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Papst Franziskus definiert den Umweltschutz als Ausgangspunkt einer gesamtgesellschaftlichen Transformation

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Die am 24. Mai dieses Jahres veröffentlichte Enzyklika Laudato si’ ist ein Meilenstein in der Entwicklung der katholischen Soziallehre. Erstmals wird das komplexe Themenfeld der ökologischen Herausforderung umfassend von einem päpstlichen Lehrschreiben behandelt. Ihr roter Faden ist das Postulat einer „ganzheitlichen Ökologie“, das auch soziale und entwicklungspolitische Dimensionen umfasst. Es knüpft an den Begriff der „ganzheitlichen Entwicklung“ an, wie er erstmals vor knapp fünfzig Jahren von Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio entfaltet wurde, stellt diesen jedoch erstmals konsequent unter den Anspruch ökologischer Erneuerung. Denn ohne diese sind heute weder globale und intergenerationelle Gerechtigkeit noch human verträgliche Technik zu denken.

Innovativ ist die Enzyklika nicht zuletzt darin, dass sie ihre kritische Zeitanalyse mit eindringlichen theologischen und anthropologischen Reflexionen verbindet. Trotz aller Sorge um Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Müllprobleme, regionale Wasserknappheit und die damit verbundene soziale Not ist die Enzyklika auf einen Grundton der Ermutigung und der Dankbarkeit für die Gaben der Schöpfung gestimmt: „Laudato si’“, das Lob des Schöpfers, ist der Titel, der über allem steht. Er ist dem Sonnengesang des Franz von Assisi entlehnt, dessen Spiritualität der Freude, Einfachheit und geschwisterlichen Beziehung zu den Mitgeschöpfen auch die Enzyklika trägt. Unter Bezugnahme auf die besonders in Lateinamerika starke Tradition des „buen vivir“1, des guten Lebens also, geht Franziskus davon aus, dass ein Kulturwandel im Verhältnis zur Natur einen Gewinn an Lebensqualität, wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gemeinschaft bringen wird.

Kennzeichnend für die Enzyklika ist ihre bildreiche Sprache: Die Natur wird hier nicht nur als „Schwester“ und „Mutter Erde“, sondern auch als „gemeinsames Haus“ (so der Untertitel der Enzyklika2) verstanden. Diese drei Metaphern sind stark in der lateinamerikanischen Tradition verwurzelt. So haben Ecuador und Bolivien 2008 beziehungsweise 2009 den „Schutz der Mutter Erde“ gegen postkoloniale Ressourcenausbeutung in ihre Verfassungen geschrieben. Vor diesem Hintergrund enthalten schon die ersten Zeilen der Enzyklika eine Verknüpfung religiös-spiritueller und politischer Ebenen. Die Titelmetapher „Haus der Erde“ verweist auf diese Verbindung: Das Wort „Haus“, griechisch oikos, ist verwandt mit „Ökologie“, „Ökonomie“ und „Ökumene“ – ökologische Anliegen werden programmatisch mit ökonomischen Fragen sowie dem Anspruch weltweiter Ökumene über die Grenzen von Nationen, Konfessionen, Religionen und Wissenschaftsdisziplinen hinweg verbunden. So werden erstmals in einer Enzyklika nicht nur Vorgängerpäpste, sondern auch der orthodoxe Patriarch Bartholomaios (Nr. 7–9) sowie der islamische Mystiker Al-Khawwas (Nr. 233) ausführlich zitiert. Damit setzt Papst Franziskus ein starkes ökumenisches Signal.

 

„Hausordnung“ für globale Ressourcen

Die „Sorge für das gemeinsame Haus“ zielt auf eine „Hausordnung“ für den solidarischen Umgang mit den globalen Ressourcen. Die Güter der Schöpfung werden als Kollektivgut aufgefasst, was der auf Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert formulierten Eigentumstheorie entspricht. Franziskus konkretisiert dies bezüglich der „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeiten“ zum Klimaschutz (Nr. 170). Klima wird als „gemeinsames Gut“ apostrophiert (Nr. 23–26).3 Erstmals werden der Klimawandel und die eng mit ihm verbundene Wasser und Ernährungskrise als zentrale Herausforderungen benannt und aus ethischer Perspektive reflektiert. Eine konkrete Forderung der Enzyklika in diesem Zusammenhang ist die Anerkennung der Menschen, die aufgrund ökologischer Degradation ihre Lebensräume verlassen müssen, als Flüchtlinge mit entsprechendem rechtlichen Status (Nr. 25).

