Während der Finanzkrise 2008 musste man nicht lange nach dem Übeltäter suchen. Ausgehend von Amerika, hatten große Banken untereinander wissentlich faule Kredite in strukturierten Finanzprodukten gehandelt. Als die Zinsen in den Vereinigten Staaten anzogen und die Immobilienblase platzte, zog die Finanzindustrie die Märkte weltweit in ihren Sog und stürzte die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession. Die Branche wurde mit Steuergeldern in Milliardenhöhe gerettet. Verantworten musste sich für diese Krise letztlich im Bankwesen jedoch so gut wie niemand.
Mehr als elf Jahre später schlitterte die Weltwirtschaft wieder in eine Rezession. Die Vorzeichen für die Finanzindustrie haben sich allerdings geändert: In der Coronakrise haben sich die Banken als wichtiges Bindeglied zwischen staatlichen Hilfskrediten und strauchelnden Unternehmen erwiesen. Es passt in das neue Narrativ der Finanzbranche, die sich vom einstigen Saulus zum Paulus gewandelt hat. Schon längst haben sich die Prioritäten verschoben: Während früher ausschließlich die Rendite zählte, spielen heute auch Kriterien wie die CO2-Bilanz und Diversität eine wichtige Rolle.
Der Wind in der Gesellschaft und auch an den Finanzmärkten hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gedreht. Dabei ist nicht nur das Bewusstsein für den Klimawandel nach unzähligen Dürreperioden, Überschwemmungen oder Bildern von einsam herumschwimmenden Eisbären gestiegen. Gerade in der jüngeren Vergangenheit sind durch Proteste gegen die Diskriminierung und Gewalt gegenüber Minderheiten auch soziale Fragen wieder stärker in den Vordergrund gerückt. In Deutschland hat der spektakuläre Fall des einstigen Sterns am Finanzmarkt-Himmel, Wirecard, dagegen verdeutlicht, dass auch das Thema Governance bei der Frage der Nachhaltigkeit nicht aus dem Fokus geraten darf. In der Finanzbranche werden die Nachhaltigkeitsebenen, die Umwelt, das Soziale und die Grundsätze guter Unternehmensführung, unter den drei Buchstaben ESG (Ecological, Social, Governance) zusammengefasst.
Grüne Federn?
Mittlerweile gibt es kaum eine Fondsgesellschaft, die das Kürzel „ESG“ noch nicht auf irgendein Finanzprodukt gedruckt hat, keine Bank mehr, die sich keine ethische oder ökologische Finanzierung auf die Fahne geschrieben hat, und keine Versicherung, die nicht eine nachhaltige Strategie vorweisen kann. Einige kritisieren, dass sich die Finanzinstitute lediglich mit grünen Federn schmücken und Grünfärberei, also Greenwashing, betreiben, um Produkte nachhaltiger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind.
Zwar lässt sich das in einigen Fällen nicht von der Hand weisen, doch klar ist auch, dass die Finanzindustrie nicht losgelöst vom Klimawandel oder der Einhaltung von Menschenrechten wirtschaften kann. Die Auswirkungen von Hitzewellen oder Naturkatastrophen als Folge der Erderwärmung zu ignorieren, kann die Branche teuer zu stehen kommen. Das betrifft an vorderster Front die Versicherungsbranche. Innerhalb von rund dreißig Jahren stieg die Zahl der Naturkatastrophen in 2018 von 240 auf 820. Laut der Europäischen Zentralbank betrug 2018 der komplette Verlust der Versicherungen weltweit infolge von wetterabhängigen Ereignissen knapp 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die gesamtwirtschaftlichen Verluste haben sich in der gleichen Zeit von 150 Milliarden Dollar auf 350 Milliarden Dollar mehr als verdoppelt.
„Geld ist Macht“, formuliert es Anne Simpson, Direktorin des California Public Employees’ Retirement System, eines der größten Pensionsfonds in Amerika. Könne man das Kapital und die Macht der Finanzmärkte nutzen, könne man sicherstellen, dass die Unternehmen den nötigen Wandel zur Eindämmung der Erderwärmung vollziehen.
