Genau betrachtet, handelt es sich bei Nordrhein-Westfalen um eines der „neuen Bundesländer“, auch wenn es eindeutig im tiefen Westen unserer Republik liegt und nicht im Osten. Aber Nordrhein-Westfalen ist genauso wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen in seiner Eigenschaft als deutscher Gliedstaat jünger als beispielsweise Sachsen oder Thüringen, von Bayern ganz zu schweigen. Denn bei Nordrhein-Westfalen handelte es sich 1946 um eine eindeutige Neugründung durch die britische Besatzungsmacht und nicht um eine Wiedergründung als eigenständiges Land.
Nordrhein-Westfalen ist nicht das einzige „Bindestrich-Land“ der Bundesrepublik und auch nicht das einzige aus Überresten früherer Territorien neu zusammengefügte. Gleichzeitig konnte das von den Briten künstlich, aber aus konkreten politischen Überlegungen gebildete neue Land trotz des zweifellos vorhandenen rheinisch-westfälischen Gegensatzes durchaus an historische Verbindungen anknüpfen. Denn das Rheinland und Westfalen waren nach 1815, wenn auch in anderen geografischen Grenzen, in Gestalt von Provinzen integrale Bestandteile des gemeinsamen preußischen Staates gewesen, woraus sich zahlreiche institutionelle Beziehungen und Übergänge ergaben. Die „Künstlichkeit“ des neuen Landes war demnach evident, aber weder singulär noch extrem problematisch.
Überhaupt steht Nordrhein-Westfalen hinsichtlich Tradition und historischen Erbes anderen deutschen Ländern in nichts nach. Doch diese Traditionen bleiben bis heute mehr oder weniger unverbunden, ja separiert, und verdichten sich nicht zu einer sinnstiftenden Einheit. NRW ist polyzentrisch, nicht nur von der Zahl und Bedeutung seiner Städte her, sondern auch bezüglich seiner Landschaften. Eine der wichtigsten war und ist das Ruhrgebiet, das „Revier“, der „Kohlenpott“, mit der Industrialisierung als einziger, die beiden großen Landesteile seit 150 Jahren wirklich miteinander verbindenden Traditionslinie. Aber das damit verbundene Image von rauchenden Schloten, Malochertum, von Staub und Ruß konnte kaum als besonders positiv oder attraktiv bezeichnet werden, ganz abgesehen davon, dass es der Wirklichkeit nie ganz entsprach.
Urform des „rheinischen Klüngels“
Außer dem kleinen Lippe mit seiner Residenzstadt Detmold, das sich erst 1947 per Volksentscheid dem bereits existierenden Nordrhein-Westfalen angeschlossen hatte (die Lipper sind demzufolge der einzige nordrhein-westfälische Volksstamm, der freiwillig Bestandteil dieses Landes geworden ist), verfügten weder das nördliche Rheinland noch Westfalen über eine längere, ungebrochene Tradition der Eigenstaatlichkeit. Seit dem Mittelalter hatten sich die Herrschaften hier ständig geändert, standen sich geistliche und ständische Ansprüche gegenüber, pochten Bürger und Städte auf ihre Freiheiten. Dies begünstigte die Herausbildung horizontaler Machtstrukturen unter meist nur widerwillig ertragenem Fortbestand vertikal organisierter Herrschaftssysteme. Jene horizontale politische Verfasstheit, Urform und historische Bedingung des berühmten „rheinischen Klüngels“, beförderte den Interessenausgleich untereinander, aber auch Eigensinn, Kirchturmdenken und Lokalpatriotismus. Die latente innere Auflehnung gegen Untertanentum und Uniformismus verhinderte jedoch zugleich die Entstehung eines „Staatsvolkbewusstseins“, das – zunächst verbunden mit meist dynastischen Herrschaftsformen – auch in späteren Zeiten republikanischer Freiheit zu einer eigenen, umfassenden Identität hätte ausgebaut werden können.
