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Interview: "Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment"

Ursula von der Leyen über den European Green Deal als Zukunftsvision

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Im Dezember 2019 haben Sie den European Green Deal ausgerufen. Hauptziel ist die Klimaneutralität der Europäischen Union bis 2050. In Ihrer Rede sprachen Sie vom „Mann-auf-dem-Mond-Moment“ für Europa. Was ist damit gemeint?

Ursula von der Leyen: Das „Man-on-the-Moon“-Projekt der Amerikaner hat zu einem gewaltigen Innovationsschub mit weltweiter Technologievorherrschaft geführt. Das kann der Europäische Green Deal auch für Europa leisten. Die Bewohnbarkeit unseres Planeten entscheidet sich jetzt. Alles hängt davon ab, ob wir in der Lage sind, den Klimawandel zu stoppen und die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Europa geht voran und spielt für den Rest der Welt eine ganz entscheidende Rolle. Wie bei der Mondmission dürfen wir die Dimension der Aufgabe nicht scheuen, sondern wir müssen sie beherzt anpacken und bei anderen Begeisterung wecken. Ich bin überzeugt, dass der Europäische Green Deal eine großartige Chance für Europa ist – auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. Die Sorge um die Gesundheit des Planeten weckt Innovationskraft, verbindet Generationen und Kontinente.

 

Im Pariser Klimaabkommen hat sich die Staatengemeinschaft 2015 darauf geeinigt, die Erderwärmung auf unter zwei Grad, wenn möglich auf 1,5 Grad, zu begrenzen. Der European Green Deal soll aber nicht nur Klimawandel und Umweltzerstörung eindämmen, sondern auch eine nachhaltige Wirtschaft in der Europäischen Union etablieren. In welchen Bereichen der Wirtschaft sollen die Schwerpunkte liegen?

Ursula von der Leyen: Es geht nicht nur darum, die Wirtschaft nachhaltiger zu machen, sondern auch wettbewerbsfähiger in der Welt. Wir sehen bereits zunehmendes Interesse an nachhaltigen Produkten. Wenn die europäische Wirtschaft vorn mitmischen und nachhaltige Jobs schaffen will, müssen wir jetzt die notwendigen Hebel umlegen. Bei der Elektromobilität hat sich schon viel zu viel nach China verschoben. Unsere stolze Autoindustrie muss verlorene Jahre wettmachen. In vielen grünen Technologien führt Europa. Das wollen wir verteidigen und ausbauen. Zu den Klimazielen müssen alle Sektoren beitragen.

Natürlich gilt der Fokus den Branchen, die besonders energieintensiv sind und viele Treibhausgase freisetzen. Wenn wir uns die Emissionen seit 1990 betrachten, sehen wir, dass viele Sektoren ihre Emissionen bereits deutlich verringert haben. Zwischen 1990 und 2015 sind etwa die Emissionen der Industrie um 35 Prozent gesunken, die von Gebäuden um 25 Prozent. Das zeigt, was möglich ist. Umgekehrt hat der Flugverkehr 84 Prozent mehr Treibhausgase verursacht und der Straßenverkehr 22 Prozent. Da müssen wir ran. Ich sehe aber mit Freude, dass viele energieintensive Industrien längst an ihren Konzepten und Zielen arbeiten, weil sie wissen, dass der Wandel unausweichlich ist.

 

Wie wichtig sind Innovationen bei dem Projekt?

Ursula von der Leyen: Innovation ist bei der Klimawende alles. In einigen Bereichen gibt es bereits hervorragende Technologien für den Europäischen Green Deal, wie Elektromobilität, naturbasierte Dämmstoffe für die Renovierung von Gebäuden oder energiesparende Digitaltechnik. Aber auf anderen Feldern brauchen wir dringend Innovation, um den CO2Verbrauch schneller und deutlicher zu verringern. Ein hervorragendes Beispiel ist die Stahlproduktion. Hier setzen wir auf den sauberen Wasserstoff. Es gibt bereits spannende Pilotprojekte, etwa in Schweden. Europa kann helfen, diese Innovationen zu fördern und in der Breite bezahlbar zu machen. Das fördern wir auch mit unserem milliardenschweren Aufbaufonds „NextGenerationEU“.

 

Der European Green Deal ist ein Gemeinschaftsprojekt. Welche Rolle kann Europa beim Klimaschutz im internationalen Rahmen spielen?

