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Deutschlands Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen

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Es ist ein Erlebnis, das sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Bei einem Besuch in einer Zeltstadt in der libanesischen Bekaa-Ebene bittet mich eine Mutter von neun Kindern in ihre Behausung. Sie lebt unter einer Plastikplane, ein paar Habseligkeiten sollen das Gefühl von Zuhause geben. Doch das Wort mag und kann hier keiner in den Mund nehmen. Die Familie hat ihr Zuhause im syrischen Homs verloren. Ausgebombt, in allergrößter Not in den Libanon geflohen. Tagsüber sammeln die Kinder Plastikflaschen, denn sie müssen für den Platz, auf dem ihr Zelt steht, monatlich 100 Dollar zahlen. „Wenn nur eines meiner älteren Kinder die Flucht nach Europa schafft, geht es uns allen vielleicht besser“, erzählt die Frau.

Es ist eine der Geschichten, die sich derzeit täglich tausendfach wiederholen. Fast zwölf Millionen Syrer sind vor dem Krieg in ihrem Land auf der Flucht. Mehr als vier Millionen haben Schutz in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, in der Türkei und im Irak gesucht. Mit insgesamt über einer Milliarde Euro hat die deutsche Bundesregierung die Region seit Ausbruch der Krise unterstützt. Allein das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat im Umfeld der Syrien-Krise 180 Projekte umgesetzt und wird sein Engagement im kommenden Jahr noch einmal nahezu verdoppeln.

Seit meinem Besuch in den kurdischen Gebieten im Nordirak vor einem knappen Jahr ist auch dort viel geschehen. Mit deutscher Unterstützung sind die Flüchtlinge , die bereits den zweiten Winter überleben müssen, immerhin besser gerüstet als im vergangenen Jahr. In der Provinz Dohuk entstehen für 6.000 Menschen winterfeste Unterkünfte, neun Schulen wurden eröffnet, sieben Gesundheits- und sechs Sozialzentren, in denen psychologische Hilfe und auch berufliche Bildung angeboten werden. Aktuell wer den drei weitere Schulen und ein Krankenhaus gebaut. Insgesamt erreichen wir damit 50.000 Kinder und Jugendliche in den Flüchtlingscamps und auch viele Kinder in den aufnehmenden Gemeinden.

Von Jordanien über den Libanon bis in die Türkei ist die Welle der Hilfsbereitschaft berührend. Manche Gemeinde hat inzwischen genauso viele Flüchtlinge aufgenommen, wie das Dorf bislang Einwohner zählte. So mancher Bauer hat seinen Ziegenstall ausgeräumt und einer Flüchtlingsfamilie dort Herberge gegeben – das sind Eindrücke für mich, die ich nicht mehr vergesse. Ich gewann sie, als ich in einer jordanischen Gemeinde Wasserleitungen und Abwassersysteme anschaute, die mit deutscher Unterstützung verlegt worden waren. Beeindruckend ist auch zu sehen, wie mit deutschen Mitteln im Libanon 100.000 Flüchtlingskinder in die Schule gehen können oder was türkische Gemeinden an der syrischen Grenze jetzt auch mit deutscher Hilfe leisten, um das Zusammenleben in ihren Dörfern zu organisieren.

 

Die Ursachen sind humanitäre Katastrophen

Warum erzähle ich von diesen Begegnungen und dem, was Deutschland mit seinen hervorragenden Partnern und den Nichtregierungsorganisationen vor Ort Tag für Tag eindrucksvoll umsetzt – mit engagierten Menschen, Experten, vielen Ehrenamtlichen?

Diese Arbeit beschreibt den Weg, den wir in Europa mit unseren Partnern in den kommenden Monaten und Jahren beschreiten müssen. Die humanitäre Katastrophe in Syrien, die schwierige Situation in Afghanistan, die Perspektivlosigkeit für viele junge Menschen in Somalia, im Sudan, im Südsudan, in Eritrea oder im Norden Nigerias – das sind die Ursachen für die Massenflucht.

