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„Body Positivity“, „Body Neutrality“ und die Frage der Selbstoptimierung

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Artikel anhören! 16:07 Min, gelesen von Stefanie Gladisch

Der Körper ist der Ort, an dem alles konkret wird. Ob Diskussionen über Ethik und Moral, die Frage von Krieg oder Frieden, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung oder die Folgen politischer Maßnahmen – alles bleibt abstrakt, solange es uns nicht auch in unserer Körperlichkeit betrifft. Nicht umsonst heißt es: „Rich Man’s War, Poor Man’s Blood.“ Für die einen ist Krieg eine entrückte Sphäre von Werten, Zahlen, Zielen, Strategien, Plänen, Taktiken, Operationen, für die anderen ein zerfetztes Bein oder eine ermordete Tochter.

Ohne das Medium des Körpers räsonierten wir in einem Reich reiner Ideen. Und da wir nun mal unausweichlich körperliche Wesen sind, wie die Feministinnen der zweiten Welle oder die Theoretiker des „verkörperten Wissens“ zu Recht betonen, geht eine jede Überlegung, eine jede Idee, ein jedes Konzept mit körperlichen Regungen einher. Ob ich beispielsweise Immanuel Kant oder Judith Butler lese, hat, und seien es nur subtile, Auswirkungen auf meinen Hormonspiegel – die Lektüre identitätspolitischer Texte wiederum führt bei manchen zum Herzinfarkt infolge wutbürgerlicher Zornesanfälle, andere fühlen sich energetisiert.

Das Konzept der „Body Positivity“, das sich seit einigen Jahren aus den USA kommend in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, an Hochschulen, in Ratgeberbüchern und Kursangeboten, nun ja: verkörpert, bildet da keine Ausnahme. Beim Autor dieser Zeilen, dessen Geist dem Konzept eigentlich positiv gegenüberstehen möchte, ist es ausgerechnet der Körper, der Widerspruch dagegen einlegt. Und wenn sein Körper das tut, kommt ihm sein Geist mit einer Assoziation zu Hilfe.

In seinem Buch Verführtes Denken (1953) erzählt Czesław Miłosz, Träger des Nobelpreises für Literatur von 1980, wie er sich als Intellektueller den totalitären Kommunismus hatte schönrationalisieren können, von seinem Körper aber zur Abkehr vom Totalitarismus gedrängt worden war: Eine „Revolte des Magens“ habe ihm keine andere Wahl gelassen. Dem Autor dieses Beitrags geht es mit Blick auf „Body Positivity“ ähnlich. Wann immer sein Geist das Konzept gutheißt, legt sein Körper Widerspruch in Form von Unwohlsein ein. Im Folgenden soll versucht werden, dieses Unwohlsein zu verbalisieren und zu begründen.

 

Stillbare „Bedürfnisse“, unstillbare „Begehrnisse“

 

„Body Positivity“ ist natürlich keine totalitäre Bewegung; das Miłosz-Zitat betrifft nur die unterschätzte Kritikertätigkeit der Bauchregion. Vielmehr versteht sich das aus der US-amerikanischen „Fat-Acceptance“-Bewegung hervorgegangene Konzept als Alternative zu einer – als solche wahrgenommenen – hegemonialen Kultur der „Body Negativity“. Die kommerzielle Ausschlachtung idealtypisch-normativer, für die meisten unerreichbarer Körperbilder, so lautet die Diagnose der „Body-Positivity“-Adepten, soll Menschen im Zustand des Defizitbewusstseins halten, auf dass sie sich unablässig transformieren – und dafür unablässig Produkte und Dienstleistungen konsumieren. Körperliche Selbstoptimierung als Reaktion auf Das ewige Ungenügend, so der Titel eines Buchs von Saralisa Volm (2023), wird damit zur Überlebensnotwendigkeit eines auf unendlichem Wachstum gründenden Kapitalismus, der noch die feinsten Fasern des zur Ware gewordenen Körpers kolonialisiert. In den Worten des Philosophen Gernot Böhme treten im „ästhetischen Kapitalismus“ neben stillbare „Bedürfnisse“ (Hunger, Durst, Schlaf et cetera) unstillbare „Begehrnisse“ – ist ein Paar neuer Brüste pro Leben wirklich genug? Und könnte man nicht noch eine neue Identität erproben, wofür mindestens der Erwerb eines Ratgeberbuches, die Ausübung dreier neuer Freizeitbetätigungen sowie ein avancierter Trainingsplan im Gym vonnöten ist?

Wie die Soziologin Eva Illouz gezeigt hat, ist der postindustrielle „therapeutische“ Kapitalismus besonders geschickt darin, Erkenntnisse der Psychologie für die Ausweitung der Warenzone aufs Körperliche, Intime und Emotionale produktiv zu machen. „Body Positivity“ hingegen wirbt dafür, sich im eigenen Körper wohlzufühlen, mit ihm glücklich zu werden, ja ihn lieben zu lernen und so die (künstliche) Defizitorientierung hinter sich zu lassen. Genau an diesem Punkt beginnt der Körper des Autors verlässlich zu rebellieren, breitet sich ein Unwohlsein vom Bauchbereich in Richtung Hirn aus. Und wenn er die Codes seiner Eingeweide richtig versteht, wollen diese ihm bedeuten, dass hier eine alte Trivialisierung des Körpers im Begriff ist, durch eine neue Trivialisierung ersetzt zu werden. In der Abgrenzung zu den oben genannten „hegemonialen“ Körperbildern bleibt das Konzept der „Body Positivity“ bereits auf der Ebene der Benennung negativ auf diese bezogen und im Framing ähnlich simplifizierend. Es ist selbst noch in der Kritik am therapeutischen Kapitalismus in ebendiesem verankert.

 

Medium zur Welt

 

Auch ist ein Körper mit geringem Fettanteil nicht einfach nur ein ästhetisches Ideal hegemonialen Zuschnitts. In Zeiten, da wir überwiegend sitzenden Tätigkeiten nachgehen, wenig Kalorien verbrauchen und keine Wintervorräte am eigenen Leib mit uns herumschleppen müssen, hat Fett einen anderen Stellenwert als in der Vormoderne – ganz zu schweigen von Tatsachen wie jener, dass während der Corona-Pandemie überproportional viele Adipöse auf den Intensivstationen landeten. Es gibt also auch Gründe für das „hegemoniale Körperideal“, die sich nicht auf kapitalistische Ideologie reduzieren lassen.

„Liebe deinen Körper!“, dekretierte SPIEGEL Wissen in der Ausgabe 1/2023. So bleibt der Diskurs im Reich bequemer Umkehrschlüsse und knalliger Slogans. Neben den routiniert beklagten, massenmedial verstärkten sozialen Druck, eine gute Figur zu machen, tritt der Druck, sich, wie es im SPIEGEL-Untertitel heißt, „in der eigenen Haut wohlzufühlen“. Schon ist ein weiteres, für die meisten unerreichbares Ideal lanciert. Das eine triviale Ideal löst das andere indes nicht ab; vielmehr bestehen nun beide gleichzeitig. Der Körper der Gegenwart wird zum Spielball, der unablässig zwischen zwei Schlägