrer politischen Ansichten, aber auch nur aufgrund ihres Berufs oder ihrer sozialen Herkunft als potenzielle „Unruhestifter“ galten, wurden verhaftet, hingerichtet oder in den Osten der UdSSR verschleppt. Allein aus den drei baltischen Staaten wurden knapp 95.000 Menschen in Straflager nach Sibirien deportiert. Deportation und Lagerhaft überlebten viele nicht.

Für Estland, Lettland und Litauen bedeutete der Sieg der Roten Armee nicht nur keine Befreiung und den Verlust der politischen Autonomie, er besiegelte darüber hinaus das Ende der staatlichen Unabhängigkeit. Nachdem die sowjetischen Soldaten die Wehrmacht vertrieben hatten, wurden die drei baltischen Staaten wieder das, was sie bereits in der kurzen Zeit zwischen 1940 und dem Beginn der deutschen Okkupation gewesen waren: sozialistische Sowjetrepubliken im Bestand der UdSSR. Erst 1991, 46 Jahre später, sollten sie ihre Unabhängigkeit wiedererlangen, durchgesetzt gegen die östliche Siegermacht des Zweiten Weltkriegs.

Die sozialistischen Diktaturen im „Ostblock“ schrieben nicht nur die politische Ordnung, sondern auch die Erinnerung vor. Für die Opfer des Stalinismus war kein Platz. Die politischen Funktionäre der Zwischenkriegszeit galten als „bourgeoise Nationalisten“, die antisowjetischen Widerstandskämpfer pauschal als „Faschisten“. Aus der Annexion des Baltikums wurde ein „freiwilliger Beitritt“, die Besetzung Ostpolens galt als „Wiedervereinigung Weißrusslands“ beziehungsweise der Ukraine. Auch der Holocaust wurde totgeschwiegen. Das sowjetische Volk, nicht die Juden sollten am meisten unter den Nationalsozialisten gelitten haben. Im ukrainischen Babij Jar, wo die Deutschen im September 1934 beinahe 34.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen hatten, stand lange Zeit nicht einmal ein Denkmal. Als 1976 eines errichtet wurde, erinnerte es an die ermordeten „sowjetischen Bürger“; von den Juden kein Wort!

 

Renaissance der nationalen Erinnerungskulturen

Es verwundert nicht, dass diese Tabus das Ende des Sozialismus nicht überdauerten. Nach 1991 rückten die lange verschwiegenen Verbrechen in den Mittelpunkt der Erinnerung. Dass diese zunächst den nicht-jüdischen Opfern galt, war ebenfalls kaum verwunderlich. Auch in Westeuropa, Deutschland und Österreich war nach dem Krieg viel Zeit vergangen, bevor die Judenvernichtung in den Brennpunkt des kollektiven Gedächtnisses getreten war. Dies wurde paradoxerweise gerade dadurch erleichtert, dass der Holocaust sämtliche anderen Verbrechen und Leiden in den Schatten stellte.

Während Millionen Deutsche von Bombennächten und Vertreibungen, ähnlich viele Polen von der Zerstörung Warschaus oder der Deportation von Verwandten und Freunden in die Sowjetunion berichten konnten, hatten nur wenige Juden die Shoah überlebt, und so konnten nur wenige ihre Erinnerung in das kollektive Gedächtnis der Nachkriegsgesellschaft einbringen. In den post-sozialistischen Staaten wirkte zudem das jahrzehntelange Verschweigen der nationalsozialistischen Judenverfolgung über den Zusammenbruch des Ostblocks hinaus.

Aus der Perspektive des von oben verordneten Schweigens kann auch die mitunter mehr als unkritische Haltung gegenüber denjenigen erklärt werden, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten. Wenn, so fragten sich viele Balten, Polen und Ungarn, die Sowjetpropaganda sechzig Jahre lang gelogen hatte über den Hitler-Stalin-Pakt, über die Massaker von Katyn und über den Warschauer Aufstand, ja selbst über die eigenen Verluste (statt zwischen 26 und 37 Millionen wurden offiziell „nur“ sieben Millionen sowjetische Kriegstote genannt), wieso sollten dann ihre Aussagen über Kollaborateure stimmen? Und hatten sich diese Menschen nicht in erster Linie für ein unabhängiges Litauen, Lettland, Estland oder eine unabhängige Ukraine eingesetzt und mithin erstrebenswerte Ziele vertreten?

