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Interview: „Es herrschen Unsicherheit und Unverständnis“

Anna Staroselski über jüdisches Leben in Deutschland nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel

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Wie haben Sie von dem bestialischen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erfahren? Wie haben Sie das erlebt?

Anna Staroselski: Als ich an dem Morgen die Nachrichten gecheckt habe. Zunächst konnte ich es noch gar nicht richtig fassen, habe aber sofort an meine Freunde in Israel gedacht und mich sofort bei ihnen gemeldet.

Am Vorabend des 7. Oktober, an dem der jüdische Feiertag „Simchat Tora“ hätte gefeiert werden sollen, hatte ich noch freudig mit meiner Familie zusammengesessen. Es war unfassbar, dass am nächsten Morgen der Schrecken über Israel und das jüdische Volk hereinbrach. Für mich war klar, dass wir etwas tun müssen. Ich habe mich in meiner Netzwerkgruppe kurzgeschlossen, und wir haben am nächsten Tag eine Kundgebung organisiert.

 

Wie waren die Reaktionen in Ihrem persönlichen Umfeld?

Schock, Trauer, Schmerz, auch Wut und Unverständnis, wie das überhaupt passieren konnte, waren die ersten Reaktionen. Diese Gefühle halten seitdem an. Es sind zum jetzigen Zeitpunkt immer noch mehr als 130 Menschen in Gaza in Geiselhaft. Dort findet ein schrecklicher Krieg statt, und sehr viele unschuldige Menschen sterben und leiden unter dem Terror der Hamas.

 

 

Foto: (c) Jonas Mayer

Wenn Sie heute, nach über zwei Monaten, zurückblicken: Was hat bei Ihnen der unfassbar brutale Terrorangriff ausgelöst?

Es war für mich klar, dass jetzt der Antisemitismus in Deutschland zunehmen wird. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hat 39 antijüdische Vorfälle pro Tag erfasst, das ist der Stand, den wir aktuell in Deutschland haben. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland in Sicherheit leben können und dass unsere Demokratie wehrhaft ist und bleibt. Was wir sehen, ist, dass Antisemiten nicht nur Juden hassen, sondern auch unser freiheitlich-demokratisches Zusammenleben.


Inwieweit hat der 7. Oktober das Leben von Juden in Deutschland verändert?

Viele meiner jüdischen Freunde fragen sich ernsthaft, ob sie eine Zukunft in Deutschland sehen. Ich habe einige Freunde, die nach Israel ausreisen wollen und die auch schon konkrete Maßnahmen treffen. In der jüdischen Gemeinschaft herrschen Unsicherheit und Unverständnis darüber, wie in Deutschland der Diskurs geführt wird und wie man in den letzten Jahren einfach nicht hinsehen wollte. Viele Jüdinnen und Juden fragen sich, ob sie im Alltag sicher sind. In der Öffentlichkeit trifft man auf antisemitische Kommentare, denen man sich nicht entziehen kann. Juden müssen im Alltag immer damit rechnen, mit Antisemitismus konfrontiert zu werden.

In der Staatsbibliothek Berlin gab es eine Protestaktion von Aktivisten, die im gesamten Gebäude Lautsprecher versteckt hatten und darüber antisemitische Erzählungen abspielen ließen. Das war beängstigend und gruselig. Ein anderes Beispiel ist, dass an vielen Universitäten anti-israelische Aktionen stattfinden, ob am Universitätseingang, in der Aula oder im Speisesaal. Diese Aktionen werden in vielen Fällen nicht unterbunden. Die Universitäten sind inkonsequent, greifen nicht durch und geben Jüdinnen und Juden keinen sicheren Raum. Sie geben ihnen auch nicht das Gefühl, dass sie sich gestärkt fühlen können – an Universitäten, die für Aufklärung, Wissenschaft und Faktenwissen stehen sollten und dafür, frei zu studieren. Wir erleben, dass sehr viel Unwahrheit verbreitet wird, es zu Terrorverharmlosungen kommt und Jüdinnen und Juden angegriffen oder wie etwa an der Freien Universität ausgeschlossen werden und ihnen der Zutritt zum Hörsaal von pro-palästinensischen Aktivisten verweigert wird.

 

Inwieweit hat sich Ihr Leben persönlich verändert?

Die Veränderung besteht darin, dass ich im Alltag viel aufmerksamer sein muss: Wo gehe ich hin, wo halte ich mich auf, wer weiß, wo ich mich aufhalte, wie komme ich sicher nach Hause – Fragen, die man sich im Alltag aus Sicherheitsgründen nun stellen muss. Und gleichzeitig ist es jetzt besonders wichtig, über Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden zu sprechen und auf den aggressiven Antisemitismus aufmerksam zu machen.

