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Der Bildungsforscher John Hattie über einflussreiche, leidenschaftliche Lehrer

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Herr Professor Hattie, Sie messen dem „Lehrer“ eine herausragende Rolle für den Bildungserfolg zu. Wie sieht Ihrer Meinung nach das Profil eines guten Lehrers aus?

John Hattie: Ja, der Lehrer hat für mich in der Tat eine herausragende Bedeutung. Nur einflussreiche, leidenschaftliche Lehrer können erfolgreich unterrichten. Alles andere ist weitaus weniger wichtig. Beispielsweise beteilige ich mich nicht mehr an Debatten über Lehrmethoden – sie sind destruktiv und lenken uns nur ab. Zwar suhlen wir uns gern in diesen Debatten, aber sie bringen uns dazu, das eigentliche Thema zu ignorieren: Für mich ist allein der Einfluss des Lehrens entscheidend, und dazu müssen wir wissen, wie wir Einfluss ausüben.

Ein großartiger Lehrer („great teacher“) strebt leidenschaftlich nach Einfluss. Wobei diese Leidenschaft nicht nur bedeutet, dass man gerne unterrichtet, sondern diese Leidenschaft zielt auf das Lehren ab, der man Zeit und Kraft widmet und die man zu einem zentralen Aspekt der eigenen Identität und des eigenen Lebens werden lässt.

Das ist nicht Besessenheit, die das ganze Leben beherrscht – wie bei besessenen Glücksspielern, besessenen Paradiesvögeln und besessenen Weight Watchers. Vielmehr handelt es sich um eine harmonische Leidenschaft, die Lehrern eigen ist, die das Lehren als einen wichtigen Teil ihrer Identität ansehen und dieser Tätigkeit ihre ganze Aufmerksamkeit und Konzentration widmen. Für sie gibt es sowohl während als auch nach der Lehrtätigkeit Momente der Weiterentwicklung, indem sie versuchen, sich zu verbessern, indem sie Feedback begrüßen, das ihnen dabei hilft, ihren Einfluss auf den Lernprozess ihrer Schüler zu maximieren.

Wenn ich, was nicht selten vorkommt, Schulen und Klassen besuche, sehe ich Beweise für den Einfluss von Lehrern, und ich darf anmerken, dass es durchaus zahlreiche harmonisch-leidenschaftliche Lehrer mit großem Einfluss gibt. Nach meiner Schätzung gehören etwa in Großbritannien dreißig bis vierzig Prozent der Lehrer dieser Kategorie an. Es gibt sie also, die großartigen Lehrer, in unserer Mitte, und sie bedürfen unserer Unterstützung und unserer Aufmerksamkeit.

 

Was zeichnet großartige Lehrer im Umgang mit ihren Schülern aus?

John Hattie: Dazu muss man vorwegschicken, dass Schüler nicht unbedingt zur Schule kommen, um ins Denken zu investieren. Wie wir in unserem neuen Buch darlegen, ist der Geist nämlich nicht für ein Übermaß an Denktätigkeit angelegt. Denken und Lernen verlangen gezieltes Handeln, gezielte Praktiken und gezielte Aufmerksamkeit für das, was wir nicht wissen.

Das wiederum setzt bei den Schülern voraus, dass sie Energie einsetzen. Zudem besteht aber das Risiko, falsch zu liegen und vor seinesgleichen als jemand dazustehen, der etwas nicht kann. Erfolgsgarantien gibt es nicht, sodass die Anstrengungen vergeblich oder sogar peinlich sein können. Dazu kommt, dass die investierte Energie nicht mehr für angenehmere Tätigkeiten aufgewendet werden kann, die nichts mit Denken zu tun haben. Zugespitzt gesagt, ist nicht zu lernen einfacher und schützt vor unangenehmen Fehlschlägen.

Mit Faulheit hat Nicht-Lernen übrigens nichts zu tun: Denn wir Menschen, insbesondere Kinder, sind Geschöpfe, die mit ihren begrenzten persönlichen Ressourcen sparsam, vorsichtig und sehr berechnend umgehen.

Harmonisch-leidenschaftliche Lehrer sind sich all dessen sehr bewusst. Deswegen leben sie ihren Schülern auch vor, wie viel Spaß man dabei haben kann, wenn man ihre Passion für Englisch, Mathematik, Musik, Sport und so weiter teilt. Sie geben ein Beispiel dafür, wie man Feedback aufnehmen und verwenden kann. Und sie haben ein Gefühl dafür, wann schnell und wann langsam gedacht werden muss.

