Gibt es nach dem Tod von Alexej Nawalny überhaupt noch eine Opposition in Russland?
Jan Matti Dollbaum: Gute Frage. Erst einmal würde ich sagen: Was ist Opposition? In einem parlamentarischen System hat Opposition bestimmte Rechte und erfüllt eine bestimmte Rolle. In einem autoritären System wie in Russland versucht Opposition vor allem, dieses autoritäre System zu überwinden. Zumindest die „nichtsystemische Opposition“ versucht das. Diese Nichtsystem-Opposition gibt es innerhalb Russlands jetzt kaum noch, wenn es sie überhaupt noch gibt.
Der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa ist zu 25 Jahren Haft verurteilt und im Gefängnis, auch Ilja Jaschin sitzt eine Gefängnisstrafe von mehr als acht Jahren ab. Und die bekannteste Figur dieser Nichtsystem-Opposition war Alexej Nawalny, der im Februar unter ungeklärten Umständen im Gefängnis hinter dem Polarkreis ums Leben kam. Er war seit 2021 in Haft. Hatte man seinen Tod in Kauf genommen – oder war es ein gezielter Mord?
In Kauf genommen, das steht außer Frage, und auch provoziert. Die Konditionen wurden laufend verschärft, Nawalny war immer wieder in Isolationshaft. Für seinen Tod ist die Regimeführung verantwortlich und auch Putin persönlich, ob er ihn angeordnet hatte oder nicht. Es gab eine große Geheimniskrämerei, und es wurden keinerlei Beweise für einen natürlichen Tod vorgelegt. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist. In einem personalisierten, autoritären russischen Regime wiederum ist es sehr wahrscheinlich, dass Putin davon wusste. Aber das sind logische Schlüsse. Das hat nicht die Qualität einer Beweisführung anhand von Evidenzen. Die wird es vermutlich erst nach dem Ende des autoritären Regimes geben können, wenn Archive geöffnet werden.
Was hat dieser Tod bedeutet?
Sein Tod war eine Katastrophe. Mindestens für die, die nach seiner Rückkehr und Verhaftung 2021 auf die Straße gegangen sind, und für die, die sein Schicksal mitgenommen hat, ob sie ihn politisch unterstützt haben oder nicht. Die Depression, die sowieso herrscht in der russischen Opposition – Opposition nicht als Organisation, sondern als „state of mind“ verstanden –, vertiefte sich noch einmal.
Man mochte mit Nawalny im Clinch liegen, was Position und Strategien angeht. Weitgehend ungeteilte Bewunderung schlug ihm aber dafür entgegen, dass er bereit war, dieses Opfer zu bringen: wieder nach Russland zurückzukehren, sich dem Regime zu stellen. Er hat immer wieder gezeigt: Man kann Stärke zeigen im Angesicht dieses Repressionsapparats, kann sich über ihn lustig machen. Diese Botschaft war für viele Leute extrem wichtig in ihrem eigenen täglichen Kampf gegen die Verzweiflung.
Julia Nawalnaja erklärte nur drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, seine Arbeit fortzuführen. Kann sie eine solche Rolle ausfüllen?
Das war sehr effektvoll, bewundernswert und wichtig. Was genau wird, weiß man natürlich nicht. Sie hat andere Fähigkeiten als Nawalny, verfügt nicht über seinen Humor. Aber sie kann trotzdem viel bewirken. Die moralische Führerschaft kann auch sie übernehmen.
In einem Artikel schreiben Sie, dass er „vorpolitisch“ agierte. Was heißt das?
Viele haben ihm vorgeworfen, auch in Russland, er kämpfe zwar beispielsweise gegen Korruption, aber habe kein richtiges Programm. Das sei unpolitisch. Geht man von einer idealisierten parlamentarischen Demokratie aus – wo Politik darin besteht, dass unterschiedliche Parteien miteinander konkurrieren und man ein in sich kohärentes Programm braucht, um sich daran zu beteiligen –, dann passt das, was Nawalny machte, da nicht hinein. Aber: Er wollte dieses Ideal der politischen Konkurrenz und verschiedenen Programme in einem parlamentarischen System erreichen. Dazu versuchte er als ersten Schritt, eine sogenannte „negative Koalition“ zusammenzubringen, also eine Allianz von Menschen, die sich in der Gegnerschaft zu Putin einig sind, auch wenn sie darüber hinaus Differenzen haben. Dazu brachte Nawalny Versatzstücke unterschiedlicher politischer Richtungen zusammen, die nicht unbedingt als Programm Sinn ergaben, sondern unterschiedliche Menschen und Gruppen ansprechen sollten. So gesehen, war sein Agieren vorpolitisch, weil die in seinen Augen „richtige“, das heißt parlamentarische Politik erst nach dem Fall des Regimes möglich ist.
