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Interview: Urbiologischer Antrieb

Über Leistung und Sport

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Herr Professor Froböse, Sie sind Autor zahlreicher Bücher zu den Themen Gesundheit, Ernährung und Sport. Kennen Sie das Geheimrezept für Spitzenleistungen im Sport?

Ingo Froböse: Das Allerwichtigste sind Leistungsbereitschaft, Talent und Disziplin. Der wichtigste Punkt ist: Es muss eine Spitzensportpersönlichkeit dahinterstecken, sonst wird man nicht erfolgreich.

 

Der deutsche Fußball ist zuletzt mit dem WM-Vorrunden-Aus der Frauen-Nationalmannschaft an einem Tiefpunkt angekommen. Was sind die Ursachen dafür?

Unbefriedigende Leistungen sehen wir nicht nur im Frauenfußball, sondern in vielen anderen Sportarten. Es gibt aber große Unterschiede. Wir haben sehr erfolgreiche Sportler in Randsportarten. In den populären und öffentlichkeitswirksamen Sportarten sind wir in den letzten Jahren nicht mehr so erfolgreich. Das betrifft insbesondere den Mannschaftssport, außer in den Bereichen Handball und Hockey. Den Leistungssport muss man deshalb differenziert betrachten.

In bestimmten Sportarten beziehen wir uns zu sehr auf die Wissenschaft, das heißt, wir sind zu akademisiert und verlieren so die Freude am Spiel. Wir sind in vielen sportlichen Aktivitäten zu deutsch geworden, weil wir versuchen, alles zu hinterfragen, zu strukturieren, zu analysieren. Das ist insbesondere im Bereich des Fußballs in den letzten Jahren so gewesen. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Sind wir im Individualsport überhaupt noch in der Lage, mitzuhalten? Leistungsbereitschaft ist im Spitzensport ein zentrales Thema. Aber das lernen wir in unserer Gesellschaft nicht mehr, vor allem nicht in Bildung und Ausbildung.

Sebastian Bahr
Ingo Froböse auf der Tribüne im Leichtathletikstadion der Deutschen Sporthochschule Köln.

Bei der Leichtathletik-WM 2023 in Budapest gab es null Medaillen. Schafft sich die Sportnation Deutschland ab?

Das hoffe ich nicht! Aber wir haben das Betreiben von Sport als gesellschaftliche Relevanzgröße, als Kulturgut – wie wir es früher verstanden haben – komplett verloren. Erinnern wir uns nur daran, wie wir mit Sport, Bewegung und Training in der Coronazeit umgegangen sind. Es wurde alles geschlossen, und der Sport wurde als dunkle Wolke beschrieben, weil man sich dabei näher und in Körperkontakt kam. Sporttreiben war nur draußen möglich. Daran erkennt man, und das ist mittlerweile gesellschaftlich verankert, dass Sport keine große Bedeutung für die Kultur der Gesellschaft und für die Leistungsbereitschaft hat.

 

Im Sommer finden in Paris die XXXIII. Olympischen Sommerspiele statt. Was erwarten Sie von den Spielen in Paris?

In bestimmten Sportarten werden deutsche Sportlerinnen und Sportler zweifellos weiterhin reüssieren: Etwa im Bahnradsport sind wir herausragend, ebenso im Wassersport wie Kanu oder Rudern sind wir immer noch Weltspitze. Das sind klassische deutsche Disziplinen. Im Bahnradsport haben wir viel bessere Rahmenbedingungen als andere Nationen. Da haben wir große Vorteile. Dort, wo wir über gute Infrastrukturen verfügen, werden wir auch in Paris erfolgreich sein. Aber dort, wo wir in den letzten Jahren Infrastrukturen abgebaut haben – beispielsweise bei oder Leichtathletikstadien, die den Fußballstadien geopfert wurden –, werden wir große Schwierigkeiten haben, erfolgreich zu sein. Gerade in den olympischen Kernsportarten Leichtathletik, Turnen und Schwimmen werden wir wahrscheinlich keine großen Erfolge erzielen können, weil sie gesellschaftlich nicht mehr so verankert sind, wie sie es früher waren.

 

Mangelnde Infrastruktur und fehlende gesellschaftliche Verankerung sind also die Hauptursachen für die Medaillenflaute …

Das würde ich so sehen. Der Sport hat in der praktischen Ausübung keine große Bedeutung mehr. Die Fernsehzeit in Bezug auf die Sportberichterstattung hat hingegen zugenommen. Aber wir sehen, dass die Nation immer weniger aktiv Sport treibt. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass wir die, die Sport treiben, teils aus der Gesellschaft verbannt haben. In vielen Kommunen ist es nicht gelungen, Sport attraktiv zu gestalten und weiterzuentwickeln. Die infrastrukturelle Unterstützung derer, die Sport treiben wollen, ist, wenn wir die Städte und Kommunen beobachten, in den letzten Jahren fast komplett weggebrochen, weil kaum noch in Sportstätten investiert wurde.

