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Beschäftigung mit unmöglichen Szenarien

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Könnte China in den nächsten Jahren in seiner jetzigen politischen Verfasstheit scheitern und auch gesellschaftlich und wirtschaftlich Schaden nehmen? Was sich in Bezug auf die Vereinigten Staaten auf die institutionellen Pfeiler eines Rechtsstaats und einer liberalen Demokratie bezieht, würde mit Blick auf die Volksrepublik ein abruptes Ende von Xi Jinpings personalisiertem techno-totalitärem Herrschaftssystem bedeuten. Medienbeiträge, Analysen und wissenschaftliche Szenarien gehen davon aus, dass der Partei- und Staatschef seine 2022 begonnene dritte Amtszeit zu Ende führt. Eine weitere, vierte Amtszeit Xis bis 2032 wird ebenfalls als nicht unwahrscheinlich erachtet.1

Warum ist ein plötzliches Ende des Systems Xi, sei es durch eine erzwungene Absetzung Xi Jinpings nach multiplen, sich verschärfenden Krisen oder sei es aus gesundheitlichen Gründen, so schwer vorstellbar? Dafür gibt es verschiedene Ursachen.

Xi scheint trotz mancher Krisen die Zügel fest in der Hand zu halten. Er hat die Proteste gegen die Härte und Willkür der Coronamaßnahmen im November und Dezember 2023 zügig unterbunden. Es waren neben den Protesten in Hongkong die herausforderndsten Demonstrationen der städtischen Mittelschicht seit Jahrzehnten. Xi hat die nationalen Erschütterungen und den internationalen Vertrauensverlust nach dem harten Lockdown und der unvorbereiteten Kehrtwende zur Öffnung noch nicht wieder vollständig kompensiert. Aber er hält die Wirtschaft allen strukturellen Krisenerscheinungen zum Trotz weiterhin in Gang, wenn auch zu einem hohen sozialen Preis und mit zunehmender Informationsrepression.

Das Verschwinden zweier ihm loyaler Minister hat Xi ebenso überstanden wie den Austausch von Oberbefehlshabern der strategischen Raketenstreitkräfte der Volksbefreiungsarmee. Sein Herrschaftssystem ist so weit institutionalisiert, dass die Unterstützung einiger ihm loyal ergebener Kader an zentralen Schaltstellen ausreicht, um seine Machtposition stabil zu halten. Nur noch wenige Politiker in Chinas Machtzentrale, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, sind mit Xi Jinping nicht persönlich verbunden. Ein Beispiel ist Wang Huning, Vorsitzender der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes.

 

Worst-Case- und Best-Case-Szenario

Das Narrativ eines stabilen autokratischen Regimes in China korrespondiert zudem mit dem aktuellen Trend zunehmender und sich verfestigender autokratischer Tendenzen innerhalb Europas und in den Vereinigten Staaten. Das Szenario eines Zusammenbruchs von Chinas Herrschaftssystem hatten unter anderem US-amerikanische Autoren wie Gordon G. Chang oder Minxin Pei in den 1990er- und 2000er-Jahren beschrieben. Es ist bekanntlich nicht eingetreten. Die Formel „Wandel durch Handel“ haben Analysten mittlerweile ad acta gelegt. Auch kann es wahlweise als kultursensibel, politisch korrekt oder wissenschaftlich trendig gelten, eher den Untergang eines „weißen, kolonialistischen, arroganten Westens“ zu besingen als den eines „Reichs der Mitte“, von dem angenommen wird, dass es auf Basis von eigenen Traditionen, Werten und Stärken agiere.

Aus Sicht mancher politischer Akteure und Unternehmer ist es sogar unabdingbar, dass das System Xi stabil bleibt. Ein Scheitern Chinas würde die Weltwirtschaft vermutlich an den Rand des Abgrunds drängen, zumindest die eigenen Geschäfte stark beeinträchtigen, und Peking würde als Gegenüber und Mitstreiter in globalen Fragen und Konflikten verloren gehen. Schließlich kann es auch einfach beruhigend und bequem sein, sich nicht noch einen weiteren potenziellen Krisenherd vorstellen zu wollen. Das würde besonders für das Szenario gelten, in dem unter Xis Nachfolgern eine gewaltsame Auseinandersetzung ausbräche und institutionelle Mechanismen wie die vorübergehende Machtübernahme des Vize-Präsidenten und eine anzuschließende Bestätigungswahl eines neuen Parteisekretärs durch das Zentralkomitee scheitern würden. Eine inkohärente und wechselhafte Politik und damit eine politische und wirtschaftliche Lähmung Chinas wären die Folgen.

Eine Eskalation des Konflikts mit Taiwan wäre unter diesen Umständen, aber auch unter einer durch das Militär geprägten Post-Xi Jinping-Junta vorstellbar. Sollten dagegen einflussreiche Spitzenkader friedlich, respektive nach kurzer Zeit mit Anerkennung des Militärs, eine neue Führung etablieren, wäre dies ein vorstellbares Best-Case-Szenario. Die 2018 von Xi Jinping durchgesetzte Aufhebung der Amtszeitbegrenzung des Staatspräsidenten könnte im besten Fall eine kollektivere, ebenso nach innen wie nach außen weniger aggressiv auftretende Führung nach sich ziehen. Diese würde das Land umsichtig, graduell wirtschaftlich und möglicherweise irgendwann auch politisch liberalisieren.