So gab es den Nawalny, der gegen Korruption kämpfte und die Massen mobilisieren konnte. Gleichzeitig gab es den Nawalny, der nationalistische Töne anschlug. In westlichen Medien wurde er oft einseitig zum Helden stilisiert. Man sollte anerkennen, dass das alles zu ihm gehörte und in der Gesamtheit funktionierte. Einerseits galt er als eine Art Freiheitskämpfer und andererseits liebäugelte er mit Nationalisten. Einerseits war er strammer Führer seiner Protopartei, die keinen Input von unten duldete, andererseits präsentierte er sich als Demokrat. Das mag uns paradox erscheinen. Aber der Maßstab, nach dem wir das zum Widerspruch erklären, ist einer, der dem russischen Kontext nicht unbedingt angemessen ist. Man muss Nawalny nicht zum Helden machen. Man kann aber trotzdem anerkennen, dass er eine beachtliche und bewundernswerte Leistung vollbrachte, indem er sich so kompromisslos gegen das Regime stellte.
Und seine nationalistischen Aussagen?
Nawalny erklärte später, die Nationalisten seien zu diesem Zeitpunkt eine starke politische Kraft gewesen, die er lieber hinter sich haben wollte als gegen sich. Da sind wir wieder beim „Vorpolitischen“: Das kann eine strategische Entscheidung gewesen sein. Vielleicht stimmte er mit einzelnen nationalistischen Positionen tatsächlich überein, das ist rückwirkend schwer zu prüfen. Aber das müssen wir nicht rechtfertigen und nicht gutheißen, um dennoch seinen Beitrag wertzuschätzen für den Kampf um Demokratie in Russland.
Nawalnys Team hat einen neuen Film herausgebracht mit dem Titel „Predateli“, „Verräter“. Es geht um die 1990er-Jahre in Russland, die Oligarchen, die sich damals bereichert haben. Aber auch Liberale der damaligen Zeit werden heftig dafür kritisiert, die Demokratie verraten zu haben. Was ist die Idee dahinter, warum die 1990er-Jahre?
Nawalny selbst hat gesagt, dass er in den 1990er-Jahren ein Jelzin-Fan war. Erst langsam habe er gemerkt, dass der damalige Präsident und die Leute um ihn herum die Grundlage legten für Putin und dafür, dass Putin die 1990er-Jahre als Legitimationsstrategie ausschlachten konnte. Insofern ist dieser Film auch ein Reflexionsprozess. Vor allen Dingen besteht darin eine Kommunikationsstrategie, um nicht unter sich zu bleiben, sondern mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Diese nimmt die 1990er-Jahre mit den massiven Umbrüchen und Entbehrungen, einer hohen Kriminalitätsrate und viel Gewalt größtenteils als Katastrophe wahr. Es geht darum, Putin die Deutungshoheit über die für viele traumatischen 1990er-Jahre streitig zu machen und sich davon als Liberale nicht diskreditieren zu lassen.
Aber viele kritisieren, es fehle ein Programm, das mit dem Imperialen aufräumt, ein Programm, das die Leute auch an ihre Verantwortung für Russlands Krieg gegen die Ukraine erinnert und nicht davon freispricht. Wäre das nicht die Aufgabe der russischen Opposition?
Ich will mir nicht anmaßen, das zu beurteilen. Die Opposition sieht sich mit sehr unterschiedlichen Forderungen konfrontiert. Eine andere Forderung etwa ist, die Kluft zwischen denen, die Russland verlassen haben, und denen, die in Russland geblieben sind, nicht zu groß werden zu lassen.
So ist zu bemerken, dass Julia Nawalnaja in einen Zwiespalt gerät: Einerseits ließ sie sich mit US-Präsident Joe Biden fotografieren, quasi im Schulterschluss mit den westlichen Gegnern des russischen Angriffskriegs. Und gleichzeitig versucht sie, sich für die einfachen Russinnen und Russen einzusetzen. Sie bat am 28. Februar 2024 im Europäischen Parlament darum, zwischen Putin und der russischen Bevölkerung zu unterscheiden, nicht die russische Bevölkerung, sondern Putin und seine Leute mit Sanktionen zu belegen. Das ist eine Position, die längst nicht von allen geteilt wird. Indem sie sich für die gewöhnlichen Russinnen und Russen einsetzt, macht sie sich angreifbar in den Augen aller, die an eine Kollektivschuld oder einen tief verwurzelten russischen Imperialismus in der Bevölkerung glauben. Und das sind nicht wenige.