Dem entgegen steht das Defizit-Modell, bei dem die Schüler als Problemfälle behandelt werden, für die man Lösungsmöglichkeiten sucht. Da braucht man mehr Prüfungen, da muss man sich etwas überlegen, wie sie ruhig zu halten sind. Schnell ist man dann bei der Überlegung: Wenn wir nur weniger Schüler und mehr Zeit und Ressourcen hätten, wenn die Schüler nur aus gut situierten Elternhäusern stammten und wenn sie ihre persönlichen Probleme zu Hause lassen würden, dann könnten wir etwas bewirken.

Großartige Lehrer setzen nicht voraus, dass ihre Schüler genauso ausgestattet sind wie sie selbst, und versuchen stattdessen, den Schülern ihre eigene Leidenschaft nahezubringen. Großartige Lehrer möchten, dass ihre Schüler nicht nur etwas leisten, sondern auch etwas meistern. Es reicht nicht, eine Hausaufgabe rechtzeitig, ordentlich und mit der richtigen Länge abzugeben, man muss auch Spaß am Erwerb von Wissen haben. Großartige Lehrer möchten, dass ihre Schüler durch die Oberfläche in die Tiefe vordringen, das heißt, dass aus der Kenntnis zahlreicher Fakten und Ideen der Wunsch entsteht, die Teile dieses Wissens miteinander in Beziehung zu setzen und auszuweiten. Das setzt qualitativ hochwertige Gespräche im Klassenzimmer voraus, wobei mehr Fragen von den Schülern gestellt werden sollten als von den Lehrern.

 

Neben „Leidenschaft“ erwähnten Sie „Einfluss“ als eine zentrale Quelle guter Schülerleistungen. Können Sie das erläutern?

John Hattie: Es geht nicht nur um Leidenschaft, es geht um Wirkung, um die Größe unseres Einflusses auf alle Schüler in der Klasse. Die überraschendste Erkenntnis, die wir aus einer Synthese von zurzeit mehr als 1.000 Meta-Analysen aus etwa 60.000 Studien mit annähernd 250 Millionen Schülern gewonnen haben, liegt darin, dass eigentlich fast alles funktioniert. Der Nullpunkt ist erreicht, wenn ein Unterricht nicht mehr greift, und es zeigt sich, dass nur sehr wenige Lehrer Schaden anrichten. Die Antwort auf die Frage, was zur Leistungsverbesserung beiträgt, lautet also wirklich: fast alles.

Das erklärt, warum wir es allen Lehrern erlauben, in geschlossenen Klassenzimmern das zu tun, was sie für das Beste halten, denn es ist nachweislich so, dass sie das Lernen fördern. Und weil fast alles Wirkung zeigt, kann auch die Politik in den meisten Fällen nachweisen, dass sie das Lernen fördert. Selbst die Einführung neuer Schuluniformen kann auf diesem Niveau Effekte zeigen.

Wenn wir aber die durchschnittliche Wirkung als Maßstab nehmen – in der Fachsprache d<.40 – sieht vieles ganz anders aus. Am meisten fasziniert mich, welche Eigenschaften eines Lehrers zu einer überdurchschnittlichen Wirkung führen, und darum geht es auch in „Visible Learning“ (2008) und „Visible Teaching“ (2011). [Anmerkung der Redaktion: Von den 138 Einflussfaktoren befinden sich 66 Faktoren über einem Schwellenwert von d ≥.40. Am meisten Bedeutung misst John Hattie den Faktoren „Vertrauen der Schüler in die eigene Leistung“, „altersgerechtes Unterrichten entsprechend der kognitiven Entwicklung“ und „fortwährende Überprüfung des Unterrichtserfolges“ bei. Aber auch „Klarheit der Lehrperson“ und „Feedback an den Lehrer“ spielen eine wichtige Rolle.]

 

Unter deutschen Lehrern sind allerdings laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts 48 Prozent der Befragten der Ansicht, sie hätten nur wenig oder keinen Einfluss auf ihre Schüler. Wie schätzen Sie dieses Ergebnis ein?

