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Interview: „In Trump erkennen wir die eigene Gegenwart und Zukunft“

Der Faktor Angst in den US-Wahlen

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Mit Blick auf die Entwicklung der amerikanischen Demokratie, aber auch der Demokratien weltweit: Welche Einsicht, Befürchtung und Hoffnung bewegen Sie wenige Tage nach den US-Wahlen?

Stephan Bierling: Die Einsicht ist, dass wir das Phänomen Donald Trump immer noch nicht richtig verstanden haben. Wir haben nicht verstanden, dass Angst die zentrale Motivation für Wahlentscheidungen großer Teile der Gesellschaft ist. Das gilt für die USA, es ist aber auch ein darüber hinausgehendes, weit verbreitetes Phänomen in einer Zeit, in der die tragenden Säulen der Innen- und Außenpolitik der vergangenen 75 Jahre gerade zusammenbrechen.

Trump wird die USA wie kein anderer Präsident seit Franklin D. Roosevelt prägen. Insofern befürchte ich, dass wir es mit keinem Übergangsphänomen zu tun haben, sondern mit einer Gegebenheit, die in den westlichen Demokratien dauerhaft Platz greift. Für uns Europäer besitzt Trump eine fast morbide Faszination, weil wir in ihm die eigene Gegenwart und Zukunft erkennen. Das Brexit-Votum ereignete sich sechs Monate vor der ersten Wahl Trumps. Das Aufkommen der Le Pen-Partei in Frankreich und der AfD in Deutschland lief vor und parallel zu Trump ab. Das heißt: Nicht so sehr Hoffnung oder Liebe sind die treibenden Kräfte unserer Zeit, sondern Angst, und zwar Angst vor dem Abstieg, vor Kontrollverlust.

Vor diesem Hintergrund richtet sich meine Hoffnung darauf, dass die etablierten Parteien – in den USA die Demokraten, in Deutschland die ehemaligen Volksparteien – die Ängste der Bürger ernster nehmen, als sie es in den letzten zwanzig Jahren getan haben.

 

Sie sprechen von Angst als einem prägenden Zeitphänomen. Können Sie Ihre Grundthese anhand der Wahlergebnisse in den USA konkretisieren?

Nehmen wir einzelne Wählergruppen, etwa die Industriearbeiterschaft an den Großen Seen. Dort herrscht die Angst, nicht die Fähig- und Fertigkeiten erworben zu haben, um fit für den Jobmarkt des 21. Jahrhunderts zu sein. Zwar geht es den USA ökonomisch gut, jedoch haben die hohen Inflationsraten, besonders bei Lebensmitteln und Benzin, große Teile der Bevölkerung in den letzten zwei, drei Jahren bis ins Mark erschüttert. Die Farmer treibt um, dass ihre Kinder zum Studieren in die großen Städte gehen und entweder gar nicht oder völlig anders sozialisiert zurückkehren. Sie haben Angst vor Immigration und Überfremdung. Die ungeregelte illegale Masseneinwanderung an der Südgrenze der Vereinigten Staaten ist unter Joe Biden noch einmal dramatisch gestiegen.

Von den intellektuellen Eliten an den Universitäten fühlt man sich kulturell abgehängt. Die Demokraten haben den Fehler gemacht, sich mit ihrer Agenda viel zu lange auf Gendersternchen, Wokeness und ähnliche Dinge zu berufen. Die kleinen Leute, die der Partei einst verbunden waren, haben sie hinten herunterfallen lassen.

 

Wie konnte es geschehen, dass der grundoptimistische „American Dream“ derart ins Negative umgeschlagen ist?