Dass ein autokratisches System wie China früher oder später zumindest instabil wird, ist auf Basis von Erkenntnissen einer Gruppe schwedischer, US-amerikanischer und deutscher Forscher über historische Transitionen von Regimen wahrscheinlich: Autokratien sind instabiler als Demokratien. Allerdings münden Transformationsprozesse in Autokratien in über sechzig Prozent der untersuchten Fälle aus einem Zeitraum von 1900 bis 2019 nicht in konsolidierte Demokratien.2

 

Kritische Abhängigkeiten reduzieren

Was können wir im Westen angesichts solcher Unsicherheiten mit Blick auf China tun – wenn wir vor dem Szenario eines möglichen, auch plötzlichen, unschönen Scheiterns Xis nicht die Augen verschließen dürfen?

Wir können aus der Historie bekannte Faktoren im Auge behalten, die auf eine sich vertiefende oder bereits ausgebrochene Krise innerhalb der politischen Führung hindeuten: etwa reduzierte Erwähnungen in den Medien, Aktivitäten und Abwesenheiten von Xi Jinping und seinen engsten Vertrauten, plötzliche politische Kehrtwendungen, abrupte personelle Neubesetzungen oder politische Leitlinien und Analysen in parteistaatlichen Medien, die sich sehr deutlich widersprechen, ohne dass diese zensiert werden.3

Wir sollten uns bewusst machen, dass auch wir in Europa Einfluss auf die Stabilität des Herrschaftssystems von Xi Jinping haben. Wirtschaftlich ist Chinas Partei- und Staatschef auf Investitionen inklusive Technologietransfers und Importen zentraler Güter wie Maschinen(teilen), elektrischer Kommunikationsausrüstung oder Datenverarbeitungssystemen angewiesen. Die Märkte und die Nachfrage aus Europa für Exporte kann und will Peking nicht missen. Politisch ringt Xi Jinping darum, die Ernüchterung in Süd- und Osteuropa angesichts ineffizienter Investitionsprojekte und politischer Divergenzen aufzufangen. Auch will er einen Keil zwischen die durch den Ukraine-Krieg stärker geeinten westeuropäischen Großmächte und auch in die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern und Washington treiben. Xi kann und will – anders als Wladimir Putin – keinen offenen Bruch mit den liberalen Demokratien riskieren. Das befreit deutsche Unternehmen und die deutsche Bundesregierung jedoch nicht von der Aufgabe, kritische Abhängigkeiten gegenüber der Volksrepublik zu reduzieren. Es entbindet uns auch nicht von einer detailliert zu durchdenkenden Linkage-Politik und einem klaren, souveränen und europäisch-geschlossenen Auftreten gegenüber Peking.

 

Der Wert der liberalen Demokratie

Wir können vor allem Chinesinnen und Chinesen in den USA, Australien und Europa mehr in den Blick nehmen. Nicht naiv, denn einige von ihnen könnten für den chinesischen Parteistaat spionieren wollen. Aber manche von ihnen sind längst engagierte Bürger in unseren Gesellschaften. Manche sind kenntnisreiche Analysten, da sie das System Xi von innen erlebt haben und vor diesem ins Ausland geflohen sind. Andere sind potenzielle Kontaktpersonen zu liberal denkenden Kadern innerhalb der politischen Führung Chinas. Wieder andere helfen uns vielleicht gerade am meisten durch ihr Verzweifeln an ihrer Heimat; auch mit ihrer nicht selten verqueren Unterstützung für Donald Trump als einen imaginären Wunschpräsidenten, weil dieser aus ihrer Sicht der Einzige ist, der Xi Jinping unter Druck setzen will und kann. Das könnte uns helfen, den Wert unserer eigenen liberalen Demokratie wiederzuerkennen und profunder wertzuschätzen. Es sollte uns mutiger machen, uns mehr für andere Demokratien einzusetzen – zum Beispiel für Taiwan.

Bequemlichkeits- und Wohlstandseinbußen könnte dies alles mit sich bringen. Aber was ist Wohlstand wirklich wert, wenn uns Rechtsstaatlichkeit und politische Freiheit nicht mehr wert sind?

Wie dynamisch, wie effizient, wie begeisternd können wir unsere liberalen Demokratien (wieder) machen, damit sie eine Alternative zum System Xi auch für Menschen in China innerhalb der politischen Führung werden könnten? Solange wir diese Frage(n) gar nicht erst stellen, scheitern wir – egal, ob und wie Xis totalitäres Herrschaftssystem scheitern könnte – an uns selbst. Ob dieses Scheitern Realität wird, das haben wir, jeder ein kleines Stück, selbst in der Hand.

Kristin Shi-Kupfer, geboren 1974 in Essen, Professorin für Sinologie, Universität Trier, Senior Associate Fellow, Mercator Institute for China Studies (MERICS).


1 Vgl. z. B. Bernhard Bartsch (Hrsg.): „Shaky China. Five scenarios for Xi Jinping’s third term“, MERICS Report, Juni 2023, https://merics.org/en/report/shaky-china-five-scenarios-xi-jinpings-third-term; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): China 2030. Szenarien und Strategien für Deutschland, 08.06.2016, www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/china-2030 [letzter Zugriff jeweils: 02.05.2024].
2 Seraphine F. Maerz et al.: „Episodes of regime transformation”, in: Journal of Peace Research, 13.07.2023, https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/00223433231168192 [letzter Zugriff: 02.05.2024].
3 Richard McGregor / Jude Blanchette: After Xi. Future Scenarios for Leadership Succession in Post-Xi Jinping Era. A Joint Report of the CSIS Freeman Chair in China Studies & the Lowy Institute, April 2021, www.csis.org/analysis/after-xi-future-scenarios-leadership-succession-post-xi-jinping-era [letzter Zugriff: 02.05.2024].

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