„Ich kann nicht weinen, denn das würde die Kinder noch mehr beunruhigen, und ich würde nicht mehr aufhören können“, antwortet Natalia auf meine Frage, wie sie es schafft, trotz ihrer Kriegserfahrungen so zuversichtlich zu bleiben. Ich habe Natalia bei meinem Besuch in der Ukraine im November 2022 kennengelernt. Gemeinsam mit ihren vier Kindern musste sie innerhalb weniger Minuten ihre Heimat in Donezk verlassen, als die Front immer näher rückte. In einer Notunterkunft in Kropywnyzkyj versucht die Familie, nach vorn zu schauen. „Die vergangenen Monate waren unglaublich schwierig. Die Kinder vermissen ihren Vater, ihre Freunde, ihre Schule. Aber wir müssen jetzt durchhalten – es gibt keine Alternative.“
Während meines Besuchs waren die Folgen des Krieges für die Kinder überall greifbar. Kein Kind in der Ukraine kann dem Krieg entkommen. Seit Februar 2022 erleben sie einen nicht enden wollenden Albtraum. Anstatt auf dem Spielplatz herumzutollen, sorgen sie sich, dass Raketen ihr Zuhause treffen. Sie bangen um ihr Leben – und um das ihrer Väter, Mütter und Freunde. Sie sehen Bomben einschlagen, können nicht zur Schule gehen, viele müssen fliehen – aus ihrem Zuhause, aus dem Ort, an dem sie sich geborgen fühlten, an dem sie mit anderen Kindern in die Schule und zum Sportplatz gingen. Wegen der anhaltenden Angriffe auf die Energieversorgung harren viele bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt ohne Strom und Heizung in dunklen Schutzkellern aus. Viel wichtiger als die Namen von Fußballern oder Popstars sind die unterschiedlichen Typen der Minen, die in ihren umkämpften Städten ihr Leben auch dann noch bedrohen, wenn die Front sich längst verschoben hat.
Laut Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen haben bereits mehr als 420 Kinder durch die Gewalt des Krieges ihr Leben verloren. Dies sind lediglich die verifizierten Todesfälle; die tatsächliche Zahl liegt gewiss höher. Hunderte weitere Kinder wurden verletzt. Zudem mehren sich die Berichte darüber, dass Kinder über die Grenze nach Russland verschleppt werden. Unter den rund 6,5 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine in andere Regionen geflohen sind, sind 1,2 Millionen Kinder. Viele weitere haben sich außer Landes gerettet. Auch in Deutschland wurden seit Februar 2022 mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine registriert, darunter ungefähr 34 Prozent Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren.
Die Gewalt, die Angst und die Ungewissheit, wann dieser Albtraum endlich vorüber ist, hinterlassen schwere Wunden in den Seelen der Kinder. In Dachne, einem kleinen Dorf nahe Odessa, begegnen wir einer jungen Mutter und ihrer zweijährigen Tochter Nicole. Im vergangenen Sommer geriet der friedliche Ort unter direkten Beschuss. Mehr als 300 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Auch die Schule und ein Kindergarten, den wir besuchen, wurden schwer getroffen. Die Angst hat die kleine Nicole bis heute nicht überwunden. Immer wieder holen die schrecklichen Erinnerungen sie ein, sobald es dunkel wird.
In einer Siedlung nahe dem erst seit einigen Wochen wieder zugänglichen Ort Balakliya versuchen Dalymyr und seine Geschwister, die langen Monate unter Besatzung zu verarbeiten. Monatelang verbrachte die Familie im Schutzkeller ihres Zuhauses, zu gefährlich war die Flucht. Immer wieder lasen er und seine Geschwister dieselben Bücher, um sich abzulenken, erzählt er uns. Vorerst in Sicherheit, versuchen die Kinder jetzt, das Erlebte zu verarbeiten.
UNICEF schätzt mit aller Vorsicht, dass etwa 1,5 Millionen Mädchen und Jungen in der Ukraine ein hohes Risiko haben, an Depressionen, Angstzuständen oder posttraumatischen Belastungsstörungen zu erkranken. Umso wichtiger ist es, die Kinder mit psychosozialen Angeboten zu unterstützen. Denn wir wissen: Kinder sind meist erstaunlich widerstandsfähig. Trotz schlimmer Erfahrungen können die meisten Halt finden, wenn sie einfache Unterstützung bekommen und sichere Zufluchtsorte haben, an denen sie spielen und lernen können.
Deshalb hat UNICEF gemeinsam mit vielen Partnern und ehrenamtlich Engagierten im ganzen Land inzwischen über 100 sogenannte Spilno-Kinderzentren – Spilno (ukrainisch: „спільно“) bedeutet „zusammen“ – eingerichtet. An diesen Rückzugsorten erfahren Kinder und ihre Begleitpersonen psychosoziale Unterstützung und erhalten Zugang zu Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten. Kinder finden dort eine Umgebung, in der sie einfach nur Kind sein können. In einem dieser Kinderzentren, das wir während unseres Besuchs in einer U-Bahn-Station von Charkiw besuchen, wird die Diskrepanz zwischen dem Krieg über der Erde und dem Moment geschützter Kindheit in der U-Bahn-Station besonders greifbar: Während Raketen in der Stadt einschlagen, ist das Kinderzentrum ein sicherer Ort kindlicher Unbeschwertheit.
Durch die fortdauernden und unberechenbaren Angriffe wird auch der Unterricht für Kinder stark beeinträchtigt. Nur drei von fünf der ukrainischen Schulen konnten zu Beginn des neuen Schuljahres im September von der Regierung als sicher genug eingestuft werden, um wieder zu öffnen. Nur wenn die Schulgebäude über Schutzräume verfügen, kann die Sicherheit gewährleistet werden.
Die Ukraine versucht unter gewaltigen Schwierigkeiten, ihr Schulsystem aufrechtzuerhalten. In einer Schule in der Umgebung von Kropywnyzkyj stemmen sich die jungen Menschen, denen ich begegne, mit aller Kraft gegen die Widrigkeiten des Krieges, suchen Halt in Gesprächen mit Gleichaltrigen und ihren Lehrerinnen und Lehrern. Der Unterricht, Sport und bei vielen auch ihr ehrenamtliches Engagement helfen ihnen, nach vorn zu schauen. Denn Schulen sind mehr als nur ein Ort zum Lernen. Unterricht ermöglicht den Mädchen und Jungen einen geregelten Alltag, gibt Struktur und eine gewisse Normalität. Doch aufgrund der Angriffe und der Stromausfälle fällt nicht mehr allein der Präsenzunterricht oft aus, sondern auch der digitale Unterricht, der vor allem Kindern in besonders vom Krieg betroffenen Regionen ein Fünkchen Hoffnung gibt. Was diese Bildungsbrüche für die jungen Menschen bedeuten, lässt sich kaum ermessen.
Die Kinder in der Ukraine sehnen sich nach nichts mehr als nach Frieden. In der Zwischenzeit kann humanitäre Hilfe den Krieg zwar nicht stoppen. Sie ist jedoch dringend notwendig, um die Grundversorgung der Mädchen und Jungen auch in den kommenden Monaten zu gewährleisten.
Seit Beginn des Krieges hat UNICEF seine Hilfe für die Kinder in der Ukraine verstärkt und inzwischen mehr als 12.000 Tonnen Hilfsgüter geliefert. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen arbeitet dabei mit den Behörden und einem großen Netzwerk an Partnern in Städten und Gemeinden zusammen. Dazu zählen etwa nationale Partnerorganisationen, Krankenhäuser, Schulen sowie viele Organisationen der Zivilgesellschaft. Wo immer möglich, liefern die Hilfskräfte lebenswichtige Güter in umkämpfte und schwer zugängliche Gebiete, teilweise auch im Rahmen von Konvois der Vereinten Nationen, wie beispielsweise nach Cherson, als die Stadt endlich wieder erreichbar war.
In diesen Wintermonaten kommt es entscheidend darauf an, die Hilfe auszuweiten, Kinder mit wärmender Kleidung, Decken, Spiel- und Lernmaterialien sowie Medikamenten zu versorgen. Es müssen dringend mehr Generatoren geliefert werden, damit Einrichtungen für Kinder weiter funktionieren können. Auch Bargeldhilfen sind erforderlich – schon über 200.000 Familien in Not können sich mit diesen finanziellen Mitteln gezielt mit den wichtigsten Dingen ihres Bedarfs versorgen.
Darüber hinaus muss alles getan werden, um die Grundversorgung der Kinder auch langfristig sicherzustellen. Das Gesundheits- und Lehrpersonal, die Behörden, Organisationen wie UNICEF mit ihren ukrainischen Partnerorganisationen und zahlreiche Ehrenamtliche stemmen sich mit aller Kraft gegen die Gräuel des Krieges und tun alles in ihrer Macht Stehende, um dafür zu sorgen, dass Kinder eine Perspektive haben. Dass Kinderkrankenhäuser weiter oder wieder arbeiten können. Dass der Schulunterricht langfristig fortgesetzt wird. Dass Kinder psychosoziale Unterstützung erhalten.
Auch Kinder, die in Deutschland Schutz vor der Gewalt suchen, brauchen weiter Unterstützung, damit sie rasch positive Erfahrungen machen. Dafür benötigen sie Sicherheit, Stabilität und ein stimulierendes Umfeld. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, die Solidarität und Hilfsbereitschaft der vergangenen Monate sind beispielhaft. Und sie machen den Familien in der Ukraine Mut – das durfte ich bei unserem Besuch immer wieder erfahren.
Fest steht: Die ukrainischen Kinder und Jugendlichen leiden schwer unter diesem entsetzlichen Krieg. Doch sie geben nicht auf. Sie haben gelernt, sich so gut es geht vor Angriffen oder Minen und Blindgängern zu schützen. Sie versuchen, weiter am Unterricht teilzunehmen, sind voller Tatendrang und Energie, stützen sich gegenseitig.
Umso wichtiger ist, dass die Hilfe für eine ganze Generation ukrainischer Kinder weitergeht. Dies ist eine Aufgabe, die uns alle angeht. Damit Mütter wie Natalia ihre Kraft bewahren. Und damit Kinder wie Dalymyr und Nicole die Chance auf eine Kindheit nicht verlieren.
Christian Schneider, Geboren 1965 in Coesfeld, Journalist, seit 2010 Geschäftsführer des Deutschen Komitees für UNICEF („United Nations Children’s Fund“).