Ursula von der Leyen: Die Erderwärmung stoppen wir nur gemeinsam. Europa wird alles daransetzen, seine ambitionierten Klimaziele zu erreichen: minus 55 Prozent Treibhausgase bis 2030 mindestens und Klimaneutralität bis 2050. Das können wir in Europa schaffen. Weltweit gelingt das aber nur, wenn andere Länder, die auch sehr viele Emissionen ausstoßen, mitziehen. Hoffnung macht mir, dass sich seit Europas Initiative Ende 2019 mit dem Europäischen Green Deal Schritt für Schritt viele weitere wichtige Industrieländer angeschlossen haben: China, Südkorea, Japan, Südafrika haben angekündigt, bis 2050/2060 klimaneutral werden zu wollen. Mit Joe Biden im Weißen Haus gibt es jetzt die riesige Chance, auch die USA mit ins Boot zu holen. Europa arbeitet gerade mit Partnern in aller Welt daran, die Klimaversprechen für den anstehenden Klimagipfel in Glasgow ambitionierter zu machen. Wir haben eine regelrechte „Green Deal Diplomacy“ entwickelt und knüpfen strategische Partnerschaften zwischen der Europäischen Union und anderen Ländern. Wir verpflichten uns gegenseitig zu Klimazielen und ganz konkreten Schritten dorthin. Wir können voneinander lernen und gemeinsam andere überzeugen.

 

Die Coronakrise überlagert derzeit alle anderen Politikfelder. Gefährdet die Pandemie das ambitionierte Ziel des European Green Deal?

Ursula von der Leyen: Nein. Im Gegenteil: Die Coronakrise hat zweierlei gezeigt. Erstens, dass der Verlust der Biodiversität nicht nur dramatisch für unsere Umwelt ist, sondern auch ein Nährboden für Pandemien. Viele haben den Zusammenhang zwischen dem rücksichtslosen Raubbau an der Natur und der Gefahr, dass Viren wie Corona aus dem Tierreich auf Menschen übergehen, verstanden. Aber die Krise hat auch gezeigt, wie rasch erhebliche Veränderungen möglich sind. Wir haben ja im vergangenen Jahr trotz der Krise auch einige positive Erfahrungen gemacht. Wir alle haben uns zum Beispiel über die bessere Luft in unseren Städten gefreut und über deutlich weniger Verkehr. Viele Dienstreisen haben sich dank digitaler Technik als verzichtbar herausgestellt. Es ist uns bewusst geworden, wie wertvoll Natur für unser Wohlbefinden ist. Städte haben Radwege ausgebaut und alternative Mobilitätskonzepte entwickelt. Das gibt doch Hoffnung. Beide Erfahrungen geben uns Rückenwind für den Europäischen Green Deal.

Wirtschaftlich gesehen kann diese Pandemie die grüne Wende sogar beschleunigen. Unser Investitionsprogramm „NextGenerationEU“ setzt gewaltige Investitionen in nachhaltige Projekte und klimaschonende Prozesse in Gang. 37 Prozent der Gesamtsumme von 750 Milliarden Euro fließen in nachhaltige und klimafreundliche Investitionen. Da geht es zum Beispiel darum, Flughäfen CO2-neutral zu machen oder Innovationen von Wasserstofftechnologien zur Marktreife zu bringen. Der Europäische Green Deal hat das Zeug, zum Wachstumstreiber für die Wirtschaft zu werden.

 

Auf dem EU-Gipfel Ende 2019 haben sich 26 Staaten der Europäischen Union dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet. Polen soll dieses Ziel später erreichen, aber Widerstand kam auch aus Ungarn, Tschechien und Estland. Droht der Europäischen Union bei der Klimapolitik eine Ost-West-Spaltung?

Ursula von der Leyen: Das sehe ich anders. Natürlich haben einige Länder, deren Energieversorgung stark von Kohle und Gas abhängt, weitere Wege zu gehen als andere. Aber im Herbst haben sich ausnahmslos alle 27 Mitgliedstaaten zum neuen Klimaziel für 2030 verpflichtet. Die Europäische Union soll 2050 klimaneutral sein, und das wollen wir als Gemeinschaft erreichen. Wir arbeiten intensiv mit diesen Ländern zusammen. Wir zeigen Wege und unterstützen sie finanziell, damit die Transformation gelingen kann – sozial fair und verträglich für die Wirtschaft. Vor Herausforderungen wie dem Kohleausstieg stehen ja auch Regionen in Deutschland, und da lassen sich Lösungen finden. Wichtig ist, dass wir das gemeinsame Ziel fest im Auge behalten und dafür sorgen, dass die Umstellung auf ein nachhaltigeres Wachstum in allen Regionen Europas als Gewinn empfunden wird.