Julia Nawalnaja ist im Exil, wie viele andere russische Oppositionspolitiker auch. Was kann die Opposition im Exil bewirken?
Das ist ein großes Problem. Und es ist auch ein Grund, warum der Fokus des Teams Nawalny immer noch auf YouTube liegt. Das ist die einzige westliche Social-Media-Plattform, die in Russland noch nicht verboten ist. Das Team Nawalny möchte sich damit im Spiel halten – auch über strategisch platzierte Botschaften wie zu den 1990er-Jahren – für eine Zukunft, in der es wieder eine Rolle spielen und in Russland aktiv werden kann. Mehr kann man im Moment nicht tun. Die Kräfteverhältnisse sind klar: Das Regime hat nicht nur die faktischen Möglichkeiten, sondern sendet auch alle Signale, dass es bereit ist, die Repression weiter zu erhöhen, wann immer es nötig sein sollte.
Die nichtsystemische Opposition hat also im Land selbst kaum Möglichkeiten. Was meint dann im Gegensatz dazu „System-Opposition“?
Es gibt auch organisierte Opposition, die sich in das System eingebunden hat oder die in das System eingebunden wurde. Sie erfüllt aber nicht die Funktion, wie man sie von der Opposition in demokratischen Ländern kennt. Sondern sie ist integrierter Teil des Multi-Parteien-Regimes.
Welche Rolle hat diese System-Opposition in Russland heute? Doch keine andere als die der Claqueure und Unterstützer?
Doch, aber ihre Rolle ist sehr subtil. Die Kommunistische Partei etwa betreibt aggressive Anti-Ukraine-Hetze und antiwestliche Propaganda. Sie und andere Parteien, wie die rechtspopulistische Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR), zeichnen sich durch einen noch größeren Nationalismus und Imperialismus aus als die Regierungspartei „Einiges Russland“. Sie übernehmen keine klassische Oppositionsfunktion, sondern verkaufen Pro-Kriegs-Rhetorik als volksnah. Also als etwas, was nicht nur vom Kreml gewollt sein kann. Die Führungsriege dieser Parteien ist in das autoritäre Regime eingebunden. Was wiederum nicht heißt, dass sie nicht auch genuine Unterstützer hätten. Und andererseits sind die Kommunisten die Partei, die auf unterer Ebene wohl die meisten echten Kriegsgegner und Oppositionellen versammelt. Noch so eine Normalität im russischen autoritären System, die für uns ein Widerspruch ist. Es gibt allerdings bedeutende Unterschiede zwischen der Parteielite der Kommunisten, die sehr aggressiv auftritt, und einer relativ neuen Partei wie „Nowije Ljudi“ [„Neue Leute“, Anm. d. Redaktion], die nichts zum Krieg sagt. Das ist das Spektrum, in dem man sich bewegen kann: Am Ende des Spektrums steht nicht radikale Kritik, sondern Schweigen. Das ist das Radikalste, was man machen kann. Zumindest, wenn man als Organisation überleben will.
Gibt es in Russland noch eine Protest-Opposition, etwa in der Zivilgesellschaft?
Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es kleinere Organisationen, die versuchen, sich irgendwie zu halten. Meistens informell, um sich nicht noch angreifbarer zu machen. Ein Beispiel ist die Feministische Antikriegsbewegung. Sie ist eine der wenigen Gruppen, die versuchen, den Widerstand gegen den Krieg im öffentlichen Raum zu halten. Und sei es auch nur mittels Graffiti, Aufklebern oder Einzelprotesten. Die Möglichkeiten sind aber sehr eingeschränkt.
Und dann gibt es Gruppen, die sich in eine politische Richtung entwickeln, die Bewegung der Ehefrauen der mobilisierten Soldaten etwa. Sie versuchten zunächst über den in Russland üblichen Weg, nämlich über einen direkten Appell an den Präsidenten, ihre Männer von der Front zurückzuholen. Im Zuge der Präsidentschaftswahl im März 2024 politisierten sich diese Proteste schließlich teilweise: Manche äußerten sich öffentlich und sehr explizit, sie hätten verstanden, dass es sich um ein politisches Problem handle, nicht um ein individuell zu lösendes.
Einzelne Frauen taten dies zumindest.
