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Krieg und Kriegsgefahr als Grundwahrnehmung

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Am 9. März 2024 erinnerte das Außenministerium der Republik Estland in den sozialen Medien an den 80. Jahrestag der Bombardierung Tallinns im März 1944. Der Beitrag zog eine direkte Parallele zwischen dem sowjetischen Feldzug in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs und Russlands aktuellem Krieg in der Ukraine: „Bis zu 300 sowjetische Flugzeuge bombardierten uns, und ihre Hauptziele waren Wohnviertel und kulturelle Sehenswürdigkeiten. Das russische Drehbuch ist heute in der Ukraine dasselbe.“

Ausgelöst wurde damit eine Kontroverse, wobei die Kritiker darauf hinwiesen, dass Estland 1944 von den Nationalsozialisten besetzt war, sodass die Bombardierung Tallinns als Teil der Befreiung Europas gerechtfertigt gewesen sei. Einige meinten sogar, die Empörung über die Bombardierung zeige eine Sympathie mit den damaligen Besatzern.

Im Zweiten Weltkrieg sind auch Städte in Westeuropa von Besatzung, Bombardements und weitreichenden Zerstörungen betroffen gewesen. Aber es gibt divergierende Perspektiven auf diesen Krieg und seine Folgen. Russland, Westeuropa und die Regionen, die zwischen ihnen liegen – die bloodlands (Timothy Snyder) – haben einen unterschiedlichen Blick darauf.

Der hohe Blutzoll der Zivilbevölkerung wäre uns vielleicht noch verständlich gewesen, hätte er nicht allein zur Vertreibung der Nationalsozialisten, sondern zum Ende der Besetzung Estlands geführt. In den baltischen Staaten hatte die deutsche Besatzung jedoch lediglich die sowjetische von 1940 bis 1941 abgelöst, die 1944 erneut zurückkehrte. Jede „Befreiung“ führte zu Hinrichtungen und Deportationen, zur Unterdrückung der lokalen Bevölkerung. Erst 1989 bis 1991, fast fünf Jahrzehnte später, befreiten sich die Völker Osteuropas endlich vom sowjetischen Joch. Russland hat sich als Nachfolgestaat der Sowjetunion nie offiziell bei Estland für die Besatzung und die Deportationen entschuldigt. Für die Nationen in Osteuropa prägt diese historische Erfahrung das heutige Verständnis des Krieges in der Ukraine.

 

Wunschdenken kollidiert mit der Realität

1991 erlangte Estland seine Souveränität zurück, verfolgt seitdem eine eigenständige Außenpolitik und hat 1997 die Weichen für den Beitritt zur NATO sowie 2004 zur Europäischen Union gestellt. Im Rahmen seiner Mitgliedschaft in beiden Organisationen beteiligte sich Tallinn an der europäischen Außenpolitik mit dem Ziel der Zusammenarbeit mit Moskau und der Förderung der grenzüberschreitenden Kooperation. Estnische Universitäten schufen Austauschprogramme, Handel und Investitionen nahmen zu, und es entwickelte sich eine Vielzahl zwischenmenschlicher Kontakte. Ohne jemals die Erinnerung an den Krieg und die Besatzungszeit auszublenden, engagierte sich Estland somit für Russland.

Gleichzeitig bot das Verhalten Russlands Estland keinen Anlass, seine Wachsamkeit zu verringern. Die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unter russischer Ägide 1991 zielte ausdrücklich auf den Wiederaufbau eines konföderalen Staates ab, was sich 1992 jedoch als unmöglich erwies. Der Abzug der russischen Streitkräfte aus Estland erfolgte drei Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands nach schwierigen Verhandlungen und auf starken Druck des Westens. Dennoch hielten Russlands imperiale Ambitionen gegenüber Estland an. Ein äußerst alarmierender Vorfall waren die „Bronzesoldaten“-Unruhen am 26. April 2007, als sich über 1.500 mehrheitlich russischsprachige Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Auslöser war die Versetzung eines sowjetischen Denkmals, des „Bronzesoldaten von Tallinn“, und die Exhumierung von Kriegsgefallenen an dieser Stelle. Im Frühjahr 2007 trafen sich russische Diplomaten mit den Protestführern, die schließlich die Randalierer aufwiegelten. Die russische Seite übte diplomatischen Druck aus, drohte Sanktionen an und koordinierte Cyberangriffe und Desinformationskampagnen über die damals gerade aufkommenden Social-Media-Plattformen. Die Absicht war, die estnische Gesellschaft zu destabilisieren, damit Moskau seinen Einfluss auf die inneren Angelegenheiten des Landes ausweiten konnte.

Diese Übergriffe hätten Europa eigentlich die Augen öffnen müssen, jedoch prägte die eskalierende Aggressivität Russlands erst allmählich die europäische Wahrnehmung. Nur ein Jahr später führte Russland zusammen mit den selbsternannten Republiken Südossetien und Abchasien einen Krieg mit Georgien nach einer diplomatischen Krise, die nach dem Versprechen der NATO, den Beitrittsantrag Georgiens zu prüfen, ihren Höhepunkt erreicht hatte. Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim 2014 veränderte die Wahrnehmung Russlands in ganz Europa, was sich in den anschließend beschlossenen Sanktionen widerspiegelte. In den 2010er-Jahren wurden mehrere osteuropäische Initiativen ergriffen, um die Bündnispartner dazu zu bewegen, die Abschreckung gegen Russland endlich ernst zu nehmen. Spätere Vorfälle wie die Sabotage eines Munitionsdepots in der Tschechischen Republik 2014, der Abschuss des Flugzeugs MH17 der Malaysia Airlines und die Giftanschläge auf Sergej Skripal und seine Tochter im Vereinigten Königreich 2018 unterstrichen die Aggressivität Russlands nur noch. Für die USA galt Russland bis 2016 als „Regionalmacht“. Erst 2017 erklärten die USA in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie Russland gemeinsam mit China zu ihren beiden strategischen Rivalen. Dennoch sollte es bis zur Belagerung von Kiew im Jahr 2022 dauern, bis sich eine Mehrheit der NATO-Mitglieder verpflichtete, die Zwei-Prozent-Richtlinie für die jeweiligen Militärausgaben zu erreichen und die Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriff zu unterstützen.

 

Ansichten in Europa

Die Ansichten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron haben sich seit der groß angelegten Invasion 2022 gewandelt. Bis 2024 trugen Russlands Unnachgiebigkeit, unverhohlene Desinformationskampagnen in Frankreich und Russlands Rolle bei der Vereitelung der französischen Militärpräsenz in der Sahelzone zu einer Meinungsverschiebung im Élysée-Palast bei, die in einem Tabubruch Macrons gipfelte, als er über mögliche europäische Militäreinsätze in der Ukraine sprach. Damals scherzten einige, dass Frankreich der „vierte baltische Staat“ geworden sei.

Allerdings sind die mittel- und osteuropäischen Länder in ihrer Wahrnehmung des Krieges und der europäischen Sicherheit von Einigkeit weit entfernt. Ungarn, das in der Europäischen Union manchmal als Russlands „Trojanisches Pferd“ bezeichnet wird, hat für Frustration gesorgt. Die Regierung Viktor Orbáns scheint sich vom bisherigen pragmatischen Opportunismus zu lösen und einem ideologischen Glauben zu folgen, nach dem sich die westlichen Staaten im Niedergang befänden und Russland und China in ihrem Kampf gegen die Demokratie siegen würden. Orbán hält die Beziehungen zu beiden Mächten aufrecht, vernachlässigt internationale Sanktionen und lehnt Bemühungen zur Unterstützung der Ukraine ab.

Die Notwendigkeit, militärische Hilfe zu leisten und die Integration der Ukraine in westliche Institutionen zu fördern, war für die slowakische Gesellschaft nie eindeutig. Die vorherige Regierung schien die Ukraine trotz der öffentlichen Meinung zu unterstützen, nicht wegen ihr. Der derzeitige Premierminister Robert Fico sprach sich sowohl gegen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine als auch gegen ihren NATO-Beitrittsantrag aus, obwohl er sich in Gesprächen hinter verschlossenen Türen eher zurückhaltend verhält.

Warschau setzte sich von Anfang an für eine verstärkte internationale Unterstützung der Ukraine einschließlich Militärhilfe und ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO ein. Es hätte auch anders kommen können. Einerseits ist die polnisch-ukrainische Geschichte geprägt von Kriegen und gewaltsamen Umsiedlungen zwischen beiden Ländern, die viele noch miterlebt haben. Darüber hinaus würde ein Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union einen potenziell mächtigen wirtschaftlichen Konkurrenten für Polen, insbesondere auf dem Agrarsektor, in den Staatenverbund holen. Andererseits teilen beide Länder eine Geschichte des Widerstands gegen die russische Dominanz. Einige Menschen in Polen betrachten daher die aktuelle Unterstützung der Ukraine als Fortsetzung des Widerstands gegen Russland. Zudem befürchten die Polen, dass eine ukrainische Niederlage eine direkte Konfrontation mit Moskau bedeuten würde. Die polnische Mitte-Regierung, die 2023 in das Amt eingeführt wurde, hat ihre anhaltende Unterstützung der Ukraine erklärt, auch wenn das historische Gedächtnis und der wirtschaftliche Wettbewerb die Ukraine-Politik Warschaus weiterhin belasten werden.

 

Angst vor dem Verlassenwerden

Mittel- und Osteuropa ziehen wie Estland historische Parallelen zwischen der expansionistischen Außenpolitik des zaristischen Russlands, der Sowjetunion und des modernen Russlands unter Putin. Als solche ist die Ukraine von zentraler Bedeutung für Russlands Ziele, weil der Kreml eine demokratische, unabhängige, westlich orientierte ostslawische Nation als unerträgliche Bedrohung betrachtet, denn sie gäbe ein Beispiel, dem die eigene Bevölkerung nacheifern könnte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Ambitionen Russlands allein auf die Ukraine beschränken, wie das Ultimatum von Außenminister Sergej Lawrow an die NATO im Dezember 2021 zeigte. Russland forderte damals den Abzug der NATO-Truppen aus Gebieten, die vor 1997 nicht Teil des Bündnisses gewesen waren; diese Truppen sind allerdings nur als Reaktion auf die eskalierende russische Feindseligkeit dort stationiert worden.

Die historischen Erfahrungen, vom Molotow-Ribbentrop-Pakt bis zur Missachtung der auf der Konferenz von Jalta festgelegten Prinzipien, haben ein bleibendes Trauma in der mittel- und osteuropäischen Psyche hinterlassen: die Angst vor dem Verlassenwerden. Die Vorstellung, dass die Großmächte in Westeuropa und weltweit eines Tages einmal mehr über unsere Köpfe hinweg einen Deal mit Russland abschließen könnten, prägt weiterhin unsere Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine und der Reaktion des Westens. Diese Befürchtung erklärt auch, warum die baltischen Staaten und Polen paradoxerweise ihre Sicherheitslage zugleich als die beste und die schlechteste seit 1991 wahrnehmen. Einerseits bietet die Mitgliedschaft Estlands in der Europäischen Union und der NATO in Verbindung mit einer aktiveren Rolle beider Organisationen in der europäischen Verteidigung eine beispiellose Sicherheitsgarantie für die Staaten an der Ostflanke des Bündnisses. Andererseits hat der umfassende Krieg Russlands gegen die Ukraine gezeigt, dass das Regime im Kreml sowohl anfällig für Fehleinschätzungen als auch bereit ist, den Autoritarismus im Inland zu verstärken, um außenpolitische Ziele zu erreichen, die nichts Gutes für die Wiederherstellung und Gewährleistung der Sicherheit in Europa verheißen.

Sowohl West- als auch Osteuropa erkennen an, dass der Krieg in der Ukraine ein entscheidender Moment für die europäische Sicherheit ist und sein Ausgang die Zukunft Europas und des Westens prägen wird. Dennoch gibt es vieles, was die westlichen Staaten trennt – von unterschiedlichen historischen Erfahrungen bis hin zu aktuellen politischen Perspektiven: ob wir größere Angst vor einer Besatzung oder der Eskalation des Konflikts haben sollten, ob wir eine Niederlage Russlands und einen Sieg der Ukraine anstreben sollten oder ob die Demütigung einer Niederlage für den Kreml und die russische Gesellschaft zu viel wäre. Dennoch hat Europa gezeigt, dass es der russischen Kriegslust standhalten kann; von der Aufstockung der Militärhilfe für die Ukraine bis hin zur Aufrechterhaltung des Sanktionsregimes. Der Krieg zeigt einmal mehr, dass Europa in Krisen geschmiedet wird. Trotz unterschiedlicher Ansichten und Erinnerungen an die Vergangenheit hat Europa bewiesen, dass es zusammenarbeiten kann – ein wichtiger Präzedenzfall, der dazu beitragen wird, die Herausforderungen zu bewältigen, die im Krieg Russlands gegen die Ukraine noch vor uns liegen.


Merili Arjakas, Junior Research Fellow, International Centre for Defence and Security (ICDS), Tallinn, und Chefredakteurin der Zeitschrift „Diplomaatia“ des ICDS.

Ivan U. K. Kłyszcz, promovierter Politikwissenschaftler, Research Fellow, International Centre for Defence and Security (ICDS), Tallinn.