Wir brauchen deshalb eine gemeinsame Kraftanstrengung in Europa.

„Mein“ Europa, das ich mir vorstelle, setzt zunächst ein starkes Zeichen mit einem zehn Milliarden Euro umfassenden Notprogramm für die Nachbarstaaten Syriens, die die Hauptlast der syrischen Kriegsflüchtlinge tragen. Unterstützung brauchen auch Griechenland, Italien, Malta und alle, an deren Küsten im Sommer täglich Tausende an Land gegangen sind. Auch entlang der Fluchtrouten über den Balkan ist unsere Humanität gefragt.

Damit ist den Menschen, die noch unschlüssig sind, ob sie eine Flucht nach Europa über das Mittelmeer riskieren sollen, aber noch längst nicht geholfen. Wir brauchen dringend eine diplomatische Offensive der Vereinten Nationen, um das Leiden in Syrien zu beenden. Die Iran-Gespräche haben gezeigt, dass politischer Wille Krisen bewältigen kann. Nach diesem Vorbild muss auch eine Lösung im Syrienkonflikt gefunden werden. Auch die Entwicklungen in Afghanistan zeigen: Entwicklung braucht Sicherheit. Nicht alles in Afghanistan ist schlecht, und das gilt es zu schützen. Vieles hat sich seit dem Sturz der Taliban verbessert. Neun Millionen Kinder können heute zur Schule gehen, vierzig Prozent davon Mädchen. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich versechsfacht. Das Rad der Geschichte darf nicht zurückgedreht werden. Deshalb müssen die internationalen Truppen länger bleiben. Sonst riskieren wir einen Massen-Exodus aus Afghanistan. Kein Mensch macht sich freiwillig auf die Flucht, verlässt Heimat, Freunde und Familie. Es ist der Wunsch nach Frieden und einem besseren Leben. Und genau darin liegt unsere europäische Herausforderung. Wann, wenn nicht jetzt, kann Europa seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen? Wir brauchen einen Masterplan zur Bekämpfung der Fluchtursachen. An erster Stelle stehen hier die Bildung und Ausbildung der jungen Menschen. Es darf nicht sein, dass wir an den Syrien-Krieg eine Generation verloren geben. Kinder und Jugendliche brauchen Bildung, Ausbildung und Fähigkeiten, nach einem Ende des Krieges in Syrien ihr Land wieder aufzubauen.

Auch in Afrika liegt der Schlüssel zur Bekämpfung der Fluchtursachen in der Bildung und Ausbildung der jungen Menschen. Die Jugend ist Afrikas Zukunft. Zusammen mit meinen Kolleginnen in Frankreich und den Niederlanden habe ich Außenkommissarin Federica Mogherini ein Jugendprogramm für Afrika vorgeschlagen, in dem wir all unsere Erfahrungen und Projekte für die Ausbildung von afrikanischen Jugendlichen bündeln. In Ghana ist Deutschland sehr erfolgreich mit einem Ausbildungszentrum für Schweißer und für Gesundheitsberufe. Sechzehn Millionen Euro investieren wir hier, bestens angelegtes Geld für die Zukunft junger Menschen, die sich in Ghana eine Existenz aufbauen wollen.

 

Regierungen der Krisenregionen in die Pflicht nehmen

Was wir im Entwicklungsministerium in einer Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge reintegrieren“ gebündelt haben, kann auch für die Europäische Kommission eine Blaupause sein. Für eine Welt ohne Hunger bringen wir außerdem zwölf „grüne Zentren“ in Afrika auf den Weg, im Klimabereich fördern wir erneuerbare Energien und setzen auf grünes Wachstum auch in Afrika. Nach Ebola haben wir unsere Zusammenarbeit im Gesundheitssektor nochmals verstärkt, dank der auch von Deutschland kraftvoll unterstützten Impfallianz GAVI konnte Polio nahezu ganz und konnten viele andere tödliche Kinderkrankheiten vollständig zurückgedrängt werden. Starke Partner haben wir auch, wenn es um die Zukunft der Digitalisierung in Afrika geht, ein Zukunftsmarkt, der nicht zuletzt viele Arbeitsplätze für junge Menschen bringt.

