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Konservatismus und liberaler Gaullismus

Andreas Rödder und Jean-Louis Thiérot über Bewahrung und Reform

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Andreas Rödder: Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland, C.H. Beck, München 2019, 144 Seiten, 14,95 Euro.

Jean-Louis Thiériot: De Gaulle, le dernier réformateur, Éditions Tallandier, Paris 2018, 208 Seiten, 13,50 Euro.

 

Bisher ist es niemandem gelungen, ihn vom Thron zu stoßen: Charles de Gaulle ist der beliebteste Präsident der Fünften Französischen Republik. Schon zu Lebzeiten als der „berühmteste der Franzosen“ bezeichnet, wird er bis heute von einem großen Teil seiner Landsleute verehrt. Als die Franzosen 2018 anlässlich des 60. Jahrestags der Verabschiedung der Verfassung der Fünften Republik vom Meinungsforschungsinstitut YouGov nach ihrem bevorzugten Präsidenten befragt wurden, kam der General nicht nur mit 65 Prozent auf den Spitzenplatz, sondern war auch der Einzige, der die Fünfzig-Prozent-Marke überschritt. Zum Vergleich: Emmanuel Macron erreichte zwanzig Prozent, François Hollande nur sechzehn Prozent. Man wird daraus freilich nicht schließen können, die Mehrheit der Franzosen neige zu einer Verklärung der Vergangenheit, denn aus solch einem Umfrageergebnis folgt noch keine politische Präferenz in der Gegenwart. Gleichwohl ist ein solches Ergebnis Grund genug, zu fragen, ob der Gaullismus de Gaulles heute überhaupt noch eine Referenz sein kann.

Schon 2006 hat der ehemalige französische Premierminister Édouard Balladur in dem Essay Laissons de Gaulle en paix! gefordert, de Gaulles Politik nicht für alle Probleme der Gegenwart als Blaupause heranzuziehen. Diese Aufforderung war nicht gegen de Gaulle gerichtet. Der Neogaullist Balladur wollte lediglich darauf hinweisen, dass im Zentrum von de Gaulles politischem Denken das Gebot gestanden habe, sich immer an der Wirklichkeit zu orientieren, was vor allem für die Außenpolitik relevant sei. Deshalb war es aus Balladurs Sicht im Jahr 2006 gaullistischer, sich an den in der internationalen Politik herrschenden Realitäten zu orientieren, als zu wiederholen, was de Gaulle in einer ganz bestimmten historischen Situation getan habe. Das drückte sich etwa in einem anderen Essay aus, mit dem Balladur ein Jahr später zur Gründung einer westlichen Union aus den Vereinigten Staaten  und  der  Europäischen  Union (EU) aufrief. Für sogenannte historische Gaullisten kam das einem Sakrileg gleich. Es spricht jedoch einiges dafür, dass Balladurs Interpretation genau richtig ist: Am Ende war der Gaullismus nicht mehr als die Überzeugung, dass Frankreich eine große und unabhängige Nation sein müsse, wobei das Verlangen nach indépendance national de Gaulle nicht daran hinderte, im Jahr 1959 als Präsident die Römischen Verträge zu bekräftigen und Frankreich fest in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu verankern. Die Überzeugung, dass Frankreich über eine starke Exekutive verfügen müsse, hing mit diesen außenpolitischen Maximen zusammen. Wenn noch etwas hinzukam, dann war es der Wirtschaftsliberalismus. Denn unmittelbar nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1958 begann de Gaulle, ein liberales Reformprogramm auf den Weg zu bringen, das Frankreich später einen dem bundesdeutschen Wirtschaftswunder vergleichbaren Aufschwung ermöglichte.

 

Immobilismus von Staat und Gesellschaft

 

Daran erinnert jetzt der französische Publizist und Politiker Jean-Louis Thiériot in einem lesenswerten Buch über de Gaulle als „letzten Reformer“ der Fünften Republik. Wie Balladur sieht Thiériot keinen Widerspruch zwischen Gaullismus und Liberalismus. Im Gegenteil: Wenn sich dem Gaullismus neben dem Bedürfnis nach nationaler Größe überhaupt eine Art politisches Programm zuweisen lässt, dann ist es für Thiériot der Liberalismus, oder, um genau zu sein: ein Wirtschaftsliberalismus, der am ehesten mit dem deutschen Ordoliberalismus zu vergleichen ist. De Gaulle habe nicht nur zu liberalen Rezepten gegriffen, um die französische Wirtschaft davor zu bewahren, von der internationalen Konkurrenz in die Knie gezwungen zu werden, sondern er sei auch seit den 1930er-Jahren von diesen Rezepten überzeugt gewesen.

