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Literatur als Wettbewerb und der Wettstreit in der Literatur

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„Vielfalt macht nun mal Arbeit.“ So machte am 9. März 2020 die Süddeutsche Zeitung ihr Frühjahrs-Literatur Spezial auf. Ausgangspunkt war der Vorwurf, die Literatur sei zu wenig divers, nicht inklusiv genug, sie lasse es an Gleichberechtigung fehlen, etwa in der Genderfrage. Noch 2018 waren den Statistiken der Initiative „Frauen zählen“ und des Innsbrucker Zeitungsarchivs zufolge zwei Drittel aller besprochenen Bücher von männlichen Autoren, drei Viertel der Rezensenten waren Männer. Literatur für alle, für bestimmte Gruppen, für viele oder für wenige, Literatur als Wettbewerb und der Wettstreit in der Literatur: Das berührt Fragen, die in der ersten Genieperiode der deutschen Literatur um 1770 mobilisiert, dann in der Nachkriegszeit gründlich revidiert wurden und heute unter den Vorzeichen der Digitalisierung problematisiert werden. Für wen schreibt der Autor, wie können sich seine Werke im Aufmerksamkeitswettbewerb der Kultur durchsetzen? Wie viel Wettstreit verträgt der Literaturbetrieb überhaupt, und was passiert, wenn in Ausnahmezeiten die Rollen von den Bühnen der Präsenzkultur in die sozialen Medien und Streamingdienste übertragen werden?

Was die Schriftsteller selbst vom Wettkampf halten, haben sie, wie kann es anders sein, in ihren Werken festgehalten. Goethes Faust-Drama, das mit dem wohl weltberühmtesten Wettkampf der Literatur startet, beleuchtet einen historischen Wendepunkt des Wettstreitdenkens. Mephisto als verharmloster Theaterteufel wettet mit einem ziemlich weltfremden Gott um die Seele eines Menschen, des Doktor Faust. Es ist von Anfang an klar, wer die Wette verliert; gewonnen werden kann der Teufel nur mehr für die Kunst, in der fortan die Debatten um Gut und Böse, Schönes und Nicht-mehr-Schönes, Edles und Gemeines ausgefochten werden.

 

Wettkämpfe in der Literatur

 

Die beliebteste Form des Wettkampfes in der Literatur ist – neben dem Pakt, der Freunde entzweien und ungleiche Paare vereinen kann, wie in Thomas Hürlimanns politischen Novellen – das Duell. Heinrich von Kleist ist nicht nur ein Experte für Wettkämpfe, er hat auch die Duellerzählung maßgeblich modernisiert. Seine Novelle Der Zweikampf, 1811 erschienen, veranschaulicht den Weg vom Gottesurteil zum menschlich-allzumenschlichen Zweikampf in einer spätmittelalterlichen Rittergeschichte. Dass die Wahrheit im Ritual eines Gottesurteils gefunden werden kann, wird stark bezweifelt. Es kommt auf die menschliche Vernunft an. Nicht wie die Antagonisten sein sollen, darum geht es, sondern vielmehr darum, wie sie sind und warum sie so handeln, wie sie handeln.

Kleists „Melancholie des Moralisten“ (Günter Blamberger) erweist sich auch in dem 1808 gedruckten Drama Penthesilea, dessen Wortgewalt Michael Thalheimer für das Berliner Ensemble 2017 inszeniert hat. Die Zweikämpfe wandern in die Sprache, in Botenberichte und Mauerschau, man kann sie nicht sehen, aber umso deutlicher hören. Das feindliche und zugleich verliebte Paar ist auf einer schrägen Bühne als Pietà zu sehen, traurig hält die Amazonenkönigin Penthesilea den toten Griechenhelden Achill im Arm. Aber auch Penthesilea lässt Kleist am Ende sterben, durch Freitod. Diesen letzten Ausweg hält das Duell bei Thomas Mann bereit, in seinem Roman Der Zauberberg (1924). Im Schnee von Davos duellieren sich der jüdische Moralist Lodovico Settembrini und der jesuitische Fundamentalist Leo Naphta. Settembrini sagt: „Ich werde nicht töten“, und schießt in die Luft; Naphta schießt sich danach aus Wut in den Kopf.