 

Welchen Wert hat es für ein Land, dass es Medaillen gewinnt? Ist der Wettkampf der Nationen nicht etwas Archaisches, das nicht mehr in die Zeit passt?

Wettkampfsport war im Zeitalter des Kalten Krieges von großer Bedeutung. Er war ein Nebenkriegsschauplatz, der es ermöglichte, über den Medaillenspiegel die Leistungsfähigkeit der politischen Systeme in Ost und West zu vergleichen. In den 1980er-Jahren – Moskau 1980 und Los Angeles 1984 – wurden die Olympischen Spiele durch gegenseitige Boykotte stark politisiert.

Diese große politische Bedeutung haben internationale Wettkämpfe heute nicht mehr, unter anderem auch, weil wir über Nationen hinausdenken. Dennoch gibt es auch heute Länderwettkämpfe. Ich glaube schon, dass dies immer noch in die Zeit hineinpasst, denn wir wollen Vergleich, wir wollen Wettkämpfe, wir wollen Leistungsschau. Das hat nicht nur mit der Frage zu tun, ob es archaisch ist; ich glaube, dass sich eine Nation auch durch die Leistungsbereitschaft der Menschen und damit durch die sportliche Leistungsfähigkeit charakterisiert, die sich über Medaillen repräsentiert.

 

Gibt es einen gemeinschaftsstiftenden Wert von Leistung?

Ja, auf jeden Fall! Gerade Kinder, wenn man sie denn lässt, wollen unbedingt Wettkämpfe machen, weil diese einerseits der Identifikation einer Person und der Heranbildung einer Persönlichkeit dienen, andererseits auch Gemeinsamkeit im Sinne des Spiels ermöglichen, indem man gemeinsam etwas geschafft und geleistet hat. Es kommt dabei nicht darauf an, dass wir immer nur die Besten in den Mittelpunkt rücken, sondern gerade wenn wir das Mannschaftsgefüge als zentral ansehen, hat jeder dort seine Position und seine Ressource, die er nach außen tragen kann.

Ich bin ein großer Freund davon, Leistung über die sportliche Aktivität als Sinnstiftung zu verstehen und nicht als negatives Momentum zu betrachten. Leistung ist ein völlig normales und natürliches Erlebnis, um sich zu differenzieren, und das wollen wir doch alle. Leistung ist ein urbiologisches Bedürfnis.

 

Im Spitzensport, aber auch bei Amateuren wird Leistung im Extremfall mit allen Mitteln gefördert, Stichwort Doping. Wie ist das einzuordnen?

Leider ist das so, vor allem dann, wenn Leistung mit Geld verbunden wird, was im Sport oft der Fall ist. Insbesondere im Spitzensport mit Werbeverträgen, mit Ansehen, mit der Möglichkeit, sich ins Rampenlicht zu stellen, greifen Menschen auch zu unlauteren Mitteln. Außer Frage steht aber, dass wir dringend Fairness im Sport brauchen. Doping in irgendeiner Form zu akzeptieren, vielleicht sogar freizugegeben, ist inakzeptabel. Wer Dopingmittel einsetzt, gehört aus dem Sport ausgeschlossen. Ich verstehe auch nicht, warum Menschen im Breitensport Dopingmittel einsetzen. Auch das muss man ablehnen, weil diese Leute die Grundidee des fairen Sports nicht verstanden haben.

 

Machen Olympische Spiele vor dem Hintergrund von Dopingmissbrauch noch Sinn?

Ich würde die Grundidee der Olympischen Spiele deswegen nicht infrage stellen. Aber wir müssen besser werden in dem, wie wir Doping kontrollieren. Wir müssen uns zudem rückbesinnen auf die ursprüngliche olympische Idee. Was wir gerade erleben, ist eine immer weitergehende Kommerzialisierung, die Herr Bach vorantreibt. Bei dieser Kommerzialisierung werden ethische, moralische und humane Grenzen überschritten. Man darf die Idee nicht verkaufen, und das geschieht gerade.

 

Welche Perspektiven sehen Sie für die hehren Ziele von Riesensportveranstaltungen – auch vor dem Hintergrund, dass autoritäre Staaten die Spiele an sich ziehen und im Westen die Ablehnung der Bevölkerung wächst?

Sport steht nicht mehr im Mittelpunkt der Gesellschaft, er muss aber dahin zurück, muss dort wieder seine Bedeutung erfahren für das soziale Zusammensein von Menschen. Solange wir das nicht schaffen, wird es immer wieder dazu kommen, dass Menschen die Olympischen Spiele ablehnen, weil sie nur sehen, dass immense Kosten entstehen.

Hinsichtlich der Austragungsorte könnte ich mir für die Olympischen Spiele ein anderes Konstrukt vorstellen: Warum finden die Spiele nicht immer am gleichen Ort statt, zum Beispiel in Griechenland, dort, wo der Ursprung der Spiele war? So wie Wimbledon immer in Wimbledon und die Tour de France immer in Frankreich stattfinden. Genauso könnten die Olympischen Spiele irgendwann wieder ihren Ort in Griechenland haben.

 

Bei den Bundesjugendspielen soll der „Wettkampf“ durch „Wettbewerb“ ersetzt werden. Wie beurteilen Sie das?

Es ist ohne Frage gut, wenn wir alle mitnehmen und auch den Schwächeren die Möglichkeit geben, in irgendeiner Form „Leistung“ zu dokumentieren. Auf der anderen Seite bleiben unsere Talente und Spitzensportler, unsere motorisch und körperlich guten Jungen und Mädchen dabei auf der Strecke. Für bestimmte sportliche Aktivitäten kann der Verzicht auf Wettbewerb hilfreich sein, dass es aber überhaupt keine Differenzierung mehr gibt, ist meines Erachtens falsch. Der Leistungsgedanke gehört in die Schule und auch in den Schulsport. Auch in den anderen Schulfächern gibt es keine Neutralisierung, sondern Noten, die Leistungen dokumentieren.

 

Einem Kind ist es also auch zuzumuten, dass es verliert …

Das gehört dazu, finde ich. Wir müssen auch Niederlagen verspüren, um unsere Grenzen zu erfahren, damit wir wissen, was wir uns zumuten und zutrauen können. Wenn ich niemals erfahre, wo meine persönlichen Grenzen liegen, dann sind die Konsequenzen möglicherweise viel größer. Insofern müssen wir auch Niederlagen so früh wie möglich erfahren und letztendlich erleben, dass wir, wenn wir resilient sind, aus ihnen wieder eigenständig herauskommen. Wie sonst soll ich etwa Resilienz und Leistungsbereitschaft erfahren, wenn nicht im Sport? Sieg und Niederlage gehören eng zusammen.

 

Wie sehen Sie die Situation des Schulsports in Deutschland?

Für mich beginnt der Skandal damit, dass der Schulsport zum Nebenfach deklariert wird. Sport ist die größte Ressource für die Wachstumsprozesse und für die natürliche biologische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Wir sehen die negativen Auswirkungen, wenn wir die biologische Entwicklung von Kindern nicht durch entsprechende Reize im Wachstumsprozess fördern. Die körperliche Förderung, die eng mit der geistigen, mentalen und sozialen Förderung zusammenhängt, muss sich deshalb in der Schule wiederfinden. Das ist aber nicht der Fall. In den Grundschulen, wo die Kinder ihre größten motorischen Entwicklungsschritte machen, gehören die kompetentesten Lehrkräfte in den Sportbereich. Im Grundschulalter wird der Bewegungsvirus entwickelt und die Qualität des Bewegungsvirus bestimmt. Dort setze ich Reize für ein lebenslanges aktives und gesundes Leben. Für mich heißt Gesundheitskompetenz Bewegungskompetenz. Der Schulsport ist aber in seiner Bedeutung völlig unterrepräsentiert. Das sieht man auch daran, in welchem Zustand die Sportstätten sind und welche Bedeutung sie für Schulen und Kommunen haben. Keine!

 

Sie haben einmal ein eigenes Sportministerium ins Spiel gebracht.

Warum haben wir einen Kulturstaatssekretär, nicht aber einen Sportstaatssekretär? Warum gibt es Beauftragte für alle möglichen Belange, aber nicht für den Sport? Der Sport ist im Innenministerium angesiedelt, und da ist er komplett falsch, weil dort in der Regel nur der Spitzensport im Fokus steht. Es geht dort nur um das Medaillenzählen und das Zuschustern von Unterstützung für die jeweiligen Sportfachorganisationen. Der Breitensport und seine gesellschaftliche Relevanz, das ist ein interdisziplinäres und interministerielles Aufgabenfeld. Hierfür brauchen wir entweder ein eigenes Ministerium oder einen Staatssekretär, der eine klare institutionelle Verantwortung repräsentiert.

 

Inwieweit gehören Spitzen- und Breitensport zusammen?

Sie gehören unmittelbar zusammen! Ohne den Breitensport kann sich keine Spitze entwickeln. Man braucht die Basis, und aus der Basis heraus entwickeln sich die Talente. Wir brauchen ein breites Fundament, um zu reüssieren und zu sehen, welche Athleten aus der Masse herauswachsen.

 

Was erwarten Sie von der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland?

Deutschland wird weit kommen. Ich bin mir sicher, dass die Nationalelf ins Halbfinale kommen wird, weil Julian Nagelsmann versteht, wie er seine Aufgaben machen muss. Wichtig ist, dass wir wieder Spielfreude bei den Deutschen sehen. Die Akademisierung des Sports sollte ein wenig nachlassen, denn Sport, Spiel, Spaß und Spannung gehören unmittelbar zusammen. Das sollten die Sportler und gerade die Fußballer wieder gewinnen. Gelingt ihnen das, sind wir auf jeden Fall im Halbfinale dabei.

 

Ingo Froböse, geboren 1957 in Unna, Sportwissenschaftler, Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation im Sport, Deutsche Sporthochschule Köln, seit Mai 2023 Partner der Kölner Denkfabrik „Fischimwasser“.

 

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 16. Februar 2024.

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