Thiériot zeichnet in seinem Buch nach, wie es de Gaulle gelang, den berüchtigten Immobilismus von Staat und Gesellschaft zu durchbrechen und das Land umfassend zu modernisieren. Dabei sei der General weder antieuropäisch noch protektionistisch gewesen. Zwar treffe es zu, dass er Frankreich vor der Konkurrenz ausländischer Unternehmen habe schützen wollen. De Gaulle habe genau erkannt, dass die allein auf den heimischen Markt und das schon im Niedergang befindliche Kolonialreich ausgerichtete französische Wirtschaft unter den Bedingungen eines gemeinsamen europäischen Markts nicht hätte bestehen können. Der Schutz aber, den der General der französischen Wirtschaft bieten wollte, stammte nicht aus der Mottenkiste des Protektionismus. Vielmehr wollte er die französischen Unternehmen in die Lage versetzen, gegenüber der europäischen und internationalen Konkurrenz bestehen zu können.

Um das zu schaffen, versicherte er sich der Hilfe zweier Männer, die zuvor niemand mit ihm in Verbindung gebracht hätte. Der eine war Antoine Pinay – Mitglied des liberalkonservativen Centre national des indépendants et paysans (CNIP), Befürworter der europäischen Integration und überzeugter Transatlantiker –, der sich vor allem im Jahr 1952 als Ministerpräsident einen Namen durch die Stabilisierung des Francs gemacht hatte. De Gaulle ernannte Pinay, der für viele Franzosen die Personifizierung des gesunden Menschenverstands war, 1958 zum Finanz- und Wirtschaftsminister, um gar nicht erst Zweifel an seinem Reformwillen aufkommen zu lassen. Er stellte ihm 1959 den Karrierebeamten Jacques Rueff zur Seite, einen dem Ordoliberalismus nahestehenden Ökonomen und politischen Intellektuellen, der als Vorsitzender einer Expertenkommission – des Comité Rueff – Vorschläge zur Gesundung der französischen Staatsfinanzen unterbreiten sollte. Der Zweck war, alle Hindernisse auf dem Weg zur Expansion der französischen Wirtschaft aus dem Weg zu räumen. Der nach dem Ende der Kommissionsarbeit vorgelegte Plan Pinay-Rueff sah harte Einschnitte vor, unter anderem eine Obergrenze für Lohnerhöhungen für Beamte, Kürzungen von Subventionen und die Erhöhung verschiedener Steuern. Außerdem setzte sich Rueff dafür ein, den Franc abzuwerten und auf diese Weise zu einer harten Währung zu machen.

 

Grandeur und Reformgeist

 

Warum akzeptierten die protestfreudigen Franzosen diese Reformen? Weil ihnen de Gaulle klarmachte, zu welchem Zweck die zeitweiligen Härten notwendig seien. Das ist aus Thiériots Sicht eine zentrale Lehre, die man aus de Gaulles Reformpolitik ziehen kann. Ohne ein großes Ziel akzeptiert kein Volk schmerzhafte Veränderungen. Im Frankreich des Jahres 1959 ging es um die Selbstbehauptung des Landes als Großmacht. Die Wiederherstellung wirtschaftlicher Stärke war aus de Gaulles Sicht die Voraussetzung für eine Außenpolitik der indépendance nationale und für die Entfaltung dessen, was er Grandeur nannte. Das leuchtete den Franzosen offenbar ein, und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Schon 1959 hatte Frankreich wieder einen ausgeglichenen Staatshaushalt – zum ersten Mal seit 1930.

Das alles ist nicht neu, sondern in der Geschichtsforschung seit Langem bekannt. Angesichts der vielen Legenden, die sich um den General ranken und die nicht zuletzt von vielen Getreuen und selbsternannten Gralshütern des Gaullismus gepflegt werden, kann es jedoch nicht schaden, diese Dinge noch einmal für ein breites Publikum auf den Punkt zu bringen.

Und natürlich verfolgt Thiériot eine politische Absicht. Indem er de Gaulles Reformen in sieben Lektionen zusammenfasst, möchte er Emmanuel Macron zeigen, wie man es richtig macht. Es ist zweifelhaft, ob er bei dem jungen Präsidenten Gehör findet, zumal dieser kaum mit der de Gaulle’schen Motivation konform gehen dürfte. Macron, der alles „zur selben Zeit“ machen will, wie er sagt, steht für einen Veränderungswillen ohne Rückbindung an das Bestehende. Der Konservatismus, der – bei allem Reformwillen – das de Gaulle’sche Projekt auszeichnete, sollte ihm ebenso fremd sein wie die Tradition, die sich dahinter erkennen lässt. Thiériot zeigt nämlich, dass der Gaullismus – jedenfalls derjenige de Gaulles – trotz aller Hervorhebung der Autorität des Staates vielleicht weniger in der Tradition des Bonapartismus steht als in derjenigen der bis zur Julimonarchie zurückreichenden Linie des Orleanismus, also eines Bewahrung und Reform miteinander verbindenden konservativen Liberalismus.