Einzelne, ja. Aber auf ihrem Telegram-Kanal mit 60.000 Subscribern riefen sie etwa dazu auf, sich an der Protestaktion „Polden protiw Putina“ [englisch: „Noon against Putin“, Anm. d. Redaktion] zu beteiligen, also am letzten Wahltag mittags zu den Wahllokalen zu gehen, um zu zeigen, dass man gegen Putin ist.
Das ist eine interessante Entwicklung: Aus einem ganz konkreten Bedürfnis entsteht ein politischer Impetus. Und diese Frauen haben den Vorteil, dass man ihnen nicht so schnell vorwerfen kann, sie seien liberale, urbane, russlandfremde Menschen. Es geht größtenteils um Ehefrauen russischer Soldaten. Sie mit Repressionen und Diskreditierung zu belegen, ist nicht so einfach. Sobald sie aber nicht mehr individuell auftreten, sondern als Organisation, ist dieser Vorteil weniger wert: Am 31. Mai wurde die Gruppe „Put’ Domoj“ („Weg nach Hause“) zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt. Das ist oft der erste Schritt einer Reihe von Drangsalierungen. Die Einstufung als „unerwünschte Organisation“ kann folgen, dies könnte auch strafrechtliche Konsequenzen bis hin zur Verhängung von Gefängnisstrafen haben.
Was können wir über die Gesellschaft insgesamt sagen? Wie sehr ist sie für diesen Krieg und wie sehr steht sie hinter diesem Regime?
Es ist sehr schwer, darüber belastbare Aussagen zu treffen. Die Bewertung von Umfragen ist in einem autoritären System immer schwierig. Man muss davon ausgehen, dass viele das antworten, was opportun erscheint. Man kann versuchen, in die Interpretation der Ergebnisse Verzerrungen einzupreisen: Menschen, die dagegen sind, werden sich eher nicht an Umfragen beteiligen. Und wenn sie es tun, dann äußern sie sich eher entgegen ihren eigentlichen Präferenzen. Also müssten sich in Umfragen mehr Leute für den Krieg äußern, als tatsächlich für den Krieg sind. Angesichts dessen ist erstaunlich, dass sich in Umfragen eine relative Mehrheit findet, die dagegen ist, den Krieg weiterzuführen, und sofortige Friedensverhandlungen befürwortet.
Man muss das alles mit sehr viel Vorsicht genießen, aber ein klares Bild, dass die Russen hinter Putin stehen und für diesen Krieg sind, das ergeben die Umfragen nicht. Vielmehr scheint es eine große Gruppe von Leuten zu geben, die damit nicht einverstanden sind. Doch sie trauen sich nicht, aus diesem Dissens heraus zu agieren, auf die Straße zu gehen, zum Beispiel.
Was sind die Faktoren, die irgendwann einen Wandel in Russland einleiten könnten?
Ich glaube nicht, dass diese aus der Opposition kommen werden. Was nicht heißt, dass die Opposition irrelevant wäre. Aber sie wird wahrscheinlich nicht am Anfang der Kausalkette stehen.
Regime fallen immer nur dann, wenn auch innerhalb des Regimes etwas zerbricht. Darauf muss man warten. Und dann kann eine organisierte Opposition sehr wichtig werden. Dann geht es darum: Wer sind die Ersten, die sich mit Aussteigern verständigen können? Die eine alternative Front aufmachen, die sowohl die politischen als auch Sicherheits- und Wirtschaftseliten umfasst, genauso wie Teile der Bevölkerung? Das ist dann zwar immer noch keine Demokratie. Aber es ist zumindest eine Art von Konkurrenzsituation, die öffentlich ausgetragen wird – hoffentlich nicht gewaltsam. Auch das kann passieren. Ich bezweifle jedoch, dass dieser Moment von irgendwelchen Oppositionsaktivisten angestoßen wird. Sobald es aber passiert ist, werden sie wichtig werden.
Jan Matti Dollbaum, geboren 1989 in Wuppertal, promovierter Politikwissenschaftler, Leiter der Nachwuchsforschungsgruppe „MORE Eastern Europe“ zu Repräsentation und Mobilisierung im postsowjetischen Osteuropa, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Er ist gemeinsam mit Morvan Lallouet und Ben Noble Autor des Buches Nawalny (Hoffmann und Campe, Hamburg 2021), das in mehrere Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem als „Financial Times Politics Book of the Year 2021“.
Das Interview führte Tamina Kutscher, Slawistin, Historikerin und freie Journalistin, im Auftrag der Redaktion am 30. April 2024.