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Interview: Trauma der polnischen Nation

Zeithistoriker Wlodzimierz Borodziej über polnische Erinnerungskultur und europäische Geschichte

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In diesem Jahr feiert Polen 100 Jahre Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Welche Erwartungen haben Sie an die Feierlichkeiten?

Włodzimierz Borodziej: Ich habe überhaupt keine Erwartungen. Das polnische Parlament hat am 25. Mai 2017 das Jahr 2018 zum Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit ausgerufen. Ein weiterer Beschluss des Sejm sieht ein vierjähriges Veranstaltungsprogramm für die Gedenkjahre 1918, 1919, 1920 und 1921 im Zeitraum von 2017 bis 2021 vor. Das polnische Parlament hat diesen Zeitraum sozusagen zu einem Gesamtstaatsfeiertag erklärt. Das heißt, es soll sowohl der Wiedererlangung der Unabhängigkeit als auch der Folgen der Unabhängigkeitskriege in zahlreichen Veranstaltungen gedacht werden. Wenn die heutige Regierung bis 2021 an der Macht bleibt, wird der Grundtenor der Veranstaltungen der Nationalstolz sein. Die Betonung wird darauf liegen, dass Polen sich seine Unabhängigkeit erkämpft hat, was nur sehr bedingt stimmt.

Im nächsten Jahr jährt sich zum achtzigsten Mal der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Durch den Überfall der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 und den Einmarsch der Roten Armee am 17. September 1939 wurde der polnische Staat zerstört. Welche Bedeutung hat dieses Datum für die polnische Erinnerungskultur?

Włodzimierz Borodziej: Die Bedeutung für die polnische Erinnerungskultur ist enorm. Der 1. September 1939 und der 17. September 1939 sind die zentralen Daten des 20. Jahrhunderts neben den Jahren 1918, 1944 und 1989. Es ist die Erinnerung daran, dass Polen im September 1939 entgegen allen Verpflichtungen der Alliierten, namentlich Frankreich und Großbritannien, alleingelassen worden ist im Kampf gegen den übermächtigen Nachbarn Deutschland und auch die Sowjetunion. Deutschland und Russland haben Polen 1939 gewissermaßen zum vierten Male untereinander aufgeteilt. Das ist ein immerwährendes Trauma der polnischen Nation.

Sie haben ein Buch über den Warschauer Aufstand 1944 geschrieben. Der Warschauer Aufstand gilt als ein Schlüsselereignis der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Welche Bedeutung hat er für das heutige Polen?

Włodzimierz Borodziej: In Warschau wiederholt sich 1944 die Konstellation vom September 1939. Das heißt, die Polen kämpfen wieder allein. Der Aufstand der Heimatarmee mit großen Teilen der Warschauer Stadtbevölkerung gegen die militärisch erdrückend überlegenen Deutschen wurde von den Polen allein geführt. Sie werden von der Roten Armee, die auf dem anderen Ufer der Weichsel stehenbleibt und zuschaut, wie die Deutschen die Hauptstadt zerstören, im Stich gelassen. Während der Kämpfe zwischen dem 1. August und dem 2. Oktober 1944 starben vermutlich 150.000 bis 200.000 Menschen – genau werden wir es nie wissen; mit ihnen ein großer Teil der polnischen Elite, die sich an diesem Aufstand aktiv beteiligt hat.

Im Frühjahr 2000 erschien das Buch des polnisch-amerikanischen Soziologen und Historikers Jan Tomasz Gross „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“. Das Buch löste in Polen einen Schock und eine der größten intellektuellen Debatten der Nachkriegsgeschichte aus. Wie ordnen Sie dieses Buch in die Debatten um die polnische Geschichte im 20. Jahrhundert ein?

Włodzimierz Borodziej: Es ist vermutlich das wichtigste Buch, das zu diesem Thema erschienen ist. Es hat bereits vorher Diskussionen über Polen und Juden unter deutscher Besatzung gegeben. Aber dieses Buch mit seiner ganz bewusst provokativ angelegten These, dass polnische Nachbarn über ihre jüdischen Mitbürger hergefallen sind und sie auf brutalste Art und Weise ermordet haben, führte zur wahrscheinlich größten Diskussion östlich von Deutschland.