Demgegenüber sind die Wettkämpfe in der Gegenwartsliteratur zaghafter geworden. Manchmal rivalisieren die Figuren um Geld, das, wenn es sprechen kann wie in Ernst-Wilhelm Händlers Wirtschaftsromanen, die Menschen in Besitzstand und Prekariat zu teilen vermag; manchmal laufen die Figuren gegen die Zeit um die Wette, wie in Hürlimanns Romanen; manchmal kämpfen sie um Macht und symbolisches Kapital wie in den Milieuromanen von Petra Morsbach. Aber sie ringen nicht mehr um Leben und Tod im persönlichen Duell. Und wenn es dann doch einmal dazu kommt, dass ebenbürtige Widersacher aufeinandertreffen, wie in Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt (2005), dann werden sie unweigerlich zu ziemlich besten Freunden wie Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt; Gauß verwechselt bei der ersten Begegnung dessen Bruder mit ihm und weiß sich bei der zweiten darin mit ihm einig, dass Künstler viel „zu leicht ihre Aufgabe“ vergäßen: nämlich „das Vorzeigen dessen, was sei“.

 

Literatur als Wettkampf

 

Mag der Wettkampf also weitgehend aus der Literatur verschwunden sein, so bleibt er doch ein Element, das den Literaturbetrieb konstituiert. Auch das hat eine Geschichte. Schon Schiller und Goethe arbeiteten an einem Programm der nationalen Kultur, unterschiedlich in ihren Ansätzen: Schiller von oben durch ästhetische Erziehung, Goethe von unten durch gesellige Bildung, jedoch verbunden im Ziel, den literarischen Geschmack zu verbessern und das geistige Niveau der Zeitgenossen zu heben. Das breite Publikum, das sie dergestalt in ihrer Zeitschrift Die Horen anzusprechen suchten, war allerdings noch nicht ganz so weit. Einerseits hatte sich zwar im Zeitraum zwischen 1750 und 1800 die Anzahl lesender Menschen verdoppelt; um 1800 konnte jeder Vierte lesen. Andererseits waren die beliebten Lektüren nicht gerade die Werke der Klassiker, sondern Scharteken, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Walter Benjamin hat in seinem Hörspiel Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben (1932) diesen Zwiespalt zwischen hoher und trivialer Literatur, bevor ihn die Postmoderne einebnete, aufs Korn genommen. Er zielt auf die Frage, wie es denn kommt, dass ein künstlerisches Werk in der Moderne populär wird. Popularität hatte, so Benjamin, in der Aufklärung noch einen volksbildnerischen Zweck; viel gelesen wurde, was vielen zur Weiterbildung diente. In der technischen Moderne aber würden die Medien diese Aufgabe übernehmen und die Öffentlichkeit zum Wissen mobilisieren – und nicht das Wissen in die Öffentlichkeit bringen. Je mehr die Medien das Interesse der Öffentlichkeit entfachen, desto mehr wird der Gegenstand diesem Interesse, dem er dient, angepasst und manchmal auch übergeordnet. Wie man es bewertet, wenn auf diese Weise im Wettbewerb um die wirkungsvollste Kunst mediale Partizipation und politische Repräsentation zusammenfallen, ist eine offene Frage auf der kulturpolitischen Agenda.

Der Wettkampfcharakter des heutigen Literaturbetriebs wird deutlich in Bücherpreisen, Bestseller- und Bestenlisten (was bekanntlich nicht dasselbe ist), in Poetry-Slams, open mikes (Nachwuchswettbewerbe für junge Literatur) oder Literaturwettbewerben wie dem in Klagenfurt. Dieser Betrieb hat im deutschsprachigen Kulturraum ein Alleinstellungsmerkmal: Nirgends werden so viele Literaturpreise vergeben wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz, nirgends gibt es eine so breit und so stark ausgebaute Kulturförderung wie in Deutschland. Kulturpreise haben ein hohes symbolisches und wirtschaftliches Kapital. Geber und Empfänger ehren sich gegenseitig durch den rituellen Gabentausch von Lob und Dank, Preis-Urkunde und Dotations-Scheck nicht zu vergessen; hinzu kommt die publizistische Wirkung. Wie gut oder wie weniger gut der Wettbewerb um die Preise ist, der einem Karussell ähnelt, auf dem es für neue Autoren schwer ist, mitzufahren, darüber lässt sich trefflich streiten. Die einen wenden ein, dass man durch zu viele Auszeichnungen das Mittelmaß fördere und dass der „Vorlesezirkus“ (Daniel Kehlmann) einen produktiven Schriftsteller in fünfzig Schreibjahren etwa drei Romane kosten würde. Die anderen betonen, dass es gar nicht genug Förderung geben könne, damit ein diverses und plurales Kulturleben in einem Staat, der ihm nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Rahmen gibt, überhaupt funktioniert.