Der Begriff „Ökologie“ wird in der Enzyklika schillernd verwendet, teils deskriptiv für ökologische Systeme und Wirkungszusammenhänge, teils normativ als Postulat eines ganzheitlichen Handelns, das stets die Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren im Blick behält. Ökologische und soziale Gerechtigkeit werden als untrennbare Einheit verstanden. Denn Umweltschutz ist gerade in den ökologisch sensiblen Regionen des globalen Südens ein entscheidendes Medium der Armutsbekämpfung. „Ökologie“ meint vor diesem Hintergrund nicht nur Naturschutz, sondern allgemeiner ein Denken in Beziehungszusammenhängen. Dieser methodische Ansatz knüpft zugleich an biblisches Denken an. Kennzeichnend für den vielschichtigen Begriff von Ökologie sind auch die Nominalverbindungen, in denen der Term gebraucht wird (Human, Kultur, Stadt, Alltagsökologie u. a.; vgl. Nr. 137–162). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Konzept der „Humanökologie“ zu, das seit 1991 leitend für nahezu alle päpstlichen Äußerungen zu Umweltfragen ist und leicht variiert den ursprünglich angekündigten Titel „Die Ökologie des Menschen“ prägte.4 Der Ausdruck ist jedoch umstritten, da er meist gebraucht wurde, um damit das Konzept der traditionellen Anthropozentrik, das den Menschen im Mittelpunkt der Schöpfung sieht, zu verteidigen. Dieser Begriff wird nun zugleich aufgegriffen und modifiziert: Eingebunden in bioökologische Reflexionen, ist eine Denaturalisierung des Begriffs (und damit die vom Naturkontext getrennte Betrachtung des Menschen) ausgeschlossen. Zugleich wird auf Enzyklikaebene erstmals der „despotische“ moderne Anthropozentrismus radikal kritisiert (Nr. 68 f. und 115–136). Immer wieder hebt Franziskus den Eigenwert der Tiere und Pflanzen hervor und profiliert seine Ethik durch ästhetisch-poetische sowie spirituelle Zugänge zur Natur.

 

Neunzehnmal „nachhaltig“

Sprachlich auffallend ist, dass der Be griff „Nachhaltigkeit“ nie als Substantiv vorkommt, sondern lediglich als Adjektiv – „nachhaltig“ neunzehnmal! Das Konzept wird nicht explizit entfaltet, jedoch wie selbstverständlich vorausgesetzt (obwohl der Begriff ebenso wie der des Klimawandels noch 2009 in der letzten Sozialenzyklika Caritas in veritate konsequent vermieden worden war und nie zuvor in päpstlichen Verlautbarungen gebraucht wurde). Franziskus vermeidet explizite Kontroversen um den Begriff, legt ihn gleichwohl mit seiner systematischen Verknüpfung ökologischer, sozialer und ökonomischer Fragen der Enzyklika konzeptionell zugrunde.5 Dabei setzt er implizit ein Konzept starker Nachhaltigkeit mit vorrangigem Schutz von Klima, Biodiversität und dem Zugang der Armen zu Süßwasser und fruchtbarem Boden voraus.

Die Enzyklika greift erstmals auf der Ebene der päpstlichen Lehrverkündigung das Problem des Klimawandels auf (Nr. 20–26). Dahinter stehen eine Reihe von Konferenzen und Themengesprächen im Vatikan, in der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und dem Päpstlichen Rat Iustitia et Pax, in denen immer wieder auch die Einwände der sogenannten „Klimaskeptiker“6 gehört wurden. Mit der Feststellung der anthropogenen (menschlich verursachten) Zusammenhänge als Hauptursache des Klimawandels, die eine mögliche Wirksamkeit anderer Faktoren nicht ausschließen (Nr. 24), bezieht Papst Franziskus eindeutig Stellung. Methodisch bezeichnend ist, dass der Papst sein Plädoyer für entschlossenen Klimaschutz angesichts der Kontroversen um dieses Thema vor allem in den US-amerikanischen Kirchen mit kommunikationstheoretischen Überlegungen verknüpft: zum Umgang mit unterschiedlichen Meinungen (vgl. Nr. 60 f.), zur Schwäche der bisherigen Reaktionen auf die Umweltkrise bei den Entscheidungsträgern (vgl. Nr. 53–59) sowie zur Perspektive der am Rande Stehenden, die oft bloß als „Anhängsel“ und „Kollateralschaden“ abgetan würden (Nr. 49). Der Papst kritisiert im Kontext der Klimadebatte „einen Mangel an physischem Kontakt und Begegnung, […] der dazu beiträgt, einen Teil der Realität in tendenziösen Analysen zu ignorieren“ (Nr. 49). Diese erkenntnistheoretischen Überlegungen sind klar adressiert und kämpferisch.

Den theologischen Denkhintergrund der Enzyklika bildet die Theologie der Zeichen der Zeit, die 1965 in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 4 und 11) einen grundlegenden Perspektivenwechsel der katholischen Sozialethik eingeleitet hat. Die Herausforderungen der Krisen und Aufbrüche der je eigenen Zeit werden als Anrede Gottes an seine Kirche, die es im Licht des Evangeliums zu deuten gilt, verstanden.7 Methodisch folgt dem mit dem Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ ein empirisch basierter, kontextueller und praxisbezogener Ansatz. Auf diese Weise gewinnt die christliche Botschaft immer wieder neu Aktualität, statt „wie eine repetitive und abstrakte Botschaft [zu] klingen“ (Nr. 17). Die Beschreibung ökologischer und gesellschaftlicher Krisenphänomene verleiht „dem dann folgenden ethischen und geistlichen Weg eine Basis der Konkretheit“ (Nr. 15). Dieser Weg wird als „Dialog“ gekennzeichnet (insgesamt taucht der Begriff 23mal auf). Im fünften Kapitel der Enzyklika, in dem es um Leitlinien für Orientierung und Handlung geht, fällt das Stichwort „Dialog“ in jeder einzelnen Überschrift und kennzeichnet so einen Wandel im Modus der Sozialverkündigung. Der Dialog hat sowohl eine innerkirchliche Dimension (Dialog mit den Stimmen der Weltkirche, die erstmals ausführlich zitiert werden) als auch eine ökumenische und interreligiöse (vgl. besonders Nr. 7).

 

„Ungenießbares Manifest“?

Die jüngste Enzyklika ist weltweit über wiegend mit starkem Medienecho und großer Zustimmung aufgenommen worden. Es gab jedoch auch kritische Stimmen, nicht nur vonseiten der Republikaner in den USA, die der Enzyklika schon im Vorfeld den Kampf angesagt haben, sondern auch in Deutschland, beispielsweise von Daniel Deckers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juni 2015, der sie „ein moralinsaures Gebräu“ und ein „ungenießbares ökologisches Manifest“ mit „abgestandener Polemik“ nennt. Man kann den Skeptikern zugestehen, dass die radikale Kritik an den „strukturell perversen Systemen“ der Wirtschaft (Nr. 52) und der konsumistischen Verwandlung des Planeten in eine „unermessliche Mülldeponie“ (Nr. 21) wenig Raum für Differenzierung lässt. Die Chancen, Marktkräfte und innovative Technik für Umweltschutz und Armutsbekämpfung zu nutzen, werden kaum ausgelotet. Die Enzyklika folgt dem Stil prophetischer Rede, die aus päpstlichem Mund vielen ungewohnt klingen mag. Aber gerade durch die Zuspitzung auf die Notwendigkeit einer „ökologischen Umkehr“ (Nr. 216–221) im Sinne einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation wirkt der Text auf rüttelnd. Der Papst ist zu einem weltweit führenden Anwalt der Armen, der Natur und der Zukunft der Menschheit geworden. Mit dieser Botschaft im Rücken könnte auch die katholische Kirche endlich zu einer starken Stimme für die Einheit von Klimaschutz, Armutsbekämpfung und Schöpfungsverantwortung werden.
 

Markus Vogt, geboren 1962 in Freiburg im Breisgau, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik und seit Oktober 2015 Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München.


[1] Vgl. Acosta, Alberto: Buen vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben, München 2015.
[2] „Haus der Erde“ ist ein in der lateinamerikanischen Tradition geläufiger Topos; vgl. Boff, Leonardo: Unser Haus die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören, Düsseldorf 1996; ders., Haus aus Himmel und Erde – Erzählungen der brasilianischen Urvölker, Düsseldorf 2003.
[3] Dieser Topos findet sich bereits im Kompendium der Soziallehre der Kirche; vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, Nr. 171–184 und 466–487.
[4] Zu dem seit 100 Jahren gebräuchlichen Konzept der Humanökologie sowie seiner Rezeption in der katholischen Soziallehre vgl. Vogt, Markus: „Ökologische Gerechtigkeit und Humanökologie“, in: Gabriel, Ingeborg / Steinmair-Pösel, Petra (Hrsg.): Gerechtigkeit in einer endlichen Welt. Ökologie, Wirtschaft, Ethik, 2. Auflage, Ostfildern 2014, S. 64–86.
[5] Gleichwohl wurde eine wesentliche Chance zur Weiterentwicklung der katholischen Soziallehre verpasst, indem der Begriff Nachhaltigkeit, der bereits in den 1970-Jahren im Weltrat der Kirchen etabliert war, nicht systematisch entfaltet und mit der eigenen Tradition verknüpft wird; vgl. Vogt, Markus: Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, 3. Auflage, München 2013, 180–204 und 456–494.
[6] Vgl. Rosenberger, Michael: „Die Ratio der ‚KlimaReligion‘. Eine theologisch-ethische Auseinandersetzung mit klimaskeptischen Argumenten“, in: GAIA 23 (2/2014), 93–99.
[7] Vgl. Hünermann, Peter (Hrsg.): Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute. Anstöße zur weiteren Rezeption (Festschrift für Kardinal Lehmann), Freiburg 2006.

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