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Interview: Geerbte und entdeckte Identität

Der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi über kulturelle und religiöse Prägungen

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Herr Ourghi, können, wollen, müssen in Deutschland lebende Muslime Deutsche werden?

Abdel-Hakim Ourghi: Da müsste man erst definieren, was es heißt, Deutscher zu sein, denn Sie meinen wohl nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit. „Deutscher zu werden“, so, wie Sie es vielleicht verstehen, ist in erster Linie eine Frage des Wollens, aber auch das „Können“ spielt hinein. Ein Mensch, der in einer anderen Kultur sozialisiert worden ist, wird sie nicht von heute auf morgen hinter sich lassen können. Deshalb kann es nicht um Selbstaufgabe gehen, sondern um die Bereitschaft, etwas Neues zu lernen, auch um den Willen, sich integrieren zu lassen! An erster Stelle steht der Respekt vor dem Grundgesetz, vor der Rechtsordnung und vor dem Nächsten.

Dabei sollte man die Brücken zwischen beiden Kulturen nicht unterschätzen. Sie ruhen beidseitig auf dem Gebrauch der Vernunft und vor allem der Selbstkritik. Für die Muslime geht es darum, die fehlende Selbst- und Islamkritik und Sprachlosigkeit, die sie in ihren Heimatländern gelernt haben, zu überwinden und das Gegenteil davon hier freudig einzuüben und zu praktizieren. Darin bestehen Zugänge, wie Menschen anderer Kulturen beginnen, etwas zu lernen, anders zu denken und zu fühlen, sich einzufühlen, sich und andere zu respektieren.

 

Was bedeutet „Selbstkritik“, wenn Sie an die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht denken?

Abdel-Hakim Ourghi: Es geht jetzt darum, zu verhindern, dass die Geschehnisse von Köln das Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten auf Dauer negativ beeinflussen. Dazu gehört auf muslimischer Seite ein Verständnis dafür, dass die Vorfälle bei der Mehrheitsgesellschaft Befürchtungen auslösen, denen sich nur durch eine sachliche Diskussion begegnen lässt. Als Erstes gilt es anzuerkennen, dass unter den Tätern Flüchtlinge waren, wohl vor allem muslimische Nordafrikaner. Dann sollte niemand reflexartig behaupten, die sexuellen Übergriffe auf Frauen hätten nichts mit religiösen Prägungen aus dem Islam zu tun. Darüber müssen wir ehrlich reden und Konsequenzen daraus ziehen.

Umgekehrt ist Differenzierung geboten. Die meisten Menschen, die aus dem arabischen Raum nach Deutschland kommen, suchen hier Schutz – vor Krieg oder vor dem politischen Islam. Sie haben ein großes Interesse daran, sich zu integrieren und friedlich hier zu leben.

 

Wie sieht denn die Wahrnehmung der Ereignisse in Köln unter Muslimen in Deutschland aus?

Abdel-Hakim Ourghi: Ich glaube, dass die meisten hier lebenden Muslime diese Verbrechen für verabscheuungswürdig halten, mit den Opfern mitfühlen und sich die Aufklärung der Taten und Bestrafung der Täter wünschen. Danach muss man allerdings sortieren, wer für die Muslime spricht. Da gibt es schon ein Schönreden, dass sexuelle Belästigung nichts mit dem Islam zu tun habe, so wie es früher immer hieß, der Islam habe nichts mit Gewalt zu tun. So warnen muslimische Wortführer unter den Dachverbänden aktuell vor einer „Kulturalisierung des Verbrechens“ oder davor, alle hier lebenden Muslime als Sündenblöcke zu behandeln. Es gibt sogar Apologeten, die den für mich unerträglichen Vergleich anstellen, dass es beim Oktoberfest oder beim Karneval auch häufig zu sexuellen Belästigungen von Frauen durch stark alkoholisierte Männer komme.

Wer sich so verharmlosend äußert, offenbart Realitätsverleugnung und Ignoranz gegenüber den Opfern, den sexuell belästigten Frauen. Beschönigungen sind Bestandteil des Problems, passen aber in den eingeübten Diskurs von der Opferrolle der Muslime. Wir brauchen dringend eine ehrliche und mutige Debatte, nicht nur über die religiös motivierte Tabuisierung der Sexualität, sondern über religiös legitimierte Gewalt.

 

Stimmt es denn, dass das Problem der sexuellen Belästigung von Frauen in muslimisch geprägten Ländern ein besonderes Ausmaß besitzt?

Abdel-Hakim Ourghi: Gewiss spielen einige Koranstellen aus der medinensischen Periode (622–632) bis heute eine zentrale Rolle bei der Unterdrückung von Frauen und ermutigen Männer zu einem abwertenden Umgang mit Frauen. Besonders in diesem Teil des Koran werden Frauen zur zweiten Klasse der muslimischen Gemeinde degradiert. Laut dem Koran (4:3) ist es dem Mann erlaubt, bis zu vier Frauen zu heiraten sowie mit seinen Sklavinnen im Konkubinat zu leben. Allerdings hat die Gleichbehandlung der vier Ehefrauen einen sehr hohen Stellenwert. In derselben Sure (4:34) betont der Koran die einseitige männliche Dominanz gegenüber Frauen, denn „die Männer stehen über den Frauen“. Die Tradition des Propheten (Sunna) verschärft die Aussagen sogar, etwa: „Frauen mangelt es an Verstand und Religion“, „die meisten Bewohner der Hölle sind Frauen.“

Auf diesen Grundlagen legte das islamische Recht im Laufe der Jahrhunderte den Grundstein zu Geringschätzung und Erniedrigung der muslimischen Frauen. Verließe die Frau ihr Zuhause ohne Kenntnis oder Einverständnis des Ehemannes, so würden die Engel sie verfluchen, bis sie zurückkehrt. Auf Reisen muss sie unbedingt von ihrem Vormund begleitet werden. Und tatsächlich werden Frauen in einigen arabisch muslimischen Ländern ohne männliche Begleitung leicht Opfer sexueller Nötigung, selbst wenn sie eine Kopfbedeckung tragen.

 

Gibt es Ansätze, auf diese Einflüsse zu reagieren?

Abdel-Hakim Ourghi: Diese Koranverse oder die Tradition des Propheten müssen in ihrem historischen Entstehungskontext verstanden werden. Sie sind für das 7. Jahrhundert gemacht. Die heutigen Muslime müssen sich der Tatsache bewusst werden, dass wir mit dem Koran und der Sunna nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Mohammed stand. Diese Quellen müssen gemäß der jetzigen Zeit neu interpretiert werden. Darüber hinaus darf eine differenzierende Islamkritik nicht als Beleidigung der Muslime aufgefasst werden. Es geht um eine reflektierende Aufklärung des Islam.

 

Lassen sich denn diese Prägungen durch erlernte neue Regeln überformen? Mit anderen Worten: Können muslimische Männer ein anderes Frauenbild verinnerlichen?

Abdel-Hakim Ourghi: Jeder Mensch kann sich ändern. Es gibt eine geerbte Identität und eine eigene, zu entdeckende Identität. Die eine wird von den Eltern, von der Gesellschaft vermittelt, erwächst aber auch durch den reflektierenden Umgang mit der eigenen Geschichte und Kultur. Die zweite, die zu entdeckende Identität gewinnt durch die Begegnung mit der anderen Kultur Profil und Bereicherung. Wer diesen Findungsprozess durchmacht, was bedeutet, dass man Überliefertes auch infrage stellt und sich auf Neues einlässt, kann sich nicht nur selbst neu entdecken, sondern auch problemlos in einer anderen, freiheitlichen Gesellschaft leben. So kann – trotz aller individuellen oder gemeinschaftlichen Unterschiede – eine solide Grundlage für das friedliche Zusammenleben entstehen.

Das gilt für jeden Menschen: Wenn beispielsweise ein junger Araber nach Europa oder in den Westen kommt, erlebt er am Anfang einen kulturellen Schock, doch kommt es auf die persönliche und individuelle Offenheit an. Wenn sie vorhanden ist, kann man schon einiges erreichen – auch unabhängig vom Alter. Am Anfang steht das Erlernen der deutschen Sprache, sie ist auch der Schlüssel zu dem persönlichen Änderungsprozess, der zur Akzeptanz der neuen Kultur führt.

 

Woran machen Sie diese positive Erwartung konkret fest?

Abdel-Hakim Ourghi: Wir haben ja durchaus viele Muslime, die sehr gut integriert sind und in den verschiedensten Bereichen hier arbeiten. Selbst muslimische Intellektuelle – Journalisten, Rechtsanwälte, Dozenten – gibt es. Den menschlichen Zusammenhalt finden Sie in Kindergärten, Schulen, Universitäten, in den Fabriken – ohne dass die Religionszugehörigkeit eine Rolle spielt.

Das zeigt, was möglich ist. Aber es schmälert nicht die andere Aufgabe: Es gibt Parallelgesellschaften in unseren Städten, in denen sich seit einiger Zeit ein konservativer Islam etabliert – nicht zuletzt vertreten von muslimischen Dachverbänden. Wir benötigen gut fundierte Integrationskonzepte, die Lehrern und Sozialarbeitern eine professionelle Ausund Weiterbildung ermöglichen. Die Erziehung durch konservative „Import Imame“ sollte der Vergangenheit angehören.

 

Was wäre als Beitrag der bereits integrierten Muslime in der aktuellen Lage verlangt?

Abdel-Hakim Ourghi: Die Muslime könnten einen hervorragenden Beitrag leisten, und zwar dadurch, dass sie die neu hinzukommenden Menschen in den muslimischen Gemeinden aufklären und ihnen den Weg zeigen, der zur Integration in der hiesigen Gesellschaft führt. Allerdings ist die Frage, wer dort eine solche Rolle übernehmen soll. Leider ist es so, dass die Gemeinden bei der Integration ihrer jetzigen Mitglieder noch vieles erledigen müssten. So bleibt vor allem die Möglichkeit, Menschen auf einer individuellen Ebene zu helfen – beim Briefelesen, Übersetzen, auf den Ämtern und so weiter. Das machen schon sehr viele. Ich gehöre übrigens auch dazu.


Abdel-Hakim Ourghi, geboren 1968 in Oran (Algerien), Leiter der Abteilung Islamische Theologie / Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Freiburg.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 15. Januar 2016.