In den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens bedurfte Nordrhein-Westfalen auch kaum so etwas wie einer eigenen Landesidentität. Während in anderen Ländern wie Rheinland-Pfalz zunächst von einem durch den Willen der Besatzungsmächte geschaffenen „Provisorium“ ausgegangen wurde, das bei einer „Neuordnung“ Deutschlands irgendwann wieder zur Disposition stehen würde, genügte Nordrhein-Westfalen sich selbst. In einer Zeit, in welcher Kohle und Stahl, die Großindustrie insgesamt als Indikatoren für die Bedeutung, Stärke und Prosperität eines Staatswesens angesehen wurden, erfüllte NRW diese Voraussetzungen in hervorragender Weise, vor allem in der Phase des Wiederaufbaus der Republik und des „Wirtschaftswunders“. Das einwohner- und wirtschaftsstärkste Land, zugleich größter Zahler im Länderfinanzausgleich, war nicht ein, sondern der Machtfaktor in der jungen Bundesrepublik, ihr Zentrum und ihr ökonomischer Antriebsmotor. Hinzu kam der Umstand, dass Nordrhein-Westfalen zusätzlich auch Sitz der (provisorischen) Bundeshauptstadt und damit der wichtigsten Verfassungsorgane war. All das reichte dafür aus, sich in dem „Land aus der Retorte“ einigermaßen komfortabel einzurichten, seinen Wohlstand zu genießen und ansonsten seine kleinen, regionalen, ja lokalen Identitäten und Rivalitäten zu pflegen.
Kein „Stammland“ einer Partei
Entgegen anderslautenden Behauptungen hat das Land niemals eine „parteipolitische Identität“ besessen. Es wurde zwanzig Jahre lang geprägt von der CDU und inzwischen mehr als doppelt so lange von der SPD, wurde jedoch nie zum „Stammland“ einer der beiden Volksparteien. Dazu waren beide jeweils kommunalpolitisch zu stark verankert, und auf der Landesebene war die CDU 37 Jahre lang stärkste politische Kraft, die SPD 33 Jahre. Die unzureichende parteipolitische Homogenität trug also lange Zeit dazu bei, die Herausbildung eines nachhaltigen Landesbewusstseins oder wenigstens einer Art unbestimmten „Landesgefühls“ zu verhindern. Andererseits haben SPD, CDU, FDP und Grüne jeweils auf ihre Weise das Land geprägt und für das Land politische Verantwortung übernommen. Nordrhein-Westfalen mit seinen Stärken und Schwächen, Vorzügen, Eigenheiten und Defiziten ist und bleibt somit Erbe und Auftrag aller demokratischen Parteien in diesem Land. Keine steht außen vor, keine vermag sich aber auch auf eine bloße Zuschauerrolle zurückzuziehen. Darin liegt vielleicht ein Stück weit die spezifische „politische Kultur“ begründet, die man Nordrhein-Westfalen gerne zuschreibt. Gemeint sind damit die sogenannte „Konkordanzdemokratie“ und die Tradition der „Akkommodierung“, also das Erzielen eines grundsätzlichen politischen Konsenses beziehungsweise die Einbeziehung möglichst vieler Akteure in bestimmte Entscheidungsprozesse, durchaus gern auch Vertreter der Opposition und Gruppierungen beziehungsweise Institutionen jenseits des Parteienstaates. Aber Vorsicht: Ähnlich dem Mythos vom „sozialdemokratischen Stammland“ haben wir es bei dieser oft beschworenen „typisch nordrhein-westfälischen“ politischen Kultur nicht durchweg mit der Abbildung historischer oder politischer Realität zu tun, mindestens aber mit einer Übertreibung.
Doch nicht nur die Parteien als anonyme Institutionen haben das Land und seine Geschichte gestaltet. Ein Gesicht hat die Landespolitik vor allem durch die Mitglieder der jeweiligen Kabinette, in erster Linie jedoch durch die Ministerpräsidenten und ihre zentralen Botschaften erhalten. Karl Arnold formulierte das Selbstverständnis Nordrhein-Westfalens als das „soziale Gewissen der Bundesrepublik“ und gestaltete den Aufbau des Landes maßgeblich mit. Franz Meyers erkannte nicht nur die Notwendigkeit eines langfristigen und durchgreifenden ökonomischen Strukturwandels und der Akademisierung des Ruhrgebiets, sondern auch das Desiderat eines selbst durch Rückschläge und Krisen tragenden Identifikations- und Zusammengehörigkeitsgefühls der Bevölkerung. Heinz Kühn wiederum trug zu Beginn der von ihm geführten sozialliberalen Koalition eine regelrechte „Reformeuphorie“ in das Land, die mithalf, aus dem „Trennungsstrichland“ zumindest ein „Bindestrichland“ zu machen. Sein Nachfolger Johannes Rau setzte diese Tradition bewusst fort und legte einen Schwerpunkt seines politischen Wirkens auf die Förderung von Heimatverwurzelung und Bodenständigkeit. Sein „Wir in Nordrhein-Westfalen“ wurde zum unverwechselbaren Markenzeichen seiner Ministerpräsidentschaft und eines ganz spezifischen Politikstils.