 

Erfindung des Literaturbetriebs

 

Es war die „Gruppe 47“, die den Wettkampf in die Literaturszene einführte. Dies geschah in Form der Direktkritik von Lesungen und in Nominierungen für den Preis der Gruppe. Die „Gruppe 47“ war historisch konkurrenzlos und ist bis heute ohne Nachfolger. Sie war Bühne, Marktplatz und Richtstätte der Nachkriegsliteratur. Hans Magnus Enzensberger hat sie 1962 als eine hauptstadtlose Clique „zur Verhinderung literarischen Unfugs“ bezeichnet. Er war der Avantgardist der Gruppe, allen Debatten stets um eine Nasenlänge voraus. Früh hatte er begriffen, dass man die Wettkämpfe nicht zu gewinnen braucht, wenn man sie rechtzeitig anzettelt, sich dann zurückzieht und die Medien, in denen sie ausgetragen werden, scharf beobachtet. So pflückte Enzensberger 1956 die „skeptische Allwissenheit“ des Spiegel auseinander – mit der Folge, dass er wenig später zum Hausautor des Magazins ernannt wurde. Als er 1968 den „Tod der Literatur“ verkündete, hielt ihn das nicht davon ab, selbst neue Gedichte zu schreiben. Und seine Schelte der Adenauer-Restauration widerrief er 1988 ausdrücklich mit einem Lob der „buntscheckigen“ Gesellschaft, die aus den Gründerjahrzehnten der Bundesrepublik hervorgegangen sei.

Die Kritiker der „Gruppe 47“ waren Weichensteller im Kulturbetrieb, Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Mayer und – später – Marcel Reich-Ranicki. Sie nahmen einen Einfluss auf die Literatur, der manchem, auch Politikern, zu machthaberisch erschien, groß genug jedenfalls, um den literarischen Mainstream zu lenken und vermeintliche Nebenströmungen auszugrenzen, beispielsweise die experimentelle Literatur und die Dichter jüdischer Herkunft. Ein immer wieder zitiertes Exempel dafür ist Paul Celan. Der 1920 in Czernowitz (Bukowina) geborene Dichter las 1952, als die Gruppe in Niendorf an der Ostsee tagte, die Todesfuge. Dieses Gedicht sollte sein berühmtestes und bekanntestes werden, kein deutsches Gedicht war folgenreicher im 20. Jahrhundert – der Celan-Biograph John Felstiner nennt es das „Guernica der europäischen Nachkriegsliteratur“. Die Todesfuge hat den Schulkanon bestimmt, sie ist kontrovers interpretiert, von anderen Dichtern aufgenommen, von bildenden Künstlern gestaltet, vielfach vertont und übersetzt worden und hat es sogar in den Deutschen Bundestag geschafft, 1988, als es die Holocaustüberlebende Ida Ehre zum Gedenken der Pogromnacht von 1938 vortrug.

Doch als Celan in Niendorf sein Gedicht vorlas, wurde dieser Ruf aus „jüdischer Einsamkeit“, wie Thomas Sparr in seiner Biographie des Gedichts (2020) schreibt, krass missverstanden. Der Leiter der Gruppe, Hans Werner Richter, rügte, Celan habe ja gelesen „wie Goebbels“, und sprach im gleichen Atemzug vom „Singsang […] wie in der Synagoge“. So geriet das Gedicht selbst, das ja die Muttersprache mit der Sprache der Mörder konfrontierte, die Täter mit ihren Opfern, die Lebenden mit den Toten, ins Kreuzfeuer. Die Debatte, wenn es denn eine solche gab bei der Tagung, von der Celan vorzeitig abreiste, war ein Ersatzgefecht, Nachkriegsschauplatz für eine schweigende Generation. Ein Wettstreit fand nicht statt. Wohl aber konnte Celan dank der „Gruppe 47“ Kontakte knüpfen, die ihm den Weg zu deutschen Verlagen, zuvörderst der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, bahnten. Ein Opfer des Literaturbetriebs wurde er durch die „Gruppe 47“ nicht.