Die Debatte über Antisemitismus in Polen dauert bis heute in verschiedenen Formen an. Mittlerweile gibt es viele neue Bücher und neue Streitpunkte, aber die Debatte, die dieses Buch ausgelöst hat, hat die polnische politische Kultur und auch die Erinnerungskultur nachhaltig geprägt. Bis zum Ende der Volksrepublik Polen haben sich Zeithistoriker in unserem Land mit diesem Thema kaum befasst. Das hat sich mit dem Buch von Jan Tomasz Gross und die dadurch ausgelösten Debatten nachhaltig verändert.

Am 1. März 2018 ist in Polen das sogenannte „Holocaust-Gesetz“ in Kraft getreten. Es sieht Geld- oder Haftstrafen vor, wenn jemand öffentlich dem polnischen Volk oder Staat Verantwortung oder Mitverantwortung für die vom „Dritten Reich“ begangenen Verbrechen zuschreibt. Welche Motivation steht aus Ihrer Sicht hinter dem Gesetz und welche Gefahr birgt es?

Włodzimierz Borodziej: Das Gesetz hat eine unsäglich dumme Motivation. In der Debatte wird übersehen, dass auch das Leugnen ukrainischer Verbrechen, die zwischen 1925 und 1950 begangen worden sind, strafrechtlich verfolgt werden soll. Während des Zweiten Weltkrieges haben ukrainische Nationalisten bei Massakern bis zu 100.000 Polen getötet, die Polen 15.000 bis 20.000 Ukrainer.

Das Gesetz ist erstens ein Abwehrversuch gegen eine differenzierte historische Aufarbeitung. Zweitens ist das Gesetz nicht anwendbar, weil man beispielsweise keinen kanadischen Historiker, der über die Beteiligung von Polen am Holocaust schreibt, strafrechtlich belangen kann. Drittens hat der Gesetzgeber im letzten Augenblick versucht, das Gesetz abzuschwächen. Er unterscheidet zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen. Diese Unterscheidung ist eine Fiktion. Ist ein Journalist, der ein Buch mit Anmerkungen schreibt, Wissenschaftler oder Journalist? Und ein Historiker, der ein Interview gibt, ist er wissenschaftlich tätig? Das Gesetz ist also absurd im Ausgangspunkt, nicht anwendbar, schwammig formuliert und insgesamt kontraproduktiv!

Im Eilverfahren hat Polen vor wenigen Tagen eine Gesetzesänderung durchgeführt, nach der Verstöße nicht mehr mit Haftstrafen geahndet werden.

Włodzimierz Borodziej: Innerhalb von acht Stunden wurde ein Unsinn aus der Welt geschafft, der Polens Ansehen sechs Monate lang ruiniert hat. Um diesen Schaden zu reparieren, werden wir sechs Jahre brauchen, und auch das nur, falls Regierung und Parlamentsmehrheit gegen jegliche Vernunft keine neue, vergleichbar schädliche Gesetzesänderung durchsetzen.

Ist das Gesetz Ausdruck einer Nationalisierung der polnischen Geschichte? Soll damit eine positive nationale Geschichte Polens zementiert werden?

Włodzimierz Borodziej: Zweifellos ist das Gesetz Ausdruck einer Nationalisierung der polnischen Geschichte. Es soll die Illusion schaffen, es gäbe nur eine heldenhafte Geschichte der polnischen Nation, die entweder aus Opfern oder aus Helden besteht oder aus Helden, die zu Opfern werden. Und das Gesetz will einem solchen Geschichtsbild eine rechtliche Grundlage verleihen, was wie gesagt völlig irrational ist.

Die Erinnerungskultur in Europa ist durch eine „Opferkonkurrenz“ geprägt. Andererseits schafft das Erinnern an die eigenen Opfer auch Identität. Wie beurteilen Sie dieses Spannungsverhältnis?

Włodzimierz Borodziej: Diese Opferkonkurrenz gibt es in mehreren europäischen Zusammenhängen: Wer hat mehr gelitten, wer hat mehr für Demokratie und Freiheit getan? Das ist ein gesamteuropäisches Phänomen und es reicht von Spanien bis Russland. Insofern glaube ich nicht, dass die polnische Erinnerungskultur sich wesentlich von den meisten europäischen unterscheidet.