Zweischneidiges Motto: „Wir in NRW“
Die Image-Kampagne „Wir in NRW“ war ohne Zweifel erfolgreich. Sie war es deshalb, weil ihre einfache Aussage die in einem „Bindestrich-Land“ unvermeidlichen Gegensätze nicht aussparte oder gar übertünchte, sondern der unterschiedlichen Herkunft und Geschichte seiner Bewohner bewusst Raum ließ, regionale Besonder- und landsmannschaftliche Eigenheiten implizierte, keinen unveränderlichen Status quo beschwor, sich vielmehr in jeder Hinsicht offen und flexibel zeigte für neue Entwicklungen und dabei niemanden ausschloss, ein „Land für alle Bürger“ beschrieb und insgesamt die offensichtlichen Probleme eines landsmannschaftlichen, kulturellen und regionalen „Gemischtwarenladens“ geschickt umwandelte in die Vorzüge einer sich in Vitalität und Optimismus ausdrückenden, positiven, weil aus Vielfalt und produktivem Gegensatz herrührenden inneren Spannung.
Aber die Erfolgsstory des Slogans, der bald zu einer Art „Corporate Identity“ von Land und Landesregierung avancieren sollte, vermochte nicht zu verdecken, dass „Wir in Nordrhein-Westfalen“ zuallererst eine negative Abgrenzung zum Ausdruck brachte und erst danach die eigenen, positivschöpferischen Eigenschaften betonte. Als – neben Hessen – einziges SPD-regiertes Flächenland der Bundesrepublik ging man seitens der Landesregierung Nordrhein-Westfalens nach dem Bonner Machtwechsel im Herbst 1982 offiziell auf strikten Abgrenzungs- und Oppositionskurs zur neuen christlich-liberalen Bundesregierung. Man kultivierte das „Anderssein“ im Kontrast zur angeblich spießig-konservativ-nationalen Ausrichtung der Bundespolitik. Mit dem „Wir in Nordrhein-Westfalen“ versuchte die Regierung Rau gleichzeitig, zum einen das Gefühl der Solidarität gegen eine äußere, übelwollende „Macht“ zu befördern, zum anderen aber auch das Unterlegenheitsgefühl zu kompensieren, das daher rührte, von eben dieser „Macht“ existenziell abhängig zu sein und auf sie weiterhin in sogar steigendem Maße angewiesen zu bleiben, wollte man die Trendwende zum Besseren schaffen.
„Wir in Nordrhein-Westfalen“ versuchte schließlich, in einer Art Trotzreaktion den Eindruck zu revidieren, das Land falle in praktisch allen Feldern im Kreis der großen Bundesländer immer weiter zurück, bleibe hoffnungslos in einem unvollendeten Strukturwandel stecken und entspräche doch noch immer dem Zerrbild der verschmutzten, monotonen Industrieeinöde. Das dem Slogan inhärente Aufbegehren gegen die Rolle des „ewigen Verlierers“ beziehungsweise des „Schmuddelkindes“ der Republik mag mitentscheidend dafür gewesen sein, ihn weit über die Klientel der Regierungspartei hinaus zu popularisieren.
Inkonsequente „Geschichtspolitik“
„Wir in Nordrhein-Westfalen“ war ein Anfang. Aber er reichte nicht aus, war auf Dauer nicht tragfähig genug. Die von diesem Motto ausgehende Botschaft erwies sich im Langzeittest als merkwürdig substanzlos. Das lag nicht zuletzt daran, dass die mit diesem Erfolgsslogan verbundene „Geschichtspolitik“ der sozialdemokratischen Landesregierung inkonsequent war. Die Übertragung der „Sozialdemokratisierung des Ruhrgebiets“ auf das gesamte Land misslang. Sie misslang auch deshalb, weil der aus parteipolitischen Motiven heraus erfolgte Versuch der Kreierung eines „Volkes von Nordrhein-Westfalen“ auf das Revier und das dortige sozialistisch geprägte Arbeitermilieu bei weitgehender Unterschlagung der starken katholischen und bürgerlichen Milieus beschränkt blieb. Das war allzu selektiv und durchsichtig und stand überdies in eklatantem Widerspruch zur polyzentrischen, multiperspektivischen und vielfältigen Grundidee des Mottos „Wir in Nordrhein-Westfalen“. Es blieb jedenfalls bei dem Desiderat einer tatsächlichen nordrhein-westfälischen Kernidentität.