John Hattie: Mit dieser Studie bin ich nicht vertraut, möchte aber darauf hinweisen, dass 75 Prozent der Lehrer glauben, die Qualität der Lehrer sei entscheidend für die schulischen Leistungen eines Kindes. Es wäre deprimierend, wenn etwa die Hälfte glaubte, nur geringen oder keinen Einfluss zu haben. Schließlich haben zahlreiche Studien gezeigt, wie stark der Glaube daran ist, dass Lehrer Änderungen bewirken können. Andererseits könnten sich auch geringe Erwartungen wie eine selbsterfüllende Prophezeiung auswirken. Meine Arbeit an Visible Learning zeigt, dass der Einfluss der Lehrer größer ist als der aller anderen Faktoren, die wir bis zu einem gewissen Grad steuern können. Außerdem ist der Glaube daran, etwas verändern zu können, eine der wirkmächtigsten Erwartungen, die das Lernen beeinflussen. Was wir in den Schulen brauchen, sind zusätzliche Möglichkeiten, Lehrern und Schulleitern in regelmäßigen Abständen die Art und Größe ihres Einflusses vor Augen zu führen. In Neuseeland haben wir dazu ein Tool – das „e­asTTle“ (siehe http://e-asttle.tki.org.nz/) – entwickelt, das auf freiwilliger Basis außergewöhnlich gut angenommen worden ist.

 

In Deutschland werden aktuell Modelle diskutiert, selbstbestimmtes Lernen in den Mittelpunkt zu stellen und Lehrer mehr als Lernbegleiter zu begreifen. Wie stehen Sie dazu?

John Hattie: Die meisten von uns möchten das Tempo des Lernens selbst bestimmen, aber auch das ist eine erlernte Fähigkeit. Viele von uns brauchen Lehrer, wenn sie etwas Neues lernen, jemanden, der sich mit Lernprozessen auskennt und weiß, welcher Lernschritt als nächster angebracht wäre, und der es mit Feedback ermöglicht, den Lernprozess anzupassen, zu unterbrechen oder fortzuführen. Wichtig ist, dass wir, wenn wir mit dem Lernen anfangen, eine Vorstellung davon bekommen, wie sich der Lernerfolg später darstellt. Die Menschen sind anpassungsfähig – anpassungsfähiger, als die Befürworter selbstbestimmter Verfahren meinen! Beim Konzept eines „Lernbegleiters“ widerstrebt mir, dass es wie etwas Nebensächliches klingt. Dagegen müssen sich Lehrer doch als Mittler des Wandels verstehen, sie müssen gezielt Praktiken vermitteln, Neues einbringen, dem Schüler zeigen, wie es weitergeht, Feedback liefern und sagen, wie der Erfolg aussieht. All das hat nichts mit Führen, sondern mit Aktivieren zu tun.

 

Sind all diese Eigenschaften erlernbar oder meinen Sie, angehende Lehrer sollten vor dem Beginn ihrer Ausbildung einer Auswahlprüfung unterzogen werden?

John Hattie: Ja, diese Eigenschaften sind erlernbar. Wir wissen, dass der Erfolg – das „Überleben“ als Lehrer in den ersten Jahren – mit am meisten durch den Intelligenzquotienten bestimmt wird. Später kommen andere Faktoren ins Spiel: Pflichtbewusstsein, Offenheit für neue Erfahrungen, die Bereitschaft, den eigenen Einfluss zu bewerten und so weiter. Im Rahmen eines großen Forschungsvorhabens haben wir ein Auswahlprogramm entwickelt, mit dem wir diejenigen bestimmen können, die aus einer Ausbildung als Lehrer den meisten Nutzen ziehen können. Die Korrelationen zwischen kognitiven, affektiven und Beziehungsfaktoren sind sämtlich positiv, das heißt, wir können die Auswahlprüfung vornehmen, ohne dadurch die besten Lehrer zu verlieren.

 

Sind Sie dafür, Lehrer auf Lebenszeit zu beschäftigen? Welche Vergütungen und Sanktionen sollte es Ihrer Meinung nach geben?