 

Sie haben in einem Zeitungsartikel von Pogromstimmung hierzulande gesprochen …

Ich komme darauf, weil die Hamas am 13. Oktober 2023 zur globalen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aufgerufen hat. An diesem Tag wurden auch in Deutschland Häuser, in denen Jüdinnen und Juden leben, mit Davidsternen markiert. Jüdische Eltern wollten aus Angst ihre Kinder nicht in die Kita oder in die Schule schicken. Wir erleben seit dem 7. Oktober in Deutschland Proteste, bei denen sich ein grenzenlos aggressiver Antisemitismus verbreitet, wo zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aufgerufen, wo Terror verherrlicht und verharmlost wird. Es stellt sich die Frage, ob der Rechtsstaat es schafft, mit diesen antidemokratischen Protesten umzugehen, und es scheint gerade so zu sein, als wäre das nicht der Fall.

 

Aus der Politik wurde immer wieder versichert, jüdisches Leben in Deutschland werde geschützt.

Die Sicherheitsbehörden nehmen die Probleme erfreulicherweise sehr ernst und tun alles Notwendige, um Jüdisches Leben zu schützen. Dennoch glauben Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht, dass sie sicher sind, sonst würden sich nicht viele die Frage stellen, ob sie eine Zukunft in Deutschland sehen. Aus der Politik hört man sehr klare Solidaritätsbekundungen, das ist wichtig, das ist auch richtig. Aber auf diese wichtigen Worte müssen auch Taten folgen.

 

Wie bewerten Sie die Unterstützung aus der Gesellschaft?

Wir sehen, dass zu Solidaritätsveranstaltungen immer weniger Bürger kommen, die bereit sind, ihre Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu bekunden. Wir sehen auch, dass Debatten verzerrt werden, dass mit Begriffen um sich geworfen wird, die weder Hand noch Fuß haben. Israel wird vorgeworfen, einen Genozid zu begehen. Das ist ein Völkerrechtsbegriff, dem eine Absichtserklärung zugrunde liegt, dass man ein Volk auslöschen will. Das ist in Bezug auf Israels Verteidigungskrieg in Gaza absolut nicht der Fall – Israel kämpft gegen die Hamas, nicht gegen das palästinensische Volk. Die Hamas hingegen hat in ihren Statuten festgeschrieben, dass ihr Ziel die Auslöschung Israels ist. Warum man davor die Augen verschließt, aber Israel dämonisiert, ist mir unerklärlich. Die Mehrheit der Gesellschaft positioniert sich in dieser Frage nicht. Ich frage mich, ob das mangelndes Interesse ist oder ob tatsächlich ein internalisierter Antisemitismus vorhanden ist und man sich deshalb nicht mit Jüdinnen und Juden in Deutschland und in Israel solidarisiert.

 

Sie studieren Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wie nehmen Sie die Stimmung an Ihrer Universität wahr?

An der Geschichtsfakultät der Humboldt-Universität gibt es einen Initiativkreis für Menschen, die sich mit Jüdinnen und Juden solidarisieren und die sich fragen, wie sie mit Antisemitismus umgehen sollen. Anfangs hat sich auch die Leitung der Universität deutlich positioniert und die Hamas-Verbrechen verurteilt. Leider ist es dennoch so, dass es Menschen gibt, die an der Universität arbeiten und sich öffentlich terrorverharmlosend äußern. Aufgrund der zum Teil aufgeheizten Stimmung gegen Israel gibt es viele jüdische Studenten, die sich nicht trauen, im Unterricht zuzugeben, dass sie jüdisch sind. Sie haben auch Angst, sich in die Debatte einzubringen, weil sie Sorge davor haben, auf Protest zu treffen oder angegriffen zu werden. Die Stimmung ist mittlerweile nicht mehr sachlich, sondern emotionalisiert und teilweise aggressiv.

 

Die Stimmung ist aber nicht nur pro-palästinensisch, sondern auch pro-israelisch …

Es gibt Menschen, die israelsolidarisch sind und Antisemitismus verurteilen, aber die sind sehr, sehr leise. Ein Beispiel ist die Initiative „Fridays for Israel“, die sich gegründet hat, nachdem „Fridays for Future“ durch antisemitische Äußerungen aufgefallen war. Die Initiative organisiert freitags an Universitäten israelsolidarische Kundgebungen. Dorthin kommen aber nur sehr wenige Leute. Die Studierenden, die dort hingehen, erzählen oft: „Ich habe Freunde, die inhaltlich bei uns sind, aber sich nicht zu kommen trauen.“ Ich frage mich, wie man von Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an Universitäten sprechen kann, wenn sich Menschen nicht trauen, sich gegen Antisemitismus auszusprechen.

 

Sie haben einmal geschrieben: „Antizionismus ist Antisemitismus.“ Was meinen Sie damit?

Antizionismus ist die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts von Jüdinnen und Juden, in ihrer Heimstätte zu leben. Israelis sehen im Antizionismus eine Existenzbedrohung. Wenn Antizionisten Israel das Existenzrecht absprechen und die Auslöschung Israels fordern, dann betrifft das ganz konkret das Leben der Menschen in Israel.

