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Die Leistungen der Europäischen Union seit der Migrations-­ und Flüchtlingskrise

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Kein Thema scheint die Europäische Union (EU) so tief zu spalten wie die Migrations- und Flüchtlingspolitik. Und es stimmt: Noch immer warten wir auf einen Durchbruch bei der Reform des Dubliner Übereinkommens, noch immer hapert es an der Umsetzung des Gemeinsamen Asylsystems, noch immer vermissen wir Solidarität und Kohärenz in der Flüchtlingsaufnahme und im Asylverfahren – die Positionen innerhalb der EU nähern sich in diesen Fragen bisher kaum, obwohl das Gemeinsame Asylsystem bereits vor zwei Jahrzehnten beschlossen wurde. Es besteht aus sechs rechtlichen Bausteinen, die seither weiterentwickelt worden sind. Die EU hat sich also bereits vor der Krise mit der Thematik beschäftigt und einen rechtlichen Rahmen gesetzt. Durch die Krise wurde die Arbeit am Acquis communautaire intensiviert. Mit der Migrationsagenda vom Mai 2015 hat die EU alle Aspekte dieses Politikbereiches – von der Fluchtursachenminderung bis hin zu Fragen der praktischen Rückkehr abgelehnter Asylbewerber – erfasst und miteinander verschränkt. Woran liegt es also, dass die politische Rhetorik so einseitig negativ ausfällt und die Thematik das Fundament der EU zu bedrohen scheint?


Ohne den sich ausweitenden Krieg in Syrien wäre es 2015 nicht zur europäischen Migrations- und Flüchtlingskrise gekommen. Was 2011 als friedlicher Protest gegen das Assad-Regime begann, eskalierte zum Bürgerkrieg und zum internationalen Konflikt. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung, etwa elf Millionen Menschen, hat ihr Zuhause verloren, wurde zu Binnenvertriebenen oder zu Flüchtlingen.


Die Türkei hat zahlenmäßig die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen: Rund 3,5 Millionen halten sich dort auf. Es folgen der Libanon mit etwa einer Million und Jordanien mit circa 700.000 syrischen Flüchtlingen. Im Libanon ist nahezu jeder Vierte ein syrischer Flüchtling. In Deutschland haben etwa 800.000 Syrer Schutz gefunden. Auch wenn die akute Migrations- und Flüchtlingskrise in Europa vorüber ist, bleibt die Krise in und um Syrien bestehen. Die Vereinten Nationen sprechen von einer der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit.


Drei Faktoren führten 2015 zur europäischen Migrations- und Flüchtlingskrise: erstens der sich hinziehende und ausweitende Konflikt, der vielen Syrern die Zuversicht auf eine rasche Rückkehr nahm, zweitens die Geber­-Krise, die zu einer Unterfinanzierung der internationalen Hilfswerke führte und damit zu Hunger und Not in den Erstaufnahmeländern beitrug, und drittens' der Regierungswechsel in Griechenland. Bereits im Wahlkampf hatte die sozialistische Syriza eine Kehrtwende in der griechischen Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik versprochen. Abwehrmaßnahmen sollten ab­ gebaut und Integrationschancen angeboten werden. Als Syriza ab Januar 2015 an der Regierung beteiligt war, wurden Grenzschutz-Operationen – wie „Xenios-Zeus“ und „Aspida“ – eingestellt. Waren 2014 etwa 50.000 Menschen irregulär über die Ostmittelmeerroute – von der Türkei nach Griechenland – in die EU gelangt, stieg ihre Zahl 2015 aufgrund dieser Faktoren sprungartig auf über 885.000.


Sinkende Antragszahlen


Seit 2013 bilden Syrer die größte Gruppe der Asylbewerber in der gesamten EU. Laut Eurostat stellten 2013 etwa 50.000 Syrer einen Asylantrag in einem der EU-Mitgliedstaaten, 2014 waren es rund 120.000. 2015 und 2016 stieg die Zahl auf 700.000 an. 2017 nahmen die Asylanträge von Syrern in der EU wieder auf etwa 100.000 ab. Die abnehmende Tendenz hält an, auch wenn die Fluchtursachen weiterhin bestehen: Im ersten Halbjahr 2018 haben 34.000 Syrer einen Asylantrag in der EU gestellt. Den allermeisten wird das Recht auf Asyl zugesprochen – 2017 wurden 94 Prozent aller syrischen Antragsteller in der EU als Flüchtlinge anerkannt.