John Hattie: Wir brauchen anständige Beschäftigungsbedingungen für professionelle Lehrer; wir brauchen Weiterbildung, um ihre professionellen Fähigkeiten zu schulen. Vor allem muss auch ihre Erfahrung finanziell belohnt werden. Damit will ich nicht einer Bezahlung nach Leistung das Wort reden. Stattdessen brauchen wir mehr Klarheit zum Thema Erfahrung, und wenn diese einmal erworben wurde und genutzt wird, müssen wir das entsprechend entlohnen. Meine größte Sorge ist, dass sich in Australien das Anfangsgehalt und das höchste Gehalt eine Lehrers nur um den Faktor 1,4 unterscheiden – das ist nicht optimal, wenn wir den Lehrerberuf für die Besten attraktiv machen wollen, und es zeigt auf drastische Weise, dass wir nicht berücksichtigen, dass die Erfahrung unserer Lehrer im Lauf ihres Lebens wächst.

 

Kommen wir abschließend zu den Eltern: Aus Studien geht hervor, dass deutsche Eltern immer mehr Zeit da­ mit verbringen, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu betreuen. Welchen Einfluss haben Eltern auf den Lernerfolg ihrer Kinder? Kann ein starkes Engagement der Eltern auch negative Effekte haben?

John Hattie: Eltern können eine sehr große Wirkung ausüben, besonders im Hinblick auf die Unterstützung ihrer Kinder und die Erwartungen, die an die Kinder gerichtet sind. Sie können etwas bewirken, wenn sie regelmäßig über das Lernen sprechen, aber wenn sie sich eher als „Aufpasser“ betrachten, die nur darauf achten, dass die Hausaufgaben erledigt werden, ist die Wirkung gleich null bis negativ. Also: mehr zuhören, wenn es um Lernerfahrungen geht; nicht fragen: „Was hast du heute gelernt?“, sondern: „Welches Feedback hast du heute von deinen Lehrern bekommen?“

Solange die Kinder klein sind, ist es gut, wenn Eltern ihren Kindern vorlesen, wenn sie ihren Kindern Fragen stellen und umgekehrt erlauben, dass die Kinder noch viel mehr fragen. Es geht darum, eine wissensdurstige Neugierde zu entwickeln!

 

Seit der ersten PISA-Studie wurde das deutsche Schulsystem in verschiedenen Bereichen reformiert. Wozu raten Sie?

John Hattie: Soweit ich es übersehen kann, hat sich an der PISA-Einstufung Deutschlands im letzten Jahrzehnt wenig geändert. Zu beachten ist, dass die unternommenen Veränderungen „strukturell“ sind und also aus solchen Maßnahmen bestehen, die – wie Visible Learning zeigt – sehr geringe Auswirkungen haben. Wenn sich Deutschland nicht darauf konzentriert, wie der Einfluss jedes einzelnen Lehrers auf jeden einzelnen Schüler gesteigert werden kann, wird sich kaum etwas ändern.

Am wichtigsten ist also, leidenschaftlichen Lehrern und Schulleitern mit viel Einfluss hohe Priorität und Wertschätzung zukommen zu lassen, denn auf sie gehen die meisten Änderungen zurück. Es ist widersinnig und kontraproduktiv, die Einflussreichsten zu dämonisieren.

Entscheidend ist es, den Schulen Instrumente an die Hand zu geben, die ihnen regelmäßige und aussagekräftige Informationen über ihren Einfluss liefern. Über unser Tool habe ich ja schon gesprochen. Der Berufsstand der neuseeländischen Lehrer hat die Verwendung begrüßt. Selbst nach inzwischen zehn Jahren seit seiner Einführung wird das Tool von den meisten Schulen regelmäßig eingesetzt.

Die Fortschrittsnachweise einer jeden Schule werden somit extern bewertet, ohne weitere nationale Tests, internationale Tabellen und ohne Zuckerbrot und Peitsche. Den Erfahrungsbereich der Lehrer zu erweitern, anstatt Halbprofessionelle und Lehrerhilfen einzustellen, ist zwar kostspielig, aber das kann durch Einsparungen bei vielen strukturellen Neuerungen ausgeglichen werden.


John Hattie, geboren 1950 in Timaru (Neuseeland), Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne (Australien). Hattie gilt als einer der einflussreichsten Bildungsforscher der Gegenwart.

Das Interview führte Felise Maennig-Fortmann.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim.

 

Zum Weiterlesen

Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement, Verlag Taylor & Francis, London 2008.

Visible Learning for Teachers: Maximizing Impact on Learning, Verlag Taylor & Francis, London 2011. Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler 2013. Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning for Teachers“, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler (erscheint voraussichtlich im Januar 2014).

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