Das hat viel mit parteipolitischer Polarisierung zu tun. Vor allem die Anhängerschaft Trumps findet sich in Informationsblasen und Echokammern wieder. In ihnen wird diese Art von Ängsten aufgenommen und geschürt. Informationen über die hohen Wachstumsraten oder die Erfolge im Hochtechnologiebereich kommen darin nicht vor. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass nur etwa zehn Prozent der Republikaner die Wirtschaftslage gut finden, während es bei den Demokraten vierzig bis fünfzig Prozent sind. Wenn man sich in einer Echokammer befindet, bewertet man alles danach, ob die eigene Partei an der Regierung ist oder nicht.

Emotio, nicht Ratio ist das, was Politik heute bestimmt. Da haben sich Politiker, Politikwissenschaftler und die meisten Journalisten in die Tasche gelogen, als es in den 1990er-Jahren hieß: „It’s the economy, stupid!“ Heute stimmt das nicht mehr. Zentral sind kulturelle und Identitätsfragen: Wer sind wir als Nation? Wohin gehen wir als Nation? Trump hat das viel besser verstanden mit seinem animalischen Gespür für Stimmungen. Er setzt nicht mehr auf das rationale Argument, sondern er nimmt die Sorgen und Nöte der Leute auf und verstärkt sie. Wirkliche Lösungen bietet er nicht an, dafür aber Sündenböcke: Wie für alle Populisten sind das das Establishment, Immigranten und Muslime. Zuerst ist die Angst da, und die wird in Wut auf die anderen kanalisiert: auf die Eliten, auf gut ausgebildete Städter, die mit den normalen Menschen nichts mehr zu tun haben wollen, auf Hollywood, auf die Universitäten.

 

Ist es übertrieben, zu behaupten, dass sich Trump als eine Mischung von Erlöser und Racheengel dargestellt hat?

Genauso ist es. Normale politische Maßstäbe lassen sich auf Trump nicht anwenden. Er entspricht nicht dem Politikertyp, wie wir ihn kennen, der durch Konsensfindung und Kompromisse seine Ideen durchsetzen will. Trump führt eine „Church of Trump“ an, in der der Erlöser- oder Messias-Aspekt eine große Rolle spielt.

Von seinen MAGA-Anhängern [Make America Great Again-Bewegung, Anm. d. Redaktion] wird er als Retter in schrecklichen Zeiten verehrt. Nicht zuletzt, weil er das Attentat überlebt hat. Evangelikale haben ihn bereits in der ersten Amtszeit mit altbiblischen Vorstellungen in Verbindung gebracht und als neuen Kyros gefeiert. Der persische Großkönig war – wie Trump – zwar nicht gläubig, er gilt jedoch als Gefäß Gottes, der das Volk Israel aus der babylonischen Gefangenschaft befreit und zurückgeführt hat. Mit solchen Ideen spielt Trump.

Ganz direkt spricht er aus: ‚Ich bin euer Rächer, ich bin eure Vergeltung.‘ Das löst zwar nicht die realen Probleme, aber es erzeugt in der Öffentlichkeit Emotionen. Trump hat verstanden, was viele Politiker nicht verstanden haben: Es ist weniger die Zustimmung zur eigenen Person oder Partei, die die Wahlentscheidung bestimmt, sondern es ist der Hass auf den anderen. Trump hat die andere Seite dämonisiert und mit unglaublichen Begriffen überzogen. Kamala Harris war gleichzeitig Marxistin und Faschistin, Gegner nannte er Ungeziefer. Darin zeigt sich, dass er die Wut auch terminologisch kanalisiert. Und das kommt bei seinen Anhängern enorm gut an.

 

Zumindest anfangs fuhr Kamala Harris mit „Joy“ eine Gegenstrategie zu Angst und Wut; Tim Walz wollte die Angstmacher als „weird“, also bizarr oder verrückt, hinstellen. Wieso hat das nicht verfangen?

Weil es die Klientel auf Trumps Seite nicht wirklich trifft. Man kann innerhalb der eigenen demokratischen Anhängerschaft für eine gute Stimmung sorgen. Aber diese Gruppe hat auch – sehr generalisiert – von den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte profitiert. Eine überproportionale Zustimmung zu den Demokraten gibt es unter Schwarzen, die seit den 1960er-Jahren gerade in den Südstaaten enorme Fortschritte bei der Gleichberechtigung und der wirtschaftlichen Prosperität gemacht haben. Viele neue Einwanderer, die überproportional die Demokraten wählen, finden es gut, in Amerika Perspektiven zu haben. Das gilt allerdings vor allem für die besser Ausgebildeten. An dieser Stelle verläuft mittlerweile die wichtigste Trennlinie zwischen den Wählerschaften: Die gut Ausgebildeten können die Chancen, die sich aus dem rapiden Wandel der internationalen und nationalen Politik ergeben, besser nutzen. Warum? Sie sprechen Fremdsprachen, können sich flexibel an neue Probleme anpassen, werden besonders gut bezahlt – für Jobs in neuen Dienstleistungsbranchen oder in der Hochtechnologie.

Sie haben diese Modernisierungsprofite eingestrichen – und das nicht nur materiell, sondern auch mit Blick auf Lebenschancen und Lebensqualität, die anderen vorenthalten geblieben sind. Das heißt, Harris’ Wahlkampf kam bei ihren eigenen Leuten gar nicht schlecht an, und sie ist nach allen Umfragen immerhin in Schlagdistanz zu Trump gekommen. Aktuell liegt sie landesweit zwei Prozentpunkte hinter ihm. Biden hätte wahrscheinlich noch deutlicher verloren. Doch zeigt sich, dass die frohe Botschaft für die eigene Klientel nicht ausreicht, um Wahlen zu gewinnen, solange man sich der Sorgen und Nöte der unentschlossenen Wähler nicht annimmt.

 

Warum tun sich demokratische Kandidaten schwer, die Ängste vieler Wähler ernst zu nehmen?

Barack Obama hat im Wahlkampf 2012 über die Menschen im Mittleren Westen der USA gesprochen und sich gefragt, warum sie so konservativ sind. Seine Vermutung war, es gäbe ja nichts anderes dort, und man müsse sich deshalb an Waffen und Religion halten. Hillary Clinton hat noch eins draufgesetzt, indem sie von „deplorables“, den „Bemitleidenswerten“, sprach. Das hat sie 2016 sicherlich die Wahl gekostet.

Ein Grundproblem ist die politische Personalauswahl. Die Demokraten stellen Kandidaten auf, die keine „salt of the earth people“ [bodenständige und unprätentiöse Menschen, Anm. d. Red.] sind, sondern Harvard-Absolventen und ausgebildete Spitzenjuristen, wie es für John Kerry, Barack Obama, Hillary Clinton, Kamala Harris und zum Teil für Joe Biden gilt. Offenbar fällt es ihnen schwer, sich mit den Problemen des Alltags auseinanderzusetzen.

Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Demokraten dachten, die Bildungsexplosion der letzten fünfzig Jahre hätte den gut ausgebildeten Akademiker zum Zukunftsmodell für die eigene Partei gemacht. Ihre Politik haben sie von Eliten an den Universitäten und bestimmten Minderheiten beeinflussen lassen. Denken Sie an „Wokeness“, „#MeToo“ oder „Black Lives Matter“! Viele dieser Anliegen haben ihre Berechtigung, aber sie können nicht die Kernanliegen einer Volkspartei sein – zumal unter den Gegebenheiten des Zwei-Parteien-Systems der USA, in dem man mehr als die Hälfte der Wähler braucht, um sowohl die Häuser im Kongress als auch die Präsidentschaft zu gewinnen.

Und mit alldem werden die Demokraten identifiziert. Letztendlich gilt in den USA auch der Klimaschutz als Elitenthema, das auf dem flachen Land oder in der Arbeiterschaft schwer vermittelbar ist, wenn es ums Eingemachte geht, nämlich um Löhne und Jobs.

 

Am Ende des Wahlkampfes haben sich die politischen Gegner wechselseitig verteufelt: „Antichrist“ Harris gegen den „Faschisten“ Trump! Halten Sie es für einen Fehler, dass sich die Demokraten auf dieses Spiel eingelassen haben?

Nein, das war kein Fehler, das ist der heutige Wahlkampf. Aber das war nicht entscheidend. Wahrscheinlich hätte Harris nicht mehr tun können, um diese Wahl zu gewinnen. Die Gründe für die Niederlage liegen tiefer und gehen weiter zurück – über einige haben wir schon gesprochen. Im Grunde gibt es eine Trias von Gründen, die einen Sieg der Demokraten verhindert haben: die Unpopularität von Biden, der derart niedrige Zustimmungswerte hatte, dass die Wahl eigentlich kaum noch zu gewinnen war, für welchen Kandidaten auch immer. Der zweite Grund ist die Frage der Immigration, auf die die Demokraten keine Antwort gegeben haben. Nach der Corona-Pandemie sind die Zahlen der illegalen Übertritte an der Südgrenze in die USA explodiert. Das aber ist viel zu spät erkannt und bekämpft worden. Es ist ein Thema, das Trump seit 2015, als er erstmals in den Wahlkampf eingestiegen ist, besetzt. Wahrscheinlich hat das die Wahlen am stärksten beeinflusst und am Ende entschieden. Der dritte Grund ist die hohe Inflation: Eine Mehrheit der Amerikaner war überzeugt, dass es ihr unter der Trump-Administration besser ging als heute. Dass die Wirtschaft unter Biden mit fast drei Prozent wächst und die Ansiedlung von Unternehmen infolge des „Inflation Reduction Act“ gut funktioniert, spielte keine Rolle. Biden ist es nicht gelungen, Trump die Hauptprobleme – Inflation und Immigration – zu entreißen und in der öffentlichen Debatte selbst zu besetzen. Harris hat, wie man im Englischen sagt, „a bad hands of cards“ („Verliererkarten“) geerbt: Sie hat die Wahl eigentlich nicht gewinnen können.

 

Welche Strategien sehen Sie, um Spiralen der Negativität zu entkommen – in den USA wie auch in anderen Demokratien?

Die Parteien müssen dort sein, wo den Wählern der Schuh drückt. Das haben die Demokraten und die Republikaner vor Trump verschlafen. Und anderswo verschlafen es die etablierten Parteien bis heute. Nicht umsonst werden überall Regierungen abgewählt: in Italien, Großbritannien, Australien, Frankreich, in Kanada, wo Justin Trudeau für die nächsten Wahlen als erledigt gilt. Bei uns in Deutschland wurden vor drei Jahren die Unionsparteien abgewählt, die Nachfolgeregierung ist vorzeitig beendet worden und wird nach der Neuwahl nicht wiederkommen. Unzufriedenheit mit Amtsinhabern ist ein Kennzeichen der heutigen Zeit und Ausdruck dessen, dass die Probleme und Ängste, die die Menschen haben, nicht wirklich aufgenommen worden sind. Die etablierten Parteien, hier speziell die Demokraten in den USA, brauchen quasi einen Reset und müssen dort sein, wo die Wähler sind, sonst verlieren sie sie. Das heißt auch, härter zu werden in der Immigrationspolitik. In der Energiepolitik muss man sich von hochgesteckten Klimaschutzvorstellungen verabschieden. Kurz: Sie müssen den Populisten die Kernelemente ihrer Erfolgsagenda wegnehmen.


Stephan Bierling, geboren 1962 in Oberammergau, Leiter der Professur für Internationale Politik und Transatlantische Beziehungen, Universität Regensburg.

Das Interview führte Bernd Löhmann am 8. November 2024.

 

Zum Weiterlesen
Bierling, Stephan: Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2024.

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