Eine solche Haltung wirkt in der Tat verstörend, ebenso die häufig zu hörende Gleichsetzung stalinistischer Massenverbrechen mit dem Holocaust. Aber der Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur in Ost und West führt nur über die Anerkennung der leidvollen Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Staaten in Westeuropa. So ist „Jalta“ in Großbritannien, Frankreich oder selbst in Deutschland kein zentraler Erinnerungsort, sondern lediglich eins von mehreren alliierten Gipfeltreffen im Zweiten Weltkrieg. Für die östlichen Mitgliedsländer der EU versinnbildlicht es dagegen das zentrale Trauma, den – so empfundenen – Verrat der westlichen Großmächte, der sie in den Orbit der Sowjetunion brachte. Und „Teheran“ wird im Westen selten mit dem Beschluss zur polnischen Ostverschiebung assoziiert, der Polen um rund ein Drittel seines Vorkriegsterritoriums brachte und zur Vertreibung von über einer Million Polen aus den westlichen Gebieten der heutigen Staaten Ukraine und Belarus sowie aus Litauen führte.

Im Zentrum dürfte jedoch der Hitler-Stalin-Pakt samt seines geheimen Zusatzprotokolls stehen, in dem Deutschland und die Sowjetunion weite Teile Mittel- und Osteuropas unter sich aufteilten. Während in Westeuropa dieser Vertrag vor allem den letzten Schritt vor Beginn des Zweiten Weltkriegs repräsentiert, stellt er in Polen das Ende der staatlichen Souveränität, in den baltischen Staaten den Verlust der Eigenstaatlichkeit dar. Wie tief sich dieses Datum in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat, zeigte sich am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages: Mehr als eine Million Menschen bildeten eine über 600 Kilometer lange Kette von Tallinn über Riga nach Vilnius, um gegen die sowjetische Okkupation und für die staatliche Unabhängigkeit zu demonstrieren, die sie zwei Jahre später nach blutigen Opfern erhielten. Solange die Westeuropäer diese Seite des Zweiten Weltkriegs nicht zum Bestandteil ihrer eigenen Erinnerungskultur machen, wird auch ihre Forderung an die Ost- und Mitteleuropäer, den Holocaust in den Mittelpunkt ihres kollektiven Gedächtnisses zu stellen, als Besserwisserei der Ahnungslosen abgelehnt werden.

 

Die Instrumentalisierung des Zweiten Weltkriegs in Russland

Dies gilt umso mehr, als auch der östliche Nachbar der neuen EU-Mitgliedsstaaten eine eigene Sicht auf den Zweiten Weltkrieg kultiviert: Für Russland bildet der Sieg über Hitler-Deutschland den wahrscheinlich integralsten Bestandteil der offiziellen Erinnerungskultur. Nicht zufällig! Kein Land hatte größere Verluste zu betrauern als die Sowjetunion (zumindest in absoluten Zahlen, nicht anteilmäßig an der Bevölkerung). In den Jahren 1941 bis 1944 trug die Rote Armee die Hauptlast des Krieges, ohne sie hätten die Alliierten Deutschland erst deutlich später besiegen können, wenn überhaupt. Allerdings ist der Krieg längst schon ein Instrument der politischen Propaganda geworden, das auch gegen das Ausland eingesetzt wird. Bereits die offizielle Bezeichnung „Großer Vaterländischer Krieg“, die nur die Zeit vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 bis zur Kapitulation 1945 bezeichnet, dient der Verschleierung. Der sowjetische Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Aufteilung Osteuropas zwischen Hitler und Stalin sowie der sowjetische Angriff auf Finnland 1939 werden verdrängt. Übrig bleibt das Bild eines gerechten Verteidigungskriegs. Bis heute weigert sich die dortige Regierung, anzuerkennen, dass eine Okkupation des Baltikums überhaupt stattgefunden habe. Der Hitler-Stalin-Pakt wird als Notwehrmaßnahme der sowjetischen Seite beschrieben, das geheime Zusatzprotokoll findet selten Erwähnung. Das russische Fernsehen bezeichnet das Verbot sowjetischer Symbole in Litauen als „faschistisch“, die Erinnerung an von der Roten Armee verübte Verbrechen ist verpönt. Aktiv setzt Moskau diese Geschichtspolitik zur Durchsetzung aktueller politischer Ziele ein, am deutlichsten mit der Diskreditierung des „Maidan“ und der frei gewählten ukrainischen Regierung als „faschistisch“. In einer Zeit, in der Moskau überdeutlich demonstriert, dass es zur Durchsetzung seiner Interessen nicht bei Propaganda haltmacht, sollten alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Sicherheitsinteressen der westlichen Nachbarn der Russischen Föderation besonders ernst nehmen. Gleiches gilt für deren Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg.

 

Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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