Zu den wichtigsten Einsichten der relativ jungen Disziplin der Wissens- und Wissenschaftssoziologie zählt die „fundamentale Tatsache der sozialen Natur alles Wissens, aller Wissensbewahrung und -überlieferung, aller methodischen Erweiterung und Förderung des Wissens“ (Max Scheler). Dieser basale Sozialbezug wird später durch Ludwik Fleck näher untersucht und erörtert; dieser betont die Rolle sogenannter Denkkollektive, etwa Fachgemeinschaften, für die Entwicklung spezifischer „Denkstile“. Im Kontrast zu herkömmlichen, etwa in Auguste Rodins „Denker“ versinnbildlichten Idealisierungen einzelner Wissenschaftler oder „Genies“ werden damit die Bedingungen des Entstehungsprozesses und insbesondere die Beeinflussungen durch eine entsprechende – oftmals disziplinär abgegrenzte – Gruppe hervorgehoben, die mit ihren institutionellen Bedingungen Wissen „zielstrebig hervorbringt, ermöglicht, belohnt oder auch verwirft“.
Anders als vor ihm Karl Mannheim, der primär die Geistes- und Sozialwissenschaften in den Blick genommen hatte, bezieht Fleck ausdrücklich auch die Naturwissenschaften ein. Wissenschaftliche Erkenntnis entsteht demnach auch dort nicht als Produkt einer hochspezialisierten, vorrangig von Einzelpersonen dominierten Expertokratie. Stattdessen wird sie explizit als „demokratischer“ und wechselbezüglicher Prozess verstanden: „Denn Naturwissenschaft ist die Kunst eine demokratische Wirklichkeit zu formen und sich nach ihr zu richten – also von ihr umgeformt zu werden.“ Hieran anschließend hat später Thomas Kuhn der These zu Prominenz verholfen, dass Forschung grundsätzlich kontextbedingt und auch wissenschaftliche Erkenntnis somit (in gewissem Maße) kontingent ist. Der von ihm geprägte Begriff des „Paradigmenwechsels“ stellt in diesem Sinne zunächst eine Absage an die Vorstellung kontinuierlich wachsenden Wissens dar.
Die entsprechenden, althergebrachte Kenntnisstände entwertenden und/oder ersetzenden Paradigmen(wechsel) sind dabei gemischt ideell-sozialer Natur: Sie nehmen neue Einsichten und Beobachtungen auf, bilden aber zugleich ein konstruiertes Handlungsinstrument der jeweiligen Träger, etwa der historisch gewachsenen Fachgemeinschaften. In jedem Fall wird der Erkenntnisprozess auf eine Vielzahl unterschiedlicher Umweltfaktoren hin ausgerichtet, vor allem auf die konkreten Arbeits- und Kommunikationsstrukturen und die mit ihnen und durch sie verbundenen Personen.
Diese erkenntnistheoretischen Grundannahmen bilden eine interessante Basis, um eine Reihe jüngerer Entwicklungen auf ihre ebenso epistemische wie soziale Bedeutung hin zu hinterfragen. Das kann hier nicht im Detail ausgeführt werden, knüpft jedoch an bereits geführte und hoffentlich noch zu führende Diskurse über den gesellschaftlichen Nutzen und die gesellschaftliche Verwurzelung zumal wissenschaftlich generierten Wissens an.
„Querdenken“ als Problem und Tugend
Zunächst stellt sich offenkundig (nicht nur, aber gerade) im Kontext von Corona- und Klimakrise die Frage, wie viel epistemische Sicherheit realistisch ist, welche Experten und Expertencommunities einigermaßen verlässlichen Rat bieten und wie mit unvermeidlichen Ungewissheitsresten umzugehen ist.
„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann“, weiß der Volksmund. In diesem Sinne galt auch das „Querdenken“ – auch wenn der Begriff vermutlich nicht sehr geläufig war – früher als etwas Sinnvolles, und das zu Recht: Eingefahrenen Denkmustern etwas entgegenzusetzen, hat schließlich selbst dann einen Wert, wenn die gegenläufigen Überlegungen letztlich nicht zu überzeugen vermögen, sondern nur dazu dienen, eine bessere Begründung für überkommene, aber nicht notwendig überholte Ansätze zu finden.
„Quer“ zum wissenschaftlichen Mainstream zu liegen, ist indes keineswegs per se ein Qualitätsmerkmal, und es entbindet auch nicht davon, sich gängigen wissenschaftlichen Qualitätskriterien zu stellen – im Gegenteil. Doch entspricht es zugleich der wissenschaftlichen Urtugend, auch gegenüber den eigenen und noch den grundsätzlichsten Erkenntnissen skeptisch zu bleiben. Die nur scheinbar wissenschaftsfreundlichen Exzesse der Coronazeit, in deren Kontext abweichenden Meinungen nicht nur wissenschaftlich-argumentativ begegnet, sondern versucht wurde, sie aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu verdrängen, sind deshalb nicht nur aus grundrechtlicher, sondern zumal aus epistemologischer Hinsicht ein Menetekel für unseren künftigen Umgang mit angeblich sicherem Wissen und der Kritik daran.