Jetzt geht es beim gemeinsamen Gipfel der Europäischen Union mit der Afrikanischen Union im November auf Malta darum, auch die afrikanischen Regierungschefs in die Pflicht zu nehmen. Auch sie müssen den Beweis erbringen, dass sie den Exodus nicht hinnehmen. Viele der 54 afrikanischen Staaten sind wirtschaftlich auf einem guten Weg. Afrika ist ein reicher Kontinent und besitzt Bodenschätze. Hier bleiben zu viele Regierungen den Beweis schuldig, dass deren Ausbeutung nicht nur einigen wenigen zugutekommt. Gute Regierungsführung und staatliche Ordnung sind nachweisbar die Grundlagen auch für wirtschaftlichen Erfolg. Hier beraten wir viele Regierungen in Afrika und unterstützen beim Aufbau von Verwaltung und Steuersystemen, denn auch das ist ein wichtiger Schlüssel für Entwicklungsfinanzierung.

Überprüfen wir also unsere Entwicklungsprojekte auf Zielgenauigkeit und Wirksamkeit, steuern wir um, wo es nötig ist, und begeistern wir alle Politikfelder für ein Mehr an Entwicklungspolitik. Denn Entwicklungspolitik ist der beste Weg zur Bekämpfung von Fluchtursachen.

 

Auf Kosten anderer

Die Bundesregierung beschreitet diesen Weg mit dem größten Entwicklungsetat aller Zeiten. Doch wir alle wissen, dass Geld allein nicht alles ist. Es kommt darauf an, wie wir es einsetzen, und vor allem kommt es darauf an, dass wir unseren Lebensstil grundsätzlich überdenken.

Denn Fluchtursachen sind neben Krieg und Krisen auch die ungleichen Lebensverhältnisse. Es ist ein Skandal, dass es auf unserem Planeten immer noch extreme Armut und Hunger gibt. Zwanzig Prozent der Menschheit verbrauchen achtzig Prozent der Ressourcen auf unserem Planeten. Auch der Klimawandel gehört inzwischen zu den Hauptfluchtursachen. Klimaexperten warnen vor 200 Millionen Klimaflüchtlingen, wenn es uns nicht gelingt, die Erderwärmung zu stoppen. Angesichts von derzeit sechzig Millionen Flüchtlingen weltweit wagt kaum jemand, dieses Szenario offen aus zusprechen.

Was ist also zu tun? Die Weltgemeinschaft hat sich im September in New York neue Nachhaltigkeitsziele gesetzt. Was vielen zu komplex und kompliziert erscheinen mag, ist im Kern die Antwort für ein friedliches Mit einander unserer Völkergemeinschaft ohne Krieg, Hunger, Flucht und Elend. Nie waren wir auf unserem Planeten so eng miteinander verbunden und voneinander abhängig wie heute. Mussten Kinder den Kaffee pflücken, den ich heute früh zum Frühstück getrunken habe? Wie ist mein Handy hergestellt, wie wurden die dafür nötigen Mineralien in der Mine im Kongo abgebaut? Ist mir bewusst, dass ich auch mit meiner Kleidung Verantwortung trage für die Näherin und ihre Familie in Bangladesch? Wie kommen wir zu einem fairen Handel, in dem unser Wohlstand nicht auf dem Rücken der Entwicklungsländer ausgetragen wird?

Das ist eine der größten Herausforderungen für internationale Politik im 21. Jahrhundert. Wir zeigen auch hier mit dem ersten Textilbündnis seiner Art Lösungswege auf. Dieses gilt es jetzt mit unseren Partnern gemeinsam vor Ort umzusetzen. Denn richtig ist auch: Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Es gibt nämlich nicht mehr eine erste, zweite oder dritte Welt, es gibt nur noch eine Welt, und für die tragen wir alle gemeinsam Verantwortung.

 

Gerd Müller, geboren 1955 in Krumbach (Schwaben), seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

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