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Interview: Kerngedanke Kindeswohl

Silvia Breher über den Stellenwert von Familie und das Verhältnis zwischen Kindern, Eltern und Staat

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Frau Breher, Sie leiten die Fachkommission „Zusammenhalt“, die Teil der Programmund Grundsatzkommission der CDU Deutschlands ist. Lässt sich bereits erkennen, welche Leitlinien und Eckpunkte das neue Grundsatzprogramm in der Familienpolitik prägen werden?

Silvia Breher: Wir haben die Leitlinien und Eckpunkte in den Arbeitsgruppen festgelegt, werden sie aber noch in den nächsten Monaten finalisieren und dann entsprechend auf den Weg bringen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich allerdings zum Grundsatzprogramm noch nicht so gern etwas verraten.

 

Eine Analyse aktueller Umfragen hat ergeben, dass das Vertrauen von Familien in die CDU abgenommen hat. Warum ist das so?

Silvia Breher: Familien haben insgesamt Vertrauen in die Politik verloren; das hat zahlreiche Gründe. Am Ende der Corona-Pandemie haben sich viele Familien einfach vergessen gefühlt. Kitas und Spielplätze etwa wurden als Erstes geschlossen und erst spät wieder geöffnet. Die Probleme und die Herausforderungen der Familien in der Pandemie hat die Politik viel zu spät erkannt.

Aber auch die CDU hat sicher ihren Anteil am verloren gegangenen Vertrauen. Wir haben, das gehört zur Wahrheit dazu, das Familienministerium jahrelang nicht besetzt – seit Kristina Schröder nicht mehr Familienministerin ist. Dadurch sind viele familienpolitische Themen auch in unserer Regierungszeit eher mit anderen nach Hause gegangen; und das sehen wir jetzt.

 

Wird sich der Stellenwert der Kinder im neuen Grundsatzprogramm verändern?

Silvia Breher: Mir ist insgesamt wichtig, dass wir das Thema Familie und das Thema Kinder in unserem Programm auch mit neuen Ideen verankern. Schauen wir mal, wie es am Ende ausläuft.

 

Die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz ist in der letzten Legislaturperiode gescheitert. Für wie wichtig halten Sie das Thema? Ist es noch aktuell?

Silvia Breher: Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der aufgrund der zu weit gehenden Forderungen der anderen Seite gescheitert ist. Für mich ist es wichtig, dass wir am Ende zu einem Kompromiss kommen. Ein solcher Kompromiss verlangt, dass wir das Verhältnis zwischen Familie, also Kindern, Eltern und Staat beachten.

Wir möchten aber vor allem durch konkrete Politik die Situation von Kindern verbessern. Es reicht nicht, nur zu sagen, „Wir brauchen Kinderrechte“, sondern wir müssen das mit Leben füllen.

 

… alle Grundrechte gelten auch für Kinder. Wieso sind dann überhaupt Kinderrechte im Grundgesetz notwendig …

Silvia Breher: Es gibt Einzelfälle, bei denen man das Gefühl hat, dass man für Kinder nachverhandeln muss. Kinder brauchen sozusagen einen eigenen Anwalt. Die Verhandlungen in der letzten Legislaturperiode waren für uns schwierig, weil uns das Dreieck Eltern–Kind–Staat, Kind– Eltern–Staat in seiner guten Balance wichtig ist; das darf nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Trotzdem gibt es Fälle, für die man darüber nachdenken muss, den Kinderschutz nachzubessern. Darauf zielte und zielt unser Vorschlag.

 

Ein zentraler Konfliktpunkt ist das Spannungsverhältnis zwischen Kinder- und Elternrechten. Sehen Sie die Elternrechte in Gefahr?

Silvia Breher: Wir müssen zunächst abwarten, was in dieser Legislaturperiode passiert. Für mich ist wichtig, dass wir – wie bei den meisten familienpolitischen Themen – aus der Perspektive des Kindes denken. Was ist ausgehend vom Kindeswohl das Beste? Das ist für mich immer der Kerngedanke. Wie die Legislaturperiode jetzt von der Ampelregierung genutzt wird, um wirklich etwas auf den Weg zu bringen, liegt uns aktuell noch nicht vor. Das werden wir im Blick behalten.

 

Sie sind im ländlichen Raum, im Oldenburger Münsterland, in einem Mehrgenerationenhaus, in dem auch Ihre Großeltern lebten, aufgewachsen. Heute sind Sie selbst Mutter von drei Kindern. Wie wichtig ist die persönliche Prägung durch Ihr familiäres Umfeld für Ihre Positionen in der Familienpolitik?

Silvia Breher: Dass ich aus einem Mehrgenerationenhaus komme, habe ich als etwas sehr Wertvolles erlebt – für alle Generationen, von den Kindern bis zu den Großeltern. Zu dieser Erfahrung gehört, mit starken Frauen aufgewachsen zu sein. Meine Großmutter und meine Mutter haben meine beiden Schwestern und mich ermutigt und zu uns gesagt: „Mach, was du möchtest!“ Und das in einem eigentlich konservativen Elternhaus. Das ist etwas, wofür ich sehr dankbar bin.

 

Seit der Etablierung eines Familienministeriums 1953 gab es nur drei männliche Familienminister. Ist Familienpolitik vor allem Frauensache?

Silvia Breher: Familie geht uns alle an, Männer und Frauen. Aber das Familienministerium war in den letzten Jahren auch immer das Frauenministerium. Frauenpolitik zu machen, ist wahrscheinlich für manchen Mann ein bisschen schwerer; aber wir haben tolle männliche Kollegen, die großartige Familienpolitik machen.

 

Ein zentrales Thema ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wie bewerten Sie das derzeitige Modell des Elterngeldes? Gibt es Verbesserungsbedarf?

Silvia Breher: Das Elterngeld ist ein absolutes Erfolgsmodell. Dafür können wir Ursula von der Leyen, die das durchgeboxt hat, dankbar sein. Das Elterngeld sollten wir anhand des tatsächlichen Bedarfs weiterentwickeln. Es wäre sinnvoll, das Elterngeld dahingehend zu stärken, dass gerade Väter das Elterngeld noch mehr nutzen. Dazu können zusätzliche Partnermonate dienen. Mir ist es wichtig, Familien insgesamt mehr Zeit zu ermöglichen – Zeit, die partnerschaftlich verteilt werden soll.

 

Bei der Erziehung hat sich die CDU immer für die Wahlfreiheit ausgesprochen. Gilt das noch?

Silvia Breher: Auf jeden Fall. Es wird oft ideologisch diskutiert, dass entweder beide Vollzeit arbeiten, die Kinder dann fremdbetreut werden, oder – die andere Alternative – das Ein-Verdiener-Modell. Beides entspricht nicht den Wünschen und den Bedarfen der Eltern und der Familien. Wenn man genau hinhört und fragt, ist die Antwort häufig: Die Frau möchte mehr arbeiten, und der Mann möchte mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Eltern wünschen sich heute eine bessere Aufteilung innerhalb der Partnerschaft. Das sollten wir annehmen und wegkommen von den Debatten in die Extreme.

 

Die Ampelkoalition will Mehrelternfamilien stärken. Wie steht die Union dazu?

Silvia Breher: Dieses Modell möchte ich mir erst einmal im Detail anschauen. Es gibt heute viele Möglichkeiten, über Vollmachten und Ähnliches zu sprechen. Uns liegt noch nicht vor, was die Ampelkoalition unter „Mehrelternfamilien“ versteht. Momentan stehen für mich viele Fragen im Raum: Wie soll beispielsweise eine Delegation des Sorgerechts stattfinden? Wie sollen Streitigkeiten zwischen den Sorgeberechtigten aufgelöst werden? Fakt ist, und das kann auch nicht wegdiskutiert werden: Durch eine größere Personenzahl steigt das Konfliktpotenzial. Für uns steht bei jeder Reform, die Kinder betrifft, das Kindeswohl im Mittelpunkt.

 

In Deutschland fehlen 2023 laut einer Studie 384.000 Kitaplätze. Das klingt dramatisch, oder?