Es handelt sich aus meiner Sicht um eine spezifisch deutsche Fragestellung, weil es in Deutschland feststeht, dass die Deutschen Täter waren und in ganz wenigen Fällen Opfer. Und dass man davon ausgeht, dass nun ganz Europa in diesen Kategorien denkt, was eben nicht der Fall ist.

Der Streit zwischen einer Geschichtsschreibung mit ausschließlich nationaler oder auch einer europäischen Perspektive zeigte sich bei der geänderten Konzeption des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig. Wie ordnen Sie den Beitrag des Museums für die polnische Erinnerungskultur ein?

Włodzimierz Borodziej: Das Museum des Zweiten Weltkrieges hat für die polnische Erinnerungskultur eine herausragende Bedeutung. Das Museum wurde im März 2017 eröffnet. Über 99 Prozent der ständigen Ausstellung sind auch nach der Entlassung der Direktion, die diese ständige Ausstellung aufgebaut hat, bislang fast unverändert geblieben. Außer dem Schlussakzent der ständigen Ausstellung hat sich relativ wenig verändert.

Das Museum ist ein riesiger Publikumserfolg mit Hunderttausenden Besuchern, die sehen können, dass Polen ein Teil der europäischen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs ist. Und die Besucher können sehen, dass es anderswo genauso schrecklich zugegangen ist und es massenhaften Mord und Hungertod überall gegeben hat. Insofern glaube ich, dass der Wert dieser ständigen Ausstellung kaum zu überschätzen ist.

Sie sind Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des am 6. Mai 2017 eröffneten Hauses der Europäischen Geschichte. Welches Ziel verfolgt das Haus der Europäischen Geschichte und mit welcher Konzeption?

Włodzimierz Borodziej: Darüber könnte man sicherlich ein eigenes Buch schreiben. Aber kurz zusammengefasst: Europas Geschichte besteht erstens aus Nationalgeschichten, die sehr oft, ganz besonders wenn es sich um Nachbarn handelt, in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Zweitens ist das Ziel der ständigen Ausstellung in Brüssel eben nicht, die Nationalgeschichten zu zeigen, sondern an konkreten Beispielen all das, was Europäer verbindet und auch trennt. Es stehen nicht die Nationalgeschichten im Fokus, sondern die ganze Buntheit der Geschichte des europäischen Kontinents; dies gilt besonders für das 19. und noch mehr für das 20. Jahrhundert.

Mein Lieblingsbeispiel ist der Gymnasialschüler aus Portugal, der in den Ausstellungsteil über den Kalten Krieg kommt und von Dingen wie der Staatssicherheit und der Unterdrückung der Opposition und politischer Verfolgung hört. In der Regel wird dieser portugiesische Gymnasialschüler über das sogenannte Osteuropa kaum etwas wissen. Dann kommt ihm vielleicht die Idee, dass es in Portugal jahrzehntelang eine Diktatur gegeben hat mit einer ganz furchtbaren Geheimpolizei, die genau dasselbe in seinem Land gemacht hat. Daran kann er erkennen, dass sich am westlichen und östlichen Rand des Kontinents auch vergleichbare historische Entwicklungen und Ereignisse abgespielt haben können, wobei die portugiesische Diktatur länger gedauert hat als die kommunistische in Ostmitteleuropa.

Gibt es in der Ausstellung so etwas wie rote Fäden einer gemeinsamen europäischen Geschichte?

Włodzimierz Borodziej: Ja, das lässt sich holzschnittartig so zusammenfassen: Es gilt für historische Entwicklungen, die erstens in Europa entstanden sind, zweitens übernational verbreitet waren und drittens eine große bis sehr große Wirkung bis heute ausüben. Das fängt mit dem antiken Ursprung des Kontinents an, geht über das Christentum und die Aufklärung bis zur Industrialisierung und auch zum Kolonialismus, Totalitarismus und Autoritarismus.

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 19. Juni und 3. Juli 2018.

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Włodzimierz Borodziej, geboren 1965 in Warschau, Historiker, seit 1996 Professor für Zeitgeschichte am Historischen Institut der Universität Warschau, 1997 bis 2007 Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Hauses der Europäischen Geschichte.

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