Reichlich Mythen und Lebenslügen
Diese nicht vorhandene Kernidentität ist einer der Hauptgründe dafür, dass das Land bis heute kein rationales Verhältnis zu sich selbst und seiner Geschichte aufgebaut hat. Die Selbstwahrnehmung ist vielmehr in weiten Teilen neurotisch gestört, wie das diesjährige Landesjubiläum eindrucksvoll gezeigt hat. Alles ist entweder schwarz oder weiß, himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt. Auf Katastrophen und Skandale folgen mit Sicherheit immer neue Erfolge und Rekorde. Es gibt keine Grautöne und Differenzierungen, dafür aber reichlich Mythen, Legenden und Lebenslügen. Zum Beispiel dass Nordrhein-Westfalen nie etwas für seine Probleme gekonnt hat, sich dafür aber auch nie hat unterkriegen lassen, sondern immer aus eigener Kraft und dank großer Solidarität den Aufstieg schaffte, dass im Rheinland und im Ruhrgebiet Integration stets vorbildlich gelungen ist, dass hier das Herz des wissenschaftlichen Fortschritts geschlagen hat und noch immer schlägt, dass Bildung nirgendwo so gut funktioniert (inklusive des Aufstiegsversprechens) wie an Rhein und Ruhr, dass es in der Landespolitik stets vorbildlich harmonisch zugegangen ist, dass der soziale Zusammenhalt hier traditionell stärker und größer ist als anderswo, dass nordrhein-westfälische Fußballclubs gewohnheitsmäßig am erfolgreichsten sind und so weiter und so fort. Überall nur Superlative und Selbstbeweihräucherung nach dem Motto: Wir im Westen sind die Besten!
Aufreizend unverbunden
Zu den gern betonten nordrhein-westfälischen Alleinstellungsmerkmalen gehört auch die üppige dezentrale kulturelle Buntheit zwischen Rhein und Weser. Gewiss kann man Mannigfaltigkeit als Stärke definieren und den ausgeprägten nordrhein-westfälischen Polyzentrismus als Vorzug. Aber sicher nur dann, wenn diese bunte Mannigfaltigkeit und dieser Polyzentrismus sinnvoll mit- und untereinander verbunden werden, wenn sie eingebettet sind in eine harmonische Ordnung und nach dem Prinzip kommunizierender Röhren funktionieren. Ansonsten bleiben es bloße Versatzstücke, hübsche Leerformeln.
Die Folgen kann man in der Zwischenbilanz des Landes nach siebzig Jahren ablesen, die in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand und zu den günstigen Ausgangsbedingungen steht. NRW ist beinahe überall im Ländervergleich bestenfalls Durchschnitt, wenn nicht gar Schlusslicht: beim Wirtschaftswachstum, im Bildungsbereich, in der wissenschaftlichen Leistungskraft, in der Staatsverschuldung, in der Kriminalitätsbekämpfung oder beim Erhalt der einstmals so vorbildlichen Infrastruktur. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Viel zu selten kommt es zu Verzahnungen und der Erzielung von möglichen Synergieeffekten, manches wirkt sogar aufreizend unverbunden, und oft genug wurde – wie im Hochschulbereich – Quantität mit Qualität verwechselt.
Keimzellen der Europäischen Integration
Dennoch hat Nordrhein-Westfalen genügend reale Vorzüge aufzuweisen: seine schiere Größe als mit Abstand bevölkerungsreichstes Bundesland, seine günstige geografische Lage, seine Tradition als Keimzelle der Europäischen Integration (mit Karl Arnold als einem der Gründerväter der Montanunion), die mittlerweile auf das ganze Land verteilten Zentren industrieller Produktion, die großen Ballungsräume als Magneten des modernen Dienstleistungssektors, den kulturellen Reichtum seiner Regionen oder die Vergangenheit des Rheinlandes und des Ruhrgebietes als ethnische „Schmelztiegel“. Trotz aller historischen Hypotheken und aktuellen Probleme kommt Nordrhein-Westfalen deshalb im deutschen wie im europäischen Maßstab durchaus eine Spitzenstellung zu. Doch keiner der genannten Vorzüge des Landes, auch sein Charakter als „Integrationsmagnet“ nicht, kommt einem Naturgesetz gleich oder ist auf ewig gesichert. Jeder Wettbewerbsvorteil des Landes muss immer wieder aufs Neue erarbeitet und bestätigt werden.