Silvia Breher: Als Unionsfraktion sind wir sehr enttäuscht über die Bundesregierung, die sich aus der Finanzierung des Kita-Ausbaus herausgezogen hat. In Anbetracht der Versorgungslage bei Kitaplätzen sollte in diesen Bereich investiert und die Länder entsprechend unterstützt werden. Es fehlen aber, und das gehört zur Wahrheit hinzu, nicht allein die Kitaplätze, sondern vor allem die Erzieherinnen und Erzieher. Aber auch in diesem Bereich hat die Ampelregierung die entsprechenden Bundesprogramme für eine Fachkräfteoffensive eingestellt. Die Länder werden mit diesem Problem komplett alleingelassen. Das ist ein Herausziehen aus der Verantwortung. Selbstverständlich ist dies Ländersache, aber es ist auch eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Aufgabe.

 

In den Kindertagesstätten geht es auch um frühkindliche und vorschulische Bildung. Bei Kindern mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, reichen die Sprachkompetenzen beim Wechsel auf die Grundschule oft nicht aus. Wie sollte diesem Problem begegnet werden?

Silvia Breher: Wichtig ist, die Qualität in den Kitas zu verbessern. Hier liegt einer der Schlüssel, um die Sprache als Kernkompetenz zu erwerben. Umso schlimmer, dass dies total vernachlässigt wird. Die neue Bundesregierung hat die wichtigsten der von der unionsgeführten Bundesregierung aufgesetzten Bundesprogramme für die frühkindliche Bildung eingestellt. Insofern müssen wir nun abwarten, für welche Maßnahmen die Mittel aus dem Gute-KiTa-Gesetz II eingesetzt werden. Am Ende aber muss die Politik eine Antwort darauf geben, dass – ob bei mir im ländlichen Raum oder in den Ballungszentren – die Sprachkompetenz der Schüler von Jahr zu Jahr schlechter wird.

Die Kinder bringen ein sehr unterschiedliches Niveau mit, wenn sie in die erste Klasse kommen. Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass eine wachsende Anzahl im Unterricht nicht so mitarbeiten kann, wie es früher üblich war. Da müssen wir ehrlich sein und Lösungen suchen. Kinder, die eine gewisse Sprachkompetenz nicht haben, sollten in einem Vorschuljahr die Chance erhalten, die Fähigkeiten zu erhalten, die sie in der Schule brauchen.

 

Kinder wachsen heute ganz selbstverständlich mit dem Handy auf. Zur digitalen Welt gehört aber auch Gewalt, Hetze und Mobbing. Wie kann man Kinder besser davor schützen?

Silvia Breher: Digitale Kompetenzen fehlen einerseits nicht allein bei den Kindern, sondern oft auch bei den Erwachsenen, die den Kindern ungeschützte elektronische Geräte zur Verfügung stellen. Insofern müssen Kernkompetenzen im medialen Bereich bei Erwachsenen und Kindern verstärkt vermittelt werden. Andererseits müssen die Betreiber von Plattformen in die Verantwortung genommen werden und alles beachten, was die Grundrechte und das europäische Recht im Bereich des Schutzes von Kindern mit Sicht auf digitale Gewalt fordern.

 

Das zentrale familienpolitische Vorhaben der Ampelkoalition in dieser Legislaturperiode ist die Kindergrundsicherung. Wie steht die Union dazu?

Silvia Breher: Für uns ist es wichtig, dass Kinder und Familien, insbesondere die Kinder, auch die Ansprüche, die ihnen zustehen, erhalten. Das heißt heute: Kindergeld, Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket. Kindergeld bekommt jeder unabhängig vom Einkommen. Kinderzuschlag und die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets bekommen nur Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen. Wir wissen, dass die Inanspruchnahme-Raten beim Kinderzuschlag gering sind. In dieser Hinsicht gab es in der letzten Legislaturperiode Nachbesserungen, wobei die Evaluation noch aussteht.

Ziel muss es sein, dass mehr Menschen auch den Kinderzuschlag und die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets wirklich bekommen. Dafür braucht es in erster Linie eine Umsetzung der bereits geschaffenen Möglichkeiten, um die Leistungen einfacher zu beanspruchen. Auch die Grundlage für die digitalen Beantragungen und Prüfungen haben wir in der letzten Legislaturperiode geschaffen; das muss nun mit den Ländern umgesetzt werden. Ich bin für jede Vereinfachung und Bündelung von Leistungen, wenn gewährleistet ist, dass die bestehenden Ansprüche bei Kindern und Eltern wirklich ankommen. Wenn es aber nur darum geht, mehr Geld mit der Gießkanne zu verteilen, ohne am Ende auch das Prinzip des Förderns und Forderns zu sehen, dann wäre es nicht ausreichend.

Kinder und Jugendliche brauchen aber mehr als nur finanzielle Leistungen. Der Bedarf muss ganzheitlich betrachtet werden. Es bedarf einer guten Kinderinfrastruktur mit einer qualitativ hochwertigen Förderung in Kita und Grundschule, einer guten gesundheitlichen Versorgung und auch vielfältiger Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.

 

Entwickelt sich Deutschland mit der Kindergrundsicherung nicht immer stärker zu einem „paternalistischen Staat“, wie Friedrich Merz im Zusammenhang mit dem Bürgergeld angemerkt hat? Wo bleibt die Eigenverantwortung?

Silvia Breher: Wenn es um bestehende Ansprüche geht, sollten wir dafür sorgen, dass die entsprechenden Mittel bei den Kindern und Familien ankommen. Am Ende geht es aber nicht allein um Geld, sondern um Teilhabe, also um die Chance, an Freizeitaktivitäten teilzunehmen, die nötige Schulausstattung zu haben, mit einem gesunden Frühstück in die Schule zu gehen und mit einem Mittagessen durch den Schulalltag zu kommen. Es geht nicht nur darum, einfach noch mehr Geld auszugeben, sondern dafür zu sorgen, dass Kinder bessere Startchancen im Leben haben. Insofern stimme ich Friedrich Merz zu, weil es darum geht, Menschen dazu zu befähigen, ihr eigenes Leben zu leben und ihren eigenen Beitrag zu leisten, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.

 

In Deutschland gilt jedes fünfte Kind als armutsgefährdet. Die Inflation verschärft das Problem der Kinderarmut. Wie beurteilen Sie die bislang von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen?

Silvia Breher: Viele Maßnahmen gehen in die richtige Richtung, etwa die Erhöhung des Kindergeldes und der Sofortzuschlag für die Energiekosten. Allerdings kommen diese nicht bei allen an. Mehrkindfamilien sind bei der Kindergelderhöhung benachteiligt, weil alle Kinder jetzt den gleichen Kindergeldbetrag erhalten. Die notwendige Erhöhung wirkt sich bei Kindern aus Mehrkindfamilien also unterschiedlich stark aus. Auch sind die Alleinerziehenden benachteiligt und gehen bei der Kindergelderhöhung komplett leer aus, sofern sie unterhaltsvorschussberechtigt sind, weil das Kindergeld vollständig auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet wird. Es sind also mit heißer Nadel gestrickte Einzelmaßnahmen auf den Weg gebracht worden, die zum Teil inhaltlich richtig sind, aber viele Aspekte des Gesamtbilds nicht erfassen.

 

In der Familienpolitik steckt gerade bei einer Partei, die das „C“ im Namen führt, immer auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Bewahren und dem Modernisieren. Wie bewerten Sie dieses Spannungsverhältnis?

Silvia Breher: Auf der Grundlage unserer Werte müssen wir die gesellschaftlichen Veränderungen wahrnehmen und auf sie reagieren. Das bedeutet nicht, Werte über Bord zu werfen. Aktuell gilt es, eine Klientelpolitik zu verhindern, die zentral aus der Sicht von Minderheiten gedacht wird und die die Gesellschaft sehr verändert. Gruppen in besonderen Lebenskonstellationen dürfen aber nicht ausgegrenzt, sondern müssen mitgedacht werden. Dies ist der Spannungsbogen und eine Chance, um gute Ideen in der Familienpolitik auf den Weg zu bringen.

 

Das Interview führte Ralf Thomas Baus telefonisch am 28.12.2022.