Dass die Antragszahlen trotz der unverändert kritischen Situation in und um Syrien zurückgegangen sind, ist eine Folge der europäischen Politik. Seit Mai 2015 gibt es keinen EU-Ratsgipfel, der sich nicht mit der Thematik befasst hätte. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament flankieren die Beschlüsse des Rates mit Gesetzesvorlagen und Aktionsplänen. In der Krise hat die EU weit mehr Tatkraft und Handlungsfähigkeit gezeigt, als sie öffentlich vermittelt hat.


Unter dem Eindruck der Krise wurde sehr viel Energie in die gemeinsame Migrations- und Flüchtlingspolitik investiert und dabei ein erheblicher Fortschritt erzielt. Die Antworten der EU auf die Krise waren sowohl interne Reformen, die beispielsweise zur Schaffung der Hotspots in Italien und Griechenland geführt haben, ein besserer Schutz der gemeinsamen Außengrenze, eine verstärkte Zusammenarbeit mit Aufnahme­ und Transitländern als auch eine Politik der Fluchtursachenminderung. Mit den kurz- und mittelfristigen Maßnahmen soll die Migration in die EU gesteuert werden. Es gilt, die humanitären Verpflichtungen mit dem Recht und dem Ordnungsanspruch der EU-Bürgerinnen und ­Bürger in Einklang zu bringen. Das ist nicht einfach, und immer wieder treten Dilemmata auf, wie in der nicht komplikationsfreien Kooperation mit der Türkei oder bei der fraglos schwierigen Zusammenarbeit mit dem libyschen Küstenschutz. Auch sind die getroffenen Maßnahmen in der Umsetzung nicht fehlerfrei. So wurde durch die Einrichtung der Hotspots an den Außengrenzen zwar Kontrolle zurückgewonnen, doch die Standards entsprechen noch immer nicht den rechtlichen und humanitären Vorgaben der EU. Dennoch darf das Erreichte nicht kleingeredet werden.


Europäischer Grenz- und Küstenschutz


Ein Beispiel: Lange war das begrenzte Mandat der EU-Grenzschutzagentur Frontex – keine eigenen Ressourcen, kein eigenes Personal, keine Befugnis zu eigenständigen Operationen – ein Kernproblem. Doch seit 2015 besteht weit­ gehend Einigkeit über die Aufwertung der Agentur zum Europäischen Grenz­ und Küstenschutz. Dies beinhaltet eine deutliche Verbesserung der Ressourcen und des Mandats. Zum einen soll die Beobachtung der EU-Außengrenzen intensiviert werden. Das neue Mandat sieht zum anderen die Möglichkeit der Entsendung europäischer Grenzschützer in nationale Hoheitsgebiete vor. So kann das neue Frontex einen Mitgliedstaat zu konkreten Maßnahmen auffordern. Um die gestiegenen Anforderungen zu erfüllen, soll das Personal von derzeit 1.500 auf 10.000 aufgestockt werden. Diese Grenzschützer würden die etwa 100.000 nationalen Beamten unterstützen.


Die Europäische Kommission hat die vergangenen Jahre weiterhin genutzt, um Vorschläge zur Reform des europäischen Asylsystems voranzubringen. Diese sollen das Asylrecht funktionsfähiger, effizienter, fairer und humaner machen – was jedoch aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen, politischer Bewertungen und Kapazitäten nicht einfach ist und auf Widerstand stößt. Die Verantwortung zur Umsetzung liegt letztendlich bei den Mitgliedstaaten, die die Vorgaben aus Brüssel in der Vergangenheit wenig sorgfältig umgesetzt haben. Ein Hauptanliegen der Europäischen Kommission ist daher, die Richtlinien durch Verordnungen mit unmittelbarer Geltung zu ersetzen. Die Reform des Dubliner Übereinkommens ist dabei von besonderer Bedeutung. Hier wurde vor Jahrzehnten festgelegt, dass der Staat, der von einem Asylbewerber als erster erreicht wird, auch für die Aufnahme, das Asylverfahren und – im Falle einer Anerkennung als Flüchtling – für die Integration zuständig ist. Diese Regelung belastet die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen einseitig und stellt somit ein grundlegendes Problem des europäischen Asylsystems dar; Solidarität ist bislang nicht vorgesehen. Damit das System funktioniert, bedarf es dringend eines zukunftsfähigen Ausgleichs für die Aufnahmestaaten und einer Verantwortungs- und Kostenbeteiligung der übrigen Staaten.


Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten


In den vergangenen Jahren wurden nicht nur wichtige Weiterentwicklungen der Europäischen Migrations- und Asylpolitik angestoßen, sondern es ist darüber hinaus eine EU-Migrations-Außenpolitik entstanden. Diese widmet sich erstens den unmittelbaren Nachbarländern (vor allem der Türkei), zweitens den Nachbarregionen Nahost und Maghreb (hier Ländern wie Jordanien oder Libyen), drittens wichtigen Transitländern (wie Niger) und schließlich viertens Herkunftsländern (wie Nigeria). Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben seit 2015 erhebliche Geldmittel bereitgestellt und politisches Gewicht eingesetzt, um Migration zu steuern – mit beachtlichen Erfolgen.



Seit dem Inkrafttreten der EU-Türkei-Vereinbarung am 20. März 2016 ist die Zahl der Überfahrten über die Ägäis stark zurückgegangen. 2017 nahmen 35.400 Personen diese Route. 2016 waren es 176.800 und 2015 noch 856.700 Menschen. Die Vereinbarung beruht – neben Absichten zur EU-Annäherung – maßgeblich auf fünf Komponenten: erstens der Festlegung eines Stichtages, ab dem Migranten (ohne Schutzbedarf) in die Türkei zurückgeschoben werden, zweitens einem 1 : 1­Mechanismus, wonach eine abgewiesene Person aus Syrien (ohne Schutzbedarf) den Anspruch für eine zweite Person (mit Schutzbedarf) zur regulären Aufnahme in der EU begründet, drittens einer effektiven Küsten­ und Grenzkontrolle durch die Türkei, viertens der Etablierung eines humanitären Aufnahmeprogramms der EU für syrische Flüchtlinge aus der Türkei und fünftens der Unterstützung der Türkei bei der Bereitstellung von sozialen Hilfeleistungen für syrische Flüchtlinge durch konkrete Hilfsprojekte (mit bis zu zweimal drei Milliarden Euro). Dadurch hat sich die Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei erheblich verbessert.


Migrationsdruck kommt zunehmend aus Afrika. Spätestens seit dem EU-Afrika-Gipfel im November 2015 in Valletta (Malta) steht daher die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Minderung von Fluchtursachen im Fokus. Ein Beispiel dafür sind die Pläne der Europäischen Kommission vom Juni 2016 zur Schaffung sogenannter „Migrationspartnerschaften“. Diese sehen engere Beziehungen mit einer Reihe wichtiger Transitländer, prioritär mit Niger, Nigeria, Mali, der Elfenbeinküste, Senegal, dem Libanon, Jordanien und Äthiopien, vor. Mit diesen Staaten sollen bilaterale Abkommen zur nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation geschlossen werden. Dabei soll das gesamte Instrumentarium der EU und der einzelnen Mitgliedstaaten – von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit über Handelspolitik bis hin zur Zusammenarbeit in Bildung und Forschung – gebündelt werden. Diese Maßnahmen stehen für eine zukunftsgewandte Politik, die erfolgreich sein kann, wenn die EU-Staaten zusammenarbeiten.


Nach Jahren der Konzentration auf innereuropäische Herausforderungen wie die Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt die Syrien-Krise, dass sich die EU-Staaten stärker mit der eigenen Nachbarschaft beschäftigen müssen. Dazu gehört, dass die gemeinsame Außen­ und Sicherheitspolitik weiterentwickelt werden muss. Eine konsistente Syrien-Politik wäre ein nötiger Schritt. Außerdem wurden erhebliche Schwachstellen in der europäischen Innenpolitik aufgedeckt: Der Schutz der europäischen Außengrenze und das europäische Asylsystem haben noch immer Reformbedarf. Die Zukunft des Schengenraumes hängt davon ab, dass der Außengrenzschutz und das Asylsystem funktionieren. Zwar wurde durch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten die irreguläre Migration stark gedämpft, doch die Ursachen für Flucht und Migration konnten hingegen kaum gemindert werden. Die EU hat die akute Krise weitgehend bewältigt, zahlreiche Lösungsvorschläge vorgelegt und nimmt nun die künftigen Herausforderungen ins Visier. Der Weg der Harmonisierung könnte weiter beschritten werden. Doch solange mit ausländerfeindlichen Kampagnen Wahlen gewonnen werden und aus der Ablehnung von Flüchtlingen und Angst vor Migration Kapital geschlagen wird, sind Kompromissvorschläge – die es zuhauf gibt – vergeblich. Hoffen wir daher auf ein baldiges Ende des Syrienkrieges und auf die Einsicht in den Mitgliedstaaten, dass die EU Teil der Lösung und nicht das Problem ist.


Christina Catherine Krause, geboren 1973 in Erding, Koordinatorin für Migrations- und Flüchtlingspolitik, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.


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