Die Rolle des Finanzmarktes ist dafür von wesentlicher Bedeutung. Die 500 größten Vermögensverwalter der Welt verwalteten 2019 global mehr als 104 Billionen Dollar. Das geht aus einer Studie des Thinking Ahead Institute im Auftrag des multinationalen Risikomanagement-, Versicherungsmakler -und Beratungsunternehmens Willis Towers Watson hervor. Und auch auf der Kreditseite werden Billionen bewegt. Laut Daten der International Capital Markets Association umfasst der Bondmarkt weltweit die stolze Summe von 128 Billionen Dollar – ein Drittel davon entfällt auf Unternehmensanleihen.
Dabei stehen Banken, Vermögensverwalter und Versicherungen auch selbst unter spürbarem Druck: seitens Politik mit immer strengeren Vorgaben, der Zivilgesellschaft und vor allem seitens ihrer eigenen Kunden. Es sind nicht nur die großen institutionellen Investoren, sondern auch verstärkt Privatanleger, die eine schnellere Umschichtung der Vermögenswerte in nachhaltige Anlagen verlangen. In einer vom Wirtschaftsprüfungsnetzwerk PricewaterhouseCoopers International (PwC) durchgeführten Umfrage erwarteten 99 Prozent der befragten institutionellen Investoren eine zunehmende Angleichung von ESG- und nicht nachhaltigen Produkten; die Mehrheit ging davon sogar schon bis zum nächsten Jahr aus.
Ethischer als die Konkurrenz
Mit zunehmender Nachfrage steigt der Wettbewerbsdruck innerhalb der Branche, nachhaltige Produkte ins Sortiment aufzunehmen und noch ethischer oder umweltfreundlicher zu sein als die Konkurrenz. Das Geschäft mit den grünen Finanzprodukten hat sich längst zu einem Milliardenmarkt entwickelt. Das Jahr 2020 endete hierzulande trotz der Coronakrise mit einem neuen Höchststand beim Vermögen nachhaltiger Fonds, meldete der Deutsche Fondsverband BVI Anfang März. Bis zum Ende des vergangenen Jahres verwalteten nachhaltige Fonds ein Vermögen von insgesamt 147 Milliarden Euro und damit rund dreißig Prozent (33 Milliarden Euro) mehr als noch im Vorjahr. Das Wachstum der konventionellen Fonds betrug dagegen nur kümmerliche drei Prozent. Auch weltweit kletterte das verwaltete Vermögen in ESG-Fonds 2020 laut dem Fondsanalysehaus Morningstar auf ein neues Rekordhoch von knapp 1,7 Billionen Dollar.
Ähnlich stark wächst auch der Markt für grüne Anleihen, die Green Bonds. Nach Angaben der Climate Bond Initiative wächst der kumulierte Gesamtmarkt seit 2015 im Schnitt um jährlich sechzig Prozent. Vor sechs Jahren war er gerade einmal 104 Milliarden Dollar schwer, fünf Jahre später schon mehr als eine Billion Dollar.
Bei der Forcierung ethischer oder ökologischer Faktoren bei der Geldanlage geht es jedoch nicht nur um Gewinne, sondern auch um die Begrenzung von Verlusten, die durch ESG-Risiken entstehen können. Der ehemalige Gouverneur der britischen Zentralbank, Mark Carney, warnte Ende 2019 vor den katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels auf den globalen Finanzsektor, sofern Unternehmen nicht mehr täten, um ihre Klima-Risiken einzudämmen.
Umlenken aus Eigennutz
Für die Branche stellt sich konkret die Frage nach den Folgen des Klimawandels auf ihr Geschäft und welche Instrumente sie zur Hand hat, um ihn zu bekämpfen. Die großen Kapitallenker der Welt haben längst erkannt, dass Investments, die dem Klima schaden, Menschen- und Arbeitsrechte verletzen oder eine gute Unternehmensführung außer Acht lassen, langfristig nicht rentabel sind. Eine der mächtigsten und einflussreichsten Personen der Finanzbranche und Chef des größten Vermögensverwalters der Welt, BlackRock-Chef Larry Fink, lässt keine Konferenz mehr vergehen, ohne das Mantra zu predigen, dass ESG-Risiken auch Investmentrisiken seien.