Auf lange Sicht kann Nordrhein-Westfalen jedenfalls weder sich selbst genügen noch von einer „negativen Profilierung“ profitieren, welche sich zwangsläufig aus seiner Randlage im größer gewordenen Deutschland sowie aus dem Kontrast zur Bundeshauptstadt Berlin ergibt. Aufgrund seiner Größe und ökonomischen Bedeutung ist NRW mehr als jedes andere Land dazu berufen, unabhängig von den jeweils vorherrschenden parteipolitischen Konstellationen ein Korrektiv zum „Berliner Zentralismus“ zu bilden; nicht als sture Opposition, aber als gesundes Gegengewicht. Vor allem jedoch muss es eine eigene, zeitgemäße politische Botschaft formulieren. Johannes Rau hat in seiner Regierungserklärung vom 10. Juni 1985 gesagt: „Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat.“ Das ist ohne Zweifel auch heute noch alles richtig. Aber es ist eben nicht mehr hinreichend. NRW muss konkreter werden. Präziser. Selbstbewusster. So vermag das Kriterium „Vielfalt“ nur dann etwas Positives auszudrücken, wenn aus einem unverbundenen, durchaus duldsamen Nebeneinander ein produktives Miteinander wird; wenn Reibungen zugelassen, die dabei entstehenden Energien aber bewusst auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet werden. Nicht Harmonie lautet das Zauberwort, sondern Aufbruch, Bewegung und eine in diesem Sinne verstandene produktive Unruhe.
Deutlich wird dieser Sachverhalt am Beispiel des Strukturwandels: Die notwendige ökonomische Anpassung an veränderte Gegebenheiten ist nicht nur aufgrund objektiv schwieriger Umstände zu spät und zu zögerlich erfolgt, immer wieder ins Stocken geraten und bis heute unvollendet geblieben, sondern insbesondere auch deshalb, weil Parteien und Politiker die betroffenen Menschen auf den vor ihnen liegenden beschwerlichen Weg psychologisch nur unzureichend vorbereitet haben. Die Konservierung überkommener mentaler und gesellschaftlicher Strukturen mag das Land vor sozialen Erschütterungen bewahrt haben, die darin enthaltene Botschaft „Eigentlich könnt ihr bleiben, wie ihr seid“ hat jedoch zu einer fatalen Wahrnehmungsstörung und damit zu einer handfesten Identitätskrise geführt, zusätzlich ergänzt durch die weit verbreitete Erwartung, ein „betreuender“, „fürsorgender“ Staat werde das Schlimmste schon verhüten und den sozialen Ausgleich garantieren. Eigeninitiative, unternehmerisches Engagement und gesunde mittelständische Strukturen hatten es unter diesen Bedingungen hier lange Zeit schwerer als anderswo. Umgekehrt bleiben regional beziehungsweise lokal durchaus zu verzeichnende Erfolge merkwürdig unbeachtet, werden viel zu selten als eine Angelegenheit aller empfunden, ja wecken schlimmstenfalls sogar noch Neidgefühle.
„Wir können alles, sogar Hochdeutsch“
Dabei ist und bleibt der ökonomische (Wieder-)Aufstieg Nordrhein-Westfalens zusammen mit der damit verbundenen sozialen Stabilität der größte und wichtigste Integrationsfaktor des Landes. Eben ein solcher Erfolg ist daher zugleich sowohl Bedingung als auch Katalysator einer wie auch immer gearteten Landesidentität, weil er in jeder Beziehung die aktuelle Botschaft eines Landes verkörpert. Verbinden sich ökonomische Spitzenstellung, sozialer Friede und spezifisch nordrhein-westfälische Traditionen und Prägungen endlich zu einer zeitgemäßen, glücklichen und vor allem dauerhaften Kombination, dann erübrigen sich auch alle Fragen und Zweifel hinsichtlich der Größe und inneren Bindekraft dieses nach wie vor politisch wie ökonomisch bedeutendsten aller sechzehn Bundesländer. Vielleicht heißt es ja dann wirklich einmal in Nordrhein-Westfalen selbstbewusst, aber auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern in Richtung Baden-Württemberg: „Wir können alles, sogar Hochdeutsch!“
Guido Hitze, geboren 1967 in Düsseldorf, Historiker mit den Schwerpunkten Landesund Parlamentsgeschichte, seit 2013 Leiter des Bereichs Politik und Strategie des CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen.