DIW-Chef Marcel Fratzscher behauptet, dass sich viele Menschen Sorgen um die Zukunft machten, die Eliten aber die Augen davor verschlössen. Wie beurteilen Sie Lage und Stimmung in diesem Wahljahr?
Jens Spahn: Da gibt es eine Ambivalenz. Auf der einen Seite schätzen fast neunzig Prozent der Menschen ihre persönlichen Zukunftsaussichten gut bis sehr gut ein. Das macht sich beispielsweise an der starken Binnennachfrage bemerkbar. Wenn aber nach der gesellschaftlichen Lage gefragt wird, dann sind die Einschätzungen weit weniger optimistisch, bisweilen sogar pessimistisch.
Natürlich speisen sich diese Unsicherheiten aus den Vorkommnissen der letzten Jahre: Wer hätte vor fünf bis sechs Jahren gedacht, dass ein russischer Präsident anfängt, Grenzen zu verschieben, dass in Aleppo Kinder vor unser aller Augen ermordet werden? Hier vor Ort in Deutschland hat die Migrations- und Flüchtlingsbewegung die Gesellschaft stark polarisiert und politisiert. Wir als politisch Handelnde stehen vor der Aufgabe, Vertrauen zurückzugewinnen.
Wie passt die Rentendiskussion in diesen allgemeinen Kontext?
Jens Spahn: Die gute wirtschaftliche Lage führt zu einer relativ stabilen Situation in der Rentenversicherung. Aber bei der Rente kochen die Emotionen immer schnell hoch, weil es eben um die Anerkennung der persönlichen Lebensleistung geht. Aber wahr ist auch: Altersarmut ist in Deutschland heute kein Massenphänomen, auch wenn lautstark darüber diskutiert wird. Manchmal klafft eine Lücke zwischen dem, was faktisch vorhanden ist, und dem, was an Ungerechtigkeit wahrgenommen und gefühlt wird. Ausgerechnet im Jahr der höchsten Rentenerhöhung seit 23 Jahren bricht eine politische Debatte los, als sei die halbe Republik ab nächstem Jahr im Alter arm.
Droht also im Wahljahr „Rentenpanik“?
Jens Spahn: Offensichtlich sind diejenigen, die sich von einer Panikmache Erfolge erhofft hatten, zur Vernunft gekommen. Auch die Gewerkschaften haben gemerkt, dass ihre Kampagnen einfach nicht zünden. Eigentlich wissen die Leute, dass es uns insgesamt, aber auch speziell den meisten Rentnern, so gut geht wie noch keiner früheren Generation. Ich bin
überzeugt, dass sich dieses Grundverständnis am Ende durchsetzen wird.
In dem von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Buch „Zukunftsfeste Rente“ beteuern Sie zunächst: „Die Rente ist besser als ihr Ruf.“ Aber ein paar Absätze weiter räumen Sie ein, dass die Sorgen und Fragen um die eigene Rente berechtigt sind. Können Sie diesen Widerspruch auflösen?
Jens Spahn: Es stimmt eben beides. Selbstkritisch muss ich sagen: Die Rentenversicherung hat sich deutlich besser entwickelt, als alle Prognosen dies vor zwanzig Jahren erwarten ließen. Das zeigt, dass Untergangsszenarien nicht eintreten müssen, selbst wenn sie teilweise jahrzehntelang kursierten. Andererseits gehört zur Wahrheit, dass man der jüngeren Generation sagen muss: Ihr seid mehr gefordert als jede andere Generation vor euch, euch frühzeitig um eure finanzielle Absicherung im Alter zu kümmern. Die Frage nach einer auskömmlichen Rente ist für Menschen mit Mitte zwanzig oder Anfang dreißig verständlicherweise unendlich weit weg und beschäftigt einen zum Glück nicht jeden Tag. Aber wenn man sie gänzlich außer Acht lässt, führt das manchmal zu falschen Vorstellungen darüber, wie die eigene Rente später aussehen wird.
Also ist in der Rentendebatte doch nicht alles „postfaktisch“?
Jens Spahn: Es ist im Grunde sehr einfach: Vor zwanzig, dreißig Jahren kamen noch vier, fünf Beitragszahler auf einen Rentner. In den nächsten Jahren bewegen wir uns auf das Verhältnis von 3:1 und dann 2:1 zu – bei steigender Lebenserwartung. Es wird ja immer beklagt, dass die Rente nicht mehr so stark steigt. Aber wichtig ist doch auch, was über die gesamte Rentendauer ausgezahlt wird und eben nicht nur die Höhe der monatlichen Rente. Anfangs betrug die durchschnittliche Dauer der Rentenauszahlung etwa sieben Jahre und liegt jetzt fast bei zwanzig Jahren. Das heißt: Heute kriegt man insgesamt deutlich mehr heraus.
Die Mathematik der demographischen Entwicklung lässt sich nicht wegreformieren – mit der Folge, dass die Jüngeren mehr Beitrag zahlen und bis 67 Jahre arbeiten müssen, während die Älteren auf manche Rentenerhöhung verzichten mussten. Auch künftig wird die Rente weniger stark steigen als die Löhne. Ich glaube aber, dass eine relativ faire Verteilung gefunden worden ist, bei der jeder seinen Beitrag leistet und nicht nur eine Generation alles tragen muss.
Gibt es neben den drei Kennzahlen – Rentenhöhe, Lebenserwartung und Beitragssatz – mit Sicht auf die Generationengerechtigkeit noch weitere Leitplanken?
Jens Spahn: Das sind erst einmal drei gute Stellschrauben. Hinzu kommt sicher noch das Thema private und betriebliche Vorsorge. Beide wollen wir stärken. Auch die Lebensarbeitszeit spielt eine Rolle. Viele vergessen, dass man diese Frage von zwei Seiten betrachten muss: auf der einen Seite längeres Arbeiten bis 67. Dazu gehört übrigens auch die „Flexirente“. Angesichts der Diskussionen im Vorfeld ist es schon erstaunlich, wie viele diese Möglichkeit bereits nutzen, um freiwillig länger beruflich tätig zu sein. Aber es lohnt sich eben durchaus: Ein Jahr länger arbeiten bedeutet sechs Prozent mehr Rente! Das andere ist der frühere Berufseinstieg: Stichwort G 8 und Bachelor-Master-System. In den 1990er-Jahren haben fast alle gesagt, man solle früher anfangen zu arbeiten und nicht bis dreißig studieren. Bei den aktuellen Debatten über G 8 und G 9 wird das inzwischen allzu gern vergessen. Aber zum Thema Generationengerechtigkeit gehört natürlich auch die Schule. Jedes Jahr verlassen 45.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss. Das ist die eigentliche soziale Ungerechtigkeit, hier wird die Grundlage für spätere Altersarmut gelegt. Dieses Thema darf die junge Politikergeneration, erst recht die Junge Union, nicht ruhen lassen. Die Lösung kann aber nicht sein – wie bei uns in NRW –, dass das Prüfungsniveau so weit gesenkt wird, bis am Ende jeder zu einem Abschluss kommt. Die entscheidende Frage lautet doch: Wie können wir die Jungs und Mädels, die es von zu Hause aus nicht so leicht haben, im Kindergarten und in der Grundschule besser unterstützen? Warum geben wir pro Schüler pro Jahr so viel mehr Geld für die Oberstufe aus als für die Grundschule? Das, was man mit drei, sechs oder acht Jahren nicht gelernt hat, holt man in der zehnten Klasse nicht mehr nach! Vorn in den Bildungsbiographien anzusetzen, präventiv tätig zu werden, wird viel zu wenig in den Fokus genommen.
Es gäbe also Anlass, über Ihre Initiative „Generationengerechtigkeit im Grundgesetz“ erneut nachzudenken?
Jens Spahn: Diese Initiative hatte zwei große Ziele. Das erste – die Schuldenbremse – ist geschafft, und sie wird im Moment auch noch segensreich eingehalten. Das zweite Ziel war, die Generationengerechtigkeit als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern; das haben wir leider bis heute noch nicht geschafft. Vielleicht können wir im neu gewählten Bundestag da noch einmal einen gemeinsamen Anlauf nehmen. Das Thema bleibt jedenfalls auf der Tagesordnung.
Sie schreiben, dass Wahltaktik eine treibende Kraft bei Rentenentscheidungen der letzten Jahre war. Sehen Sie diese Gefahr aktuell wieder?
Jens Spahn: Das ist fast ein demokratietheoretisches Thema – erst recht in einer Gesellschaft, in der ein Drittel der Wähler über sechzig Jahre alt ist und deren Wahlbeteiligung bei über achtzig Prozent liegt. Jeder gute Wahlkampfmanager wird sich fragen, wo die meisten Stimmen zu gewinnen sind. Und das sind eben die Älteren. So einfach ist das.
Die Lösung dafür könnte ein Familienwahlrecht sein, bei dem Eltern für ihre Kinder eine Stimme bekommen. Und ja, ich bin mir bewusst, dass sich in der Praxis auch Argumente dagegen finden lassen. Aber die grundsätzliche Idee scheint mir richtig: Wenn Familien ein größeres Stimmengewicht bekommen, wird sich der politische Fokus mehr dahin verlagern, wo mehr Stimmen zu holen sind. Zur Fairness gehört aber auch der Hinweis, dass die Älteren längst nicht nur an sich denken. In meinem Büro hängt der Brief einer Rentnerin, die mich auffordert: „Im Interesse meiner Enkelkinder, bleiben Sie bei Ihrer Meinung.“ Solche Seniorinnen und Senioren müssen wir als Verbündete in die Debatte mit einbinden.
Und auf der anderen Seite müssen die Jüngeren halt auch wählen gehen, so banal ist das auch. Nach der Brexit-Entscheidung wurde beklagt, dass die Älteren den Jüngeren die Zukunft geklaut hätten. Aber zur Wahrheit gehört, dass viele der Jüngeren schlicht nicht zur Abstimmung hingegangen sind. „Ihr müsst euch schon drum kümmern, dass es so ausgeht, wie ihr es euch wünscht“, ist die Botschaft an die Jüngeren. Wer meint, ein paar Likes bei Facebook würden reichen und das sei schon politisches Engagement, der betrügt sich selbst. Dann gehen Wahlen eben so aus wie in Großbritannien.
Aber wie viel Sicherheit geben wir den Jungen mit, damit sie sich selbstbewusst engagieren können? Die Riester-Rente wird für gescheitert erklärt, bei der betrieblichen Altersvorsorge schlägt die „Verbeitragung“ zu, die Lebensversicherung zahlt nicht mehr das aus, was man sich erhoffte, und den Aktien vertrauen die Deutschen nicht. Was entgegnen Sie denen, die warnen: „Finger weg von der kapitalgedeckten Altersvorsorge“?
Jens Spahn: Auf einem Bein steht man schlecht, wie wir in Westfalen sagen. Am Ende geht es um den Mix. Jetzt leben wir in Zeiten, in denen es der gesetzlichen Rente gut geht, aber Umlage- und Kapitalverfahren sind so etwas wie kommunizierende Röhren. Das heißt: Jetzt, wo die Zinsen niedrig sind, wäre eigentlich die Zeit für Aktien. Leider finden das weder die Deutschen allgemein noch die Lebensversicherer sehr attraktiv. Eigentlich müsste eine älter werdende Gesellschaft viel mehr Kapital im Ausland anlegen, um stärker von der Produktivität junger Gesellschaften zu profitieren.
Man sollte also auf mehrere Pferde setzen, auch mit kleinen Beiträgen kann man für das Alter viel erreichen. Dafür ist es übrigens wichtig, die Renteninformation der gesetzlichen Rente, die jedem per Post zugestellt wird, zu ergänzen: Diese Information sollte säulenübergreifend sein und Ansprüche aus den verschiedenen Produkten integriert darstellen. Hoffentlich ist es in Zukunft möglich, dass jemand, der eine Lebensversicherung, einen Riester-Vertrag, eine betriebliche Altersversorgung oder Ähnliches besitzt, eine einheitliche Übersicht über sein Alterseinkommen digital abrufen kann.
Es gibt Stimmen, die einen völligen Neuanfang bei der Rente fordern: „Pensionäre in das System integrieren“, „Grundrente für alle etablieren“ und so weiter. Sind Sie ein Freund solcher weitreichenden Überlegungen?
Jens Spahn: Als ich vor vierzehneinhalb Jahren im Bundestag angefangen habe, waren auch mir Wünsche von großen Würfen nicht fremd: dass mit einer größeren Gesundheitsreform, einer großen Steuerreform oder einer großen Rentenreform für die nächsten zwanzig Jahre alles geregelt werden könnte. Aber leider ist das wirkliche Leben anders. Wir befinden uns nicht im Jahr 1949, aber selbst damals entstanden die Systeme nicht aus dem Nichts heraus. Vielmehr haben wir es bei der Rente mit einem System zu tun, das weiterentwickelt werden muss, aber nicht revolutioniert werden kann – schon deshalb nicht, weil wir es hier mit den berechtigten Erwartungen von Millionen Menschen zu tun haben, die über Jahrzehnte Beiträge gezahlt haben und Anspruch auf Verlässlichkeit haben.
Aber wenn man sich anschaut, wie sich die deutsche Rente in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat, dann lässt sich – jenseits von manchen Ausschlägen in die falsche Richtung – sagen, dass wir jedenfalls ein großes Stück weiter sind als die meisten anderen europäischen Länder. In Frankreich steht immer noch das ganze Land still, wenn die Lokführer mit 57 statt mit 55 Jahren in Rente gehen sollen. Gerade die gesetzliche Rente bietet Anlass, optimistisch über Deutschlands Reformfähigkeit zu denken. Wenn es nötig ist, sind die beiden großen Volksparteien zu Reformen fähig.
Das Gespräch führten Thomas Köster, Koordinator Arbeitsmarkt und Sozialpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Bernd Löhmann am 12. Januar 2017.
-----
Jens Spahn, geboren 1980 in Ahaus, Bankkaufmann, Politologe, Mitglied des Deutschen Bundestages seit 2002, seit Juli 2015 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Mitglied des Präsidiums der CDU Deutschlands.