Die große Mehrheit der Europäerinnen und Europäer versteht inzwischen, dass die Zerstörung durch den Klimawandel uns mehr kostet als der Kampf gegen ihn. Dürren, Überschwemmungen, extreme Wetterlagen, Versteppung, Gletschersterben – das ist ja erst der Anfang. Auch in Polen gibt es übrigens sehr viel Rückhalt für Umweltschutzfragen in der Bevölkerung. Und der Europäische Green Deal verfügt über zahlreiche Instrumente, mit denen wir gerade die besonders vom Wandel betroffenen Regionen unterstützen wollen. Unser „Just Transition Fund“ mit 17,5 Milliarden Euro soll gezielt Regionen helfen, die zum Beispiel aus der Kohle aussteigen. Aus dem Emissionshandel können zusätzliche Mittel für den Umbau hin zu einem moderneren und umweltfreundlicheren Wirtschaften kommen. Anreize für klimagerechte Gebäudemodernisierung können Millionen Haushalten helfen, Heizkosten zu sparen.

 

Das Europäische Klimagesetz gilt als zentraler Bestandteil des European Green Deal. Was wird in dem Gesetz geregelt?

Ursula von der Leyen: Das Klimagesetz gießt das gemeinsame europäische Ziel, die Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu machen, in Gesetzesform. Dadurch wird es für die 27 Mitgliedstaaten rechtlich bindend. Auch das erhöhte Klimaziel von mindestens minus 55 Prozent Treibhausgasen wird damit gesetzlich geregelt. Das schafft die dringend notwendige Planungssicherheit, die so wichtig ist für langfristige Investitionsentscheidungen in Wirtschaft und Verwaltung.

 

Zum European Green Deal gehört ein Zwischenziel 2030. Die Autoindustrie blickt mit Sorge auf mögliche höhere Klimaziele der EU und fürchtet ein vorzeitiges Aus des Verbrennungsmotors. Auch eine mögliche neue Euro-7Abgasnorm ist im Gespräch. Sind die Sorgen der Autoindustrie berechtigt?

Ursula von der Leyen: Wir sehen heute schon, dass zahlreiche Unternehmen, darunter auch wichtige Marken der deutschen Autoindustrie, mit ambitionierten Zielen vorangehen. VW exportiert in großem Stil nach China, und dieser riesige Markt setzt klar auf Elektromobilität. Da ist die Industrie der öffentlichen Diskussion in einigen Punkten sogar voraus. Viele Länder in der Europäischen Union und in der Welt haben angekündigt, sich auf mittlere Sicht vom Verbrennungsmotor zu verabschieden. Was die Unternehmen vor allem von uns wollen, sind Planungssicherheit für Investitionsentscheidungen und Vorgaben für realistische Zwischenziele. Die definieren wir im gemeinsamen Dialog mit der Wissenschaft und den Wirtschaftsverbänden. Wir müssen jetzt die Standards für die Zeit von 2030 bis 2050 festlegen. Europa muss beherzt in die Zukunft investieren. Ich will, dass unsere Industrie Vorreiter in Technologiefeldern wird, die die ganze Welt auch morgen noch braucht.

 

Zu den schwierigsten Fragen gehört die Finanzierung. Es ist von einigen Billionen Euro die Rede. Wie kann die europäische Klimapolitik finanziell bewältigt werden?

Ursula von der Leyen: Europa ist in einer guten Ausgangslage. Die Finanzmärkte sind längst aufgewacht, und privates Kapital sucht bereits auf breiter Front nach grünen  Investitionschancen. Wir haben mit „NextGenerationEU“ ein riesiges öffentliches Investitionsprogramm gestartet. Die „Green Bonds“ sind bei Anlegern überaus gefragt. Auch aus dem Europäischen Haushalt werden die Programme konsequent auf die Modernisierung der europäischen Wirtschaft ausgerichtet. Natürlich müssen auch die europäischen Mitgliedstaaten mitziehen. Inzwischen haben alle die Zeichen der Zeit erkannt. Wir haben mit dem Europäischen Green Deal einen soliden Plan, und die Mittel stehen zur Verfügung. Ich sehe Europa auf einem guten Kurs.

 

Ursula von der Leyen, geboren 1958 in Ixelles (Belgien), 2003 bis 2005 niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, 2005 bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2009 bis 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales, 2013 bis 2019 Bundesministerin der Verteidigung, November 2010 bis November 2019 stellvertretende Bundesvorsitzende der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, seit Dezember 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission.

 

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 19. April 2021.

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