Eine ähnliche politische Haltung beschreibt Andreas Rödder in seinem Essay Konservativ 21.0. Auf der Grundlage älterer und neuere Forschungen zur Strömung des Konservatismus in Deutschland und Europa arbeitet Rödder einen besonders für die deutsche Geschichte prägenden Gegensatz von „liberalem“ und „illiberalem Konservatismus“ heraus. Während er den „illiberalen Konservatismus“ in Übereinstimmung mit anderen Autoren als eine Traditionslinie beschreibt, die sich vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik nachzeichnen lässt, betrachtet er den „liberalen Konservatismus“ als eine erst spät in Deutschland heimisch gewordene Richtung. Dabei hebt er besonders den von Jens Hacke erforschten Beitrag der philosophischen Schule um Joachim Ritter hervor, greift aber auch weiter zurück, indem er den Blick auf das Großbritannien des späten 18. und des 19. Jahrhunderts richtet.

 

Vater des Konservatismus?

 

Natürlich darf, wenn es um den Gegenstand des Liberalkonservatismus geht, der Verweis auf Edmund Burke nicht fehlen. Tatsächlich hat Burke wie kein anderer die Grundlagen für den britischen Liberalkonservatismus gelegt, der, wie der Orleanismus, eigentlich ein konservativer Liberalismus ist. Das macht auch Rödder deutlich und lässt zudem durchblicken, dass er der Auffassung, Burke sei der „Vater des Konservatismus“ gewesen, mit einiger Skepsis gegenübersteht. Tatsächlich muss diese auf den britischen Politiker Lord Hugh Cecil zurückgehende und später nicht zuletzt durch den amerikanischen Historiker Russell Kirk popularisierte These heute als überholt gelten. Zuletzt haben die  Burke-Biographen F. P. Lock, David Bromwich und Richard Bourke sich noch einmal gegen dieses Missverständnis gewandt. Tatsächlich stellte Burkes Reaktion auf die Französische Revolution keinen Bruch mit seinem bisherigen Denken dar, machte ihn damit auch nicht zum Begründer des Konservatismus. Vielmehr legte Burke in seinem berühmten Pamphlet Reflections on the Revolution in France, mit großer Energie und angewandt auf die Geschehnisse in Frankreich, nur noch einmal den Kern dessen dar, was er schon immer für richtig gehalten hatte: nämlich seine Interpretation der Whig-Ideologie des 18. Jahrhunderts, die später die Grundlage für die Entwicklung des konservativen Liberalismus oder liberalen Konservatismus in Großbritannien bot.

 

Künftige Rolle des Liberalkonservatismus

 

Das Konservative daran war, wie auch Rödder erkennen lässt, allein die Haltung, die Disposition, mit der Burke an die Dinge heranging. Die Grundlage war der Lock’sche Liberalismus. Man tut dem Begriff des Liberalkonservatismus keine Gewalt an, wenn man feststellt, dass ihn diese Kombination aus Liberalismus und konservativer Disposition bis heute auszeichnet. Es ist wichtig und verdienstvoll, dass Rödder seine Grundlagen knapp und anschaulich für ein interessiertes Publikum darlegt und denen entgegentritt, die meinen, der Konservatismusbegriff sei heute nicht mehr relevant oder habe jedenfalls nichts mit der CDU zu tun. Rödder lässt keinen Zweifel daran, dass die praktische Politik von CDU und CSU eben über weite Strecken liberalkonservative Züge getragen habe und dass es keinen Gegensatz zwischen Liberalismus und Konservatismus auf der einen und den Soziallehren der Kirchen auf der anderen Seite gebe.

Noch wichtiger ist Rödders Plädoyer dafür, dass der Liberalkonservatismus auch künftig eine Rolle spielen sollte. Sein Buch trägt den Untertitel Eine Agenda für Deutschland, und alles, was er im entsprechenden Kapitel schreibt, wird man aus liberalkonservativer Warte begrüßen können. Es geht Rödder darum, den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Bewahrung und Reform deutlich zu machen, der auch die Politik de Gaulles nach 1958 prägte. Denn obgleich Frankreich im 20. Jahrhundert niemals so schnell und nachhaltig verändert wurde wie unter der Präsidentschaft de Gaulles von 1959 bis 1969, war der Wandel, den der General auslöste, für ihn kein Selbstzweck. Er strebte danach, durch notwendige Veränderungen das für ihn Wesentliche zu erhalten: die Größe Frankreichs, die nicht zuletzt auch an die anthropologischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen gebunden war, die Rödder in seiner Agenda mit Blick auf Deutschland verteidigt.

Vieles an dieser Agenda hätte wohl auch Charles de Gaulle unterschreiben können, der sich freilich bei einigen der angesprochenen Probleme gefragt hätte, in was für eine Welt er da hineingeraten sei. Tatsächlich drängt sich bei Lage der Dinge in Deutschland, Frankreich und der Welt der Eindruck auf, dass sowohl Rödders Agenda als auch die sieben Lektionen, die Thiériot Macron erteilen will, nur von einem Staatsmann zu handhaben wären, der in der Liga de Gaulles spielt.

 

Matthias Oppermann, geboren 1974 in Auetal-Rehren, seit 1. Oktober 2018 Leiter der Abteilung Zeitgeschichte  der  Konrad-Adenauer-Stiftung, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

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