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Der künstlerische Leiter der Ruhrtriennale über das Ruhrgebiet als Laboratorium der Zukunft

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Herr Simons, Sie sind von 2015 bis 2017 künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale und werden 2018 die Leitung des Schauspielhauses Bochum übernehmen. Gibt es inhaltliche Gründe, die das Ruhrgebiet zu einem guten Umfeld für zeitgenössisches Theater machen?

Johan Simons: Am Ruhrgebiet interessiert mich einerseits die große Geschichte der Industrie, die sozusagen „davongegangen“ ist. Andererseits ist das Ruhrgebiet in einem bestimmten Sinne sehr modern: In München oder Amsterdam, wo ich zuvor gelebt habe, werden die Stadtzentren mehr und mehr von reichen Leuten bewohnt. Das läuft im Ruhrgebiet anders, alles geht hier völlig durcheinander. Im Ruhrgebiet „kommt die Welt zusammen“ – sozial wie geografisch. Es ist ein Ort des Umbruchs, an dem sich heute bereits die Fragen stellen, die künftig zu beantworten sind.

 

Wie nimmt man das Ruhrgebiet von Ihrem Heimatland, den Niederlanden, aus wahr?

Johan Simons: Das Ruhrgebiet ist für uns ein Grenzraum, der gewissermaßen den Übergang zu den Niederlanden markiert. Der Abstand und die Unterschiede zu München sind in vieler Hinsicht weit größer. Mit meinen Engagements im Ruhrgebiet komme ich – anders als zuvor in München – nicht in eine andere Welt, sondern in ein Umfeld, das ich schon von Kindesbeinen auf kenne.

 

Sie verfolgen den Anspruch, Theater, Musik, Tanz für alle zu machen. War das an den Münchner Kammerspielen schwieriger als im Ruhrgebiet?

Johan Simons: Es ist nicht schwieriger, sondern anders. Was wir etwa mit dem Projekt „Urban Prayers“ in München und im Ruhrgebiet versucht haben, begeistert mich jeweils auf eine eigene Weise. Doch war es in München meistens so, dass das Publikum mehr aus der „Bourgeoisie“ kam. Ich glaube und hoff auch, dass im Ruhrgebiet andere Bevölkerungsgruppen mit dabei sind. Wenn ich in Bochum Intendant bin, möchte ich gern ein Theater entwickeln, das versucht, die ganze Bevölkerung einzuladen und mitzunehmen. Das ist vielleicht ein utopischer Gedanke, aber man muss Ideale haben.

 

Zwei der drei Jahre Ruhrtriennale liegen hinter Ihnen. Haben Sie den Eindruck gewonnen, dass Ihre besondere Einladung an Arbeitslose oder Minijobber wirklich angenommen wird?

Johan Simons: Das ist eine schwierige Frage. Schon immer will ich Theater für Leute machen, die eigentlich nicht ins Theater gehen. Aber das ist bisher nur selten gelungen. Und dennoch: Man hat vielleicht keine Chance, aber man soll es trotzdem lächelnd immer wieder neu versuchen. Das ist so wie bei Albert Camus’ „Sisyphos“, der immer wieder einen Fels den Hügel hinaufschleppt. Und der, wenn der Fels wieder unten liegt, sich mit einem Lächeln wieder an sein Werk macht – schließlich ist es die Chance, aufs Neue anzufangen.


Seit Beginn Ihrer Intendanz 2015 lautet das Leitmotiv der Ruhrtriennale in Anlehnung an Beethovens „Ode an die Freude“ „Seid umschlungen!“ und wird als eine Geste der künstlerischen, gesellschaftlichen und geografischen Umarmung gedeutet. Sind die Menschen heute noch offen für solch eine beinahe universelle Umarmung oder gibt es aktuell nicht eher eine allgemeine Tendenz, die auf Rückzug und Abschottung setzt?

Johan Simons: Es ist richtig, dass es momentan eine Tendenz zur Abschottung, zu Ängstlichkeit und auch zum Nationalismus gibt! Aber dagegen muss man sich zur Wehr setzen und die europäischen Werte verteidigen – etwa indem wir am Theater zeigen, was diese Werte sind.

Als Humanist hat man einerseits diesen eigenen Wertehintergrund, gleichzeitig lässt man sich von anderen Kulturen hinterfragen und inspirieren. So kann man beispielsweise die Flüchtlingsproblematik positiv als eine Bereicherung betrachten. Ich bin überzeugt, dass die Zeit das irgendwann zeigen wird.

 

Kann Kunst solche gesellschaftlichen Angstblockaden überwinden helfen – beispielsweise bei der zurückliegenden Ruhrtriennale 2016?

Johan Simons: In den sechseinhalb Wochen der Ruhrtriennale 2016 haben wir die zentralen europäischen Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hinterfragt. Mit ihnen sind wir nicht fertig, sondern müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, gewissermaßen mit ihnen abrechnen – als Voraussetzung dafür, dass wir sie wieder in den Vordergrund stellen können.

Bei unserer Adaption von Kamel Daouds Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ geht es beispielsweise um den Begriff „Mitgefühl“, wenn die Schauspieler gewissermaßen einen Kulturwechsel vollziehen und verspüren, was es bedeutet, einer anderen Kultur anzugehören.

Unser Projekt „Urban Prayers Ruhr“ bestand aus sechs Vorstellungen in sechs verschiedenen Gotteshäusern. In einer Moschee in Duisburg ertönten plötzlich auch christliche, jüdische oder hinduistische Gesänge. Viele der Besucherinnen und Besucher hatten bis dahin noch nie eine Moschee betreten und merkten nun, dass das nicht nur keine Angst macht, sondern dass sich da Leute unterschiedlicher Bekenntnisse sogar gut verstehen und umarmen können.

 

Ihr Anspruch ist es, in Bochum europäisches Theater zu machen. Was betrachten Sie als die vordringlichste Aufgabe des Theaters in Europa und welche Rolle sollten Deutschland, Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet dabei spielen?

Johan Simons: Für mich ist wichtig, ein Ensemble mit verschiedenen Hautfarben und Nationalitäten zu haben. Der Hamlet könnte von einem Schwarzen gespielt werden, seine Mutter könnte Japanerin und der Vater ein Weißer sein. Farbe und Herkunft spielen überhaupt keine Rolle. Es geht immer um die Gleichheit der Menschen.

Das deutsche Theater hat aus meiner Sicht einen Vorzug, der sich in Begriffen widerspiegelt. In Frankreich oder England heißt das Wort für „proben“ „répéter“ oder „rehearse“ und bedeutet „wiederholen“. Das deutsche Wort heißt dagegen „versuchen“. Am deutschen Theater gibt es so etwas wie ein definitives Ergebnis nicht, man muss immer wieder „Versuche“ machen und kann neue Gedanken auf die Bühne bringen. Das grundsätzliche Prinzip, diesen Versuch leben zu lassen, gibt eine große Freiheit.

 

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 28. Oktober 2016.

Johan Simons, geboren 1946 in Heerjansdam (Niederlande), Schauspieler, Regisseur und Theaterintendant, bis 2015 Intendant der Münchner Kammerspiele, von 2015 bis 2017 künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale.

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