Diversität, Singularität und Uniformität
Ferner ist mit Blick auf kurrente Diversitätsforderungen deren positiven sowie negativen Auswirkungen nachzugehen. Denkkollektive sind ihrer Natur nach keine homogenen Einheiten. Es liegt im Wesen der wechselseitigen geistigen Befruchtung, dass aus der Vielzahl der Beteiligten eine Vielfalt unterschiedlicher, gerade in ihrer Vielfalt wertvoller Perspektiven entsteht. Das deutet auf eine enge Verbindung zu dem zunächst primär ökonomisch, mittlerweile jedoch vorrangig politisch und zunehmend auch wissenschaftlich dominanten Begriff der Diversität. Allerdings ist Vorsicht geboten, soweit dieser im Kontext überzogener Identitätsvorstellungen in biologistische Übertreibungen abzudriften droht: Perspektivenpluralität entsteht aus Erfahrungen, nicht aus Genetik.
Darüber hinaus ist das Diversitätsmit dem insbesondere von Andreas Reckwitz beschriebenen Singularitätsstreben kurzzuschalten: Im Sinne des Letzteren stehen nicht mehr Gruppen, sondern Individuen im Zentrum der Aufmerksamkeit; es dominiert „das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“. Anderssein ist damit nicht etwas Vorfindliches, sondern ein Ziel, das paradoxerweise dann wieder eine übergreifende, die Vielen einigende Wirkung hat, also Heterogenität in Homogenität überführt. In diesem Sinne ist darauf zu achten, ob nicht mit der vordergründigen Differenz eine hintergründige Uniformität korrespondiert.
Schwarmintelligenz und Massenhysterie
Damit ist schon angedeutet, dass Denkkollektive nicht notwendig auf die typischerweise begrenzten Bedingungen wissenschaftlichen Austauschs beschränkt bleiben. Unter Digitalisierungsbedingungen werden Kommunikations- und Interaktionsprozesse grundlegend verändert; das hat Auswirkungen nicht nur auf die Meinungsbildung, sondern auch auf den Erkenntnisprozess. Hinter dem modernen Schlagwort „Schwarmintelligenz“ verbirgt sich insoweit eine eigentlich deutlich ältere Vorstellung. Gleichzeitig erhellt der Verweis auf die wissenschaftssoziologischen Grundlagen die Komplexitäten und potenziellen Stolperfallen, die mit entsprechenden, auf Masseneinbeziehung setzenden Verfahren verbunden sind.
More is not always better. Je größer die beteiligten Gruppen sind, desto schwieriger ist es vielmehr, Differenzierungen im Sinne der oben angesprochenen Qualitätskriterien vorzunehmen. Das mag in bestimmten Settings und ab einer gewissen Größenordnung kaum noch relevante Auswirkungen haben. Es verlangt allerdings prinzipiell nach einer kontext- und diskurssensiblen Analytik, die nicht zuletzt auch vorhandenen Machtstrukturen und -bestrebungen nachspürt.
Herausforderung Künstliche Intelligenz
Schließlich wird der kollektive Charakter „neuen Denkens“ noch in einer weiteren, grundlegenderen Form herausgefordert: zu fragen ist, inwieweit über bestehende elektronische Unterstützung hinausgehend die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz eine Erweiterung des bislang doch stark anthropozentrischen Modells verlangt. Das hängt nicht nur von der Entwicklung der mehr oder weniger „starken“ Künstlichen Intelligenz, sondern zentral auch davon ab, welches Verständnis von philosophisch gehaltvollen und strittigen Begriffen wie „Urteilskraft“, „Handlungsurheberschaft“ oder eben „Denken“ präferiert wird. Dass sich Künstliche von natürlicher Intelligenz unterscheidet, spricht ja zunächst für, nicht gegen sie – eben weil damit potenziell etwas Neues, nicht nur Nachahmendes hinzutritt. Primär interessant wird Künstliche Intelligenz dort, wo sie etwas leistet, das über die menschlichen Fähigkeiten hinausgeht – gerade hier ist aber verständlicherweise auch Vorsicht angebracht. Gleichzeitig zeigen die aktuellen Debatten um das textbasierte Dialogsystem ChatGPT unter anderem, wie wenig wir noch von den Bedingungen und Restriktionen verstehen, denen die vorhandenen Anwendungen infolge technischer Grundlagen, aber auch bewusster menschlicher Einmischung unterliegen. Für ein übergreifendes, Künstliche wie natürliche Intelligenz einbeziehendes, hybrides Denkkollektiv fehlen, soweit ersichtlich, noch ein Begriff und erst recht ein Konzept. Beides dürfte aber in absehbarer Zukunft erforderlich werden.
„Wir denken, also sind wir“
„Neues Denken“ – der anspruchsvolle Titel macht es schwierig bis unmöglich, auf knappem Raum umfassende und überzeugende Beispiele zu benennen. Diesseits konkreter inhaltlicher Ideen dürfte es indes immerhin im beschriebenen Sinne hilfreich, wenn nicht unumgänglich sein, den kollektiven Charakter stärker zu akzentuieren, seine Chancen herauszuarbeiten und besser zu nutzen. Ein solches diversitäts- und pluralismusbewusstes Denken ist nicht notwendig harmonisch, oft sogar konfrontativ. Es setzt aber die Denkmöglichkeit anderer Denkansätze voraus – mehr noch, es akzeptiert die Wahrscheinlichkeit eigenen Irrtums und rechnet mit der Korrektur durch andere. Neues Denken ist deshalb kein Ego- sondern ein Gemeinschaftsprojekt: Cogitamus ergo sumus.
Steffen Augsberg, geboren 1976 in Gießen, Rechtswissenschaftler, Professor für Öffentliches Recht, Justus-Liebig-Universität Gießen.