 

Antisemitismus ist in rechts- und linksextremistischen sowie muslimischen Kreisen verbreitet, aber auch in anderen Bevölkerungsgruppen. Wie ordnen Sie das ein, und wo sehen Sie die größte Gefahr?

Es ist nicht die Frage, welche Form des Antisemitismus schlimmer ist, sondern wie man alle Formen des Antisemitismus bekämpfen kann. Dafür ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig. Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden ist ein Gradmesser dafür, wie es um unsere Demokratie steht. Natürlich ist seit dem 7. Oktober vermehrt Antisemitismus aus der muslimischen Community wahrzunehmen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hat in ihrem letzten Bericht erfasst, dass fast neunzig Prozent der antisemitischen Vorfälle dem antiisraelischen Lager zuzuordnen sind. Auch hier zeigt sich, warum Antizionismus auch antisemitisch ist.

 

Im öffentlichen Diskurs wird oft beklagt, dass unschuldige Menschen in Gaza bombardiert werden. Was sagen Sie dazu?

Es muss sehr klar sein, dass auch dieses Leid ein absolut schreckliches Leid ist. Die Menschen, die im Gazastreifen leben, leben seit vielen Jahren unter dem Terrorregime der Hamas. Es gibt auch Palästinenser, die sich dagegen aussprechen, die kritisieren, wie die Hamas dort herrscht, dass beispielsweise Hilfslieferungen, die bei der Bevölkerung ankommen sollen, von der Hamas gekapert werden. Die Hamas missbraucht die eigene Bevölkerung als Schutzschilde. Wenn Israel versucht, Routen zu etablieren, über die die Menschen in Sicherheit gebracht werden können, versucht die Hamas, das zu verhindern. Das ist leider ein sehr trauriger Krieg, aber leider auch einer, den Israel gegen die Hamas führen muss.

 

Deutschland hat eine besondere historische Verantwortung. Wie ordnet die junge jüdische Generation diese besondere Verantwortung ein?

Es geht um die Erinnerungskultur in Deutschland und darum, wie man über die Shoah spricht. Es reicht nicht, am internationalen Holocaust-Gedenktag oder am Tag der Reichspogromnacht „Nie wieder!“ zu sagen. Man muss sich informieren über die bedrückende Lage durch den Antisemitismus im Land. Erinnern heißt auch handeln. Und es heißt, aktiv zu verstehen, was Verantwortung bedeutet, und zwar für die freiheitlich-demokratische Gesellschaft, für eine wehrhafte Demokratie, die nie wieder Diskriminierung und menschenverachtendes Gedankengut zulässt, einzustehen.

 

Werden die Pluralität und der Reichtum jüdischen Lebens in Deutschland richtig wahrgenommen?

Jüdisches Leben ist sehr bunt, etwa neunzig Prozent der Juden in Deutschland haben einen Migrationshintergrund und kommen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. 2021 fand das Fest anlässlich „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ statt. Das war ein Festjahr, in dem sehr viele Veranstaltungen und Projekte geplant waren, um jüdisches Leben in seiner Vielfalt und Pluralität kennenzulernen. Eigentlich bräuchte es diese Art von Sichtbarkeit jüdischen Lebens nicht allein in Gedenkjahren. Das Problem ist, dass die Sichtbarkeit jüdischen Lebens immer mit der Frage nach der Sicherheit von Jüdinnen und Juden zusammenhängt. Keine jüdische Veranstaltung kann ohne Sicherheit stattfinden. Das verhindert leider auch, dass man noch offener und lebendiger als jüdische Gemeinden und Organisationen in der Gesellschaft präsent sein kann.

 

Die jüdische Solidaritätshymne „Am Israel Chai“ wurde während der Shoah nach der Befreiung der ersten Konzentrationslager wieder verwendet. Was bedeutet „Am Israel Chai“ für Sie?

Übersetzt bedeutet „Am Israel Chai“ „Das Volk Israel lebt“. „Am Israel Chai“ ist für Jüdinnen und Juden schon immer ein Ausdruck der Selbstverteidigung und der Widerstandsfähigkeit gewesen. Und besonders in diesen Tagen ist das wieder ein Ausspruch, der zeigt, dass selbst, wenn es Menschen gibt, die unsere Auslöschung fordern und grässliche Morde an unserem Volk begehen, das Volk Israel lebt. Wir werden uns davon nicht unterkriegen lassen, sondern wir werden wehrhaft sein, denn über die Jahrhunderte ist immer wieder versucht worden, Jüdinnen und Juden auszulöschen, aber wir haben es als Minderheit geschafft, am Leben zu bleiben, und wir lieben das Leben, wir feiern das Leben bei allen unseren jüdischen Feiertagen. Das wird auch so bleiben.

Anna Staroselski, geboren 1996 in Stuttgart, 2020 bis 2023 Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V. (DIG), Sprecherin der WerteInitiative.jüdisch-deutsche Positionen e.V., Berlin.

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 14. Dezember 2023.