Es gibt zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die finanziell für ein verantwortungsloses Wirtschaften abgestraft wurden. Der britische Fast-Fashion-Händler Boohoo, der bei seinen Kunden wegen besonders günstiger Kleidung beliebt ist, bekam das im vergangenen Sommer zu spüren. Die britische Zeitung The Sunday Times deckte auf, dass Mitarbeitern eines Subunternehmens in Leicester Stundenlöhne von 3,50 Pfund gezahlt wurden, und damit weit weniger als die gesetzlich vorgeschriebenen 8,72 Pfund Mindestlohn für über 25-Jährige.
Es folgte ein Aufschrei in den sozialen Medien, auch von vielen der jungen Kundinnen des Händlers. Das Bekanntwerden der Arbeitsverhältnisse hatte jedoch nicht nur schwerwiegende Folgen für die Reputation des Unternehmens, sondern auch für dessen Aktienkurs: Innerhalb kürzester Zeit sackte er von vier auf 2,2 Pfund ab. Innerhalb nur zweier Tage verbrannte das Unternehmen rund zwei Milliarden Pfund seines Börsenwerts. Es war ein Desaster für das Unternehmen – und für seine Aktionäre. Die schottische Investmentgesellschaft Standard Life Aberdeen warf in der Folge fast ihre gesamten Anteile auf den Markt. Auch wenn sich der Kurs mittlerweile wieder etwas erholt hat: Das Image litt nachhaltig.
In der Textilbranche dreht sich ein Großteil der ESG-Risiken um die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten. Im Energiesektor treibt viele Vermögensverwalter dagegen die Furcht vor den sogenannten „Stranded Assets“ um. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, dürften große Mengen der noch im Boden befindlichen fossilen Energieressourcen nicht mehr gefördert werden. Im schlimmsten Fall könnte das dazu führen, dass Aktien oder Anleihen von Investoren in dem Bereich auf einen Schlag wertlos und damit zu „gestrandeten Vermögenswerten“ würden.
Um sich vor solchen Risiken zu schützen, verabschieden sich immer mehr Vermögensverwalter von fossilen Investments oder reduzieren ihr Engagement drastisch. Der größte Staatsfonds der Welt, der norwegische Pensionsfonds, ist bekannt für seine strengen ESG-Anforderungen. Der knapp eine Billion schwere Fonds hat dabei schon vor einigen Jahren beschlossen, Unternehmen auszuschließen, die mehr als dreißig Prozent ihres Umsatzes aus Kohle beziehen.
Boykott gegen Kohle
Es klingt nach einer reizvollen und vor allem einfachen Lösung, sämtliche Umweltverschmutzer oder unsozialen Unternehmen aus dem Portfolio zu werfen und ihnen den Geldhahn zuzudrehen. Es gibt nicht wenige Nichtregierungsorganisationen, die solche extremen Forderungen stellen; eine davon ist die amerikanische Initiative Stop the Money Pipeline, die der Wall Street vorwirft, die Zerstörung des Klimas zu finanzieren. Gemeinsam mit der Initiative forderte auch die Hollywood-Ikone Jane Fonda die amerikanische Großbank JP Morgan dazu auf, die Finanzierung der Kohleindustrie zu stoppen. Am Ende des veröffentlichten Videos zerschnitt sie eine Bankkarte.
Hinter dem Stichwort Divestment verbirgt sich die Idee, Gelder aus klimaschädlichen oder unethischen Anlagen komplett herauszuziehen. Es ist das schärfste Schwert, das Vermögensverwalter schwingen können, um Unternehmen zum Einlenken zu bewegen. Banken können auf der anderen Seite „schlicht“ die Finanzierung etwa von Kohlekraftwerken beenden, Versicherungen besonders klimaschädliche Unternehmen oder Projekte nicht mehr versichern – Maßnahmen, die die Industrie schon jetzt zunehmend trifft. Ist der Druck der Investoren groß genug, lenken die Unternehmen automatisch ein, so das Argument. Das Gegenargument lautet jedoch, dass letztlich nur die Inhaber der Firmen, also die Aktionäre, auch Ansprüche stellen können. Ziehen sich die Investoren ganz aus dem problematischen Unternehmen heraus, verlieren sie jedoch ihr Stimmrecht – und damit ihren Einfluss. Zumal sich solche Entscheidungen nicht einfach einseitig treffen lassen. Schließlich verwalten Fondsgesellschaften nicht ihr eigenes Geld, sondern das ihrer Kunden. Vermögensverwalter können nicht gegen deren Interesse handeln. Das ergibt sich allein schon aus ihrer treuhänderischen Pflicht, die besonders in Amerika noch immer die Rendite in den Vordergrund stellt.
Dem Divestment gegenüber steht das sogenannte Engagement, der aktive Dialog zwischen den Unternehmen und den Vermögensverwaltern. Im Gespräch werden, so zumindest die Hoffnung, Kompromisse getroffen, die die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens garantieren, jedoch auch deren nachhaltige Transformation. Auch wenn das nicht immer funktioniert, betonen Befürworter dieser Strategie gern, dass der Umwelt mehr dadurch geholfen sei, einen besonders „schmutzigen“ Akteur „grüner“ zu bekommen, als Geld in ohnehin schon umweltfreundliche Unternehmen zu pumpen. Da anpacken, wo es wehtut, lautet also die Devise.
Das Engagement ist jedoch nur so lange sinnvoll, wie die Unternehmen mitziehen. Werden bestimmte ESG-Reporting-Prozesse etwa bewusst verzögert oder kritische Themen ignoriert, verlieren Investoren, die keine Konsequenzen ziehen, ihre Glaubwürdigkeit. Dabei kommt dem Stimmrecht der Aktionäre eine immer größere Rolle zu.
So kann auf Hauptversammlungen gegen das Management votiert werden; auch können Aktionärsanträge unterstützt werden, etwa zu strengeren Klimazielen. Gerade im Verbund mit anderen großen Investoren kann der Druck auf die Unternehmen weiter erhöht werden. Das 2017 gegründete Investorennetzwerk Climate Action 100+, das aus 570 Investoren mit einem verwalteten Vermögen von 54 Billionen Dollar besteht, versucht etwa, Unternehmen zu bewegen, feste Klimaziele zu setzen oder ESG-Risiken offenzulegen.
Schlupflöcher für Unternehmen?
Auch auf der Kreditseite gibt es verschiedene neue Lösungsansätze, Anreize für nachhaltiges Wirtschaften zu schaffen. Dazu zählen die sogenannten ESG-linked Loans oder Sustainability-linked Loans, die an Beliebtheit zunehmen. Mit ihnen werden die Kreditkonditionen an bestimmte Nachhaltigkeitsziele gekoppelt. Der italienische Energiekonzern Enel, der 2019 solch einen Sustainability-linked Loan begab, muss bis Ende dieses Jahres das Ziel von 55 Prozent an installierter Leistung aus erneuerbaren Energien erreichen. Verfehlt er dieses, muss er 25 Basispunkte mehr für den Kredit von 1,5 Milliarden Dollar zahlen. Dabei müssen solche an Nachhaltigkeit gekoppelten Ziele jedoch vorher festgelegt und von unabhängiger Stelle überprüft werden. Lösungen, die mit Anreizen arbeiten, könnten sich künftig in der Finanzbranche etablieren, etwa auch bei der Vergütung von Vorständen, die an ESG-Kriterien geknüpft ist. Ob sie den Unternehmen Schlupflöcher bieten und am Ende doch nur dem Greenwashing dienen, wird sich zeigen und vermutlich im Einzelfall nicht ganz vermeiden lassen. Der französische Energiekonzern Total hat im Februar zumindest verkündet, künftig nur noch Anleihen begeben zu wollen, die an Nachhaltigkeitsziele gekoppelt sind.
Antonia Mannweiler, geboren 1993 in Aschaffenburg, Studium der Wirtschaftswissenschaften und Masterstudium in Internationalem Journalismus, seit 2018 Mitglied der Finanzredaktion, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.