 

Celans „Flaschenpost“

 

Celan ist heute, in seinem doppelten Gedenkjahr (er lebte von 1920 bis 1970), bekannter denn je. Merkwürdigerweise steht dem nicht entgegen, dass seine Literatur oft als schwer verständlich gilt. Celan hat selbst zugestanden, dass seine Gedichte „dunkel zur Welt“ kommen. Sie behelligen unsere Zeit auf eine eigenartige Weise, und ihre Botschaft, die Celan als „Flaschenpost“ verstanden wissen wollte, geht uns alle an, ob wir sie lesen wollen oder nicht.

„Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße. / […] / Es ist Zeit […], / daß der Unrast ein Herz schlägt“, heißt es in einem frühen Gedicht. Es stammt aus dem Frühjahr 1948, als Celan auf dem Weg von Bukarest nach Paris in Wien strandete, zu Fuß, auf Schleichpfaden, als Flüchtling. Dort verliebte er sich in die sechs Jahre jüngere Ingeborg Bachmann, die in Wien Philosophie studierte.

Der Unrast schlug ein Herz in den Wiener Wochen für das junge Liebespaar. Die Stadt war noch zerstört und in vier Sektoren geteilt, indes der Volksprater gerade wiedereröffnet war. Beide hatten gerade, vom Surrealismus beeinflusst, literarisch debütiert, in Zeitschriften: Celan mit der Todesfuge, Bachmann mit der Erzählung Die Fähre.

 

„Akut“ des Gegenwärtigen

 

Celans Verse von der „Unrast“, der ein „Herz schlagen“ soll, geben Lichtblicke in eine Notstandsgesellschaft, die für ein Miteinander im Ausnahmezustand unbedingt auch der Perspektive des jeweils anderen bedarf. Das bedeutet, wenn man es weiterdenkt, Solidarität in Freiheit zu praktizieren, sofern diese eingeschränkt ist, und auf Vernunft mit Herz zu setzen, auf „geteiltes Wissen und Mitwirkung“, wie es die deutsche Bundeskanzlerin am 18. März 2020 gesagt hat. „Es ist Zeit“, so endet dieses Gedicht „Corona“ von Celan, das in seinem Band Mohn und Gedächtnis (1952) unmittelbar vor der Todesfuge steht. Es ist ein Solidaritätsgedicht für unsere Zeit, ein Gedicht, das einen Akut setzt: ein Lesezeichen fortdauernder Gegenwärtigkeit, ein Gedicht, dem es nicht darauf ankommt, zu siegen, sondern zu überdauern.

Der Appell zum Überdauern gehört zum Erbe des Wettstreitdenkens. Wenn es weder möglich noch nötig ist, etwas wettzumachen, weil der Einsatz zu hoch oder das Pfand unsichtbar ist, dann ist die Literatur da, um davon zu erzählen, wie man in leichteren Zeiten lebt und in schweren weiterlebt, nicht als Placebo mit schönen Worten, sondern als Erinnerung daran, dass Freiheit und Menschenwürde im Gesetz als unantastbar gelten, weil sie tatsächlich immer wieder bedroht sind. Im Jahr bevor Celans Gedicht Corona erschien, publizierte Albert Camus den Roman Die Pest (1947). Er hat an Aktualität in den letzten Monaten gewonnen. Ausklingen lässt ihn Camus, der 1957 für sein publizistisches Gesamtwerk mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, mit vorsichtiger Hoffnung. Sein Erzähler, ein Arzt, der Schicksalsgläubigkeit durch „Sehnsucht nach Wiedervereinigung“ und „Frieden“ ersetzt, will uns schildern, „was man aus den Heimsuchungen lernen kann“. Und das ist nicht, wie man gewinnt und was man verlieren kann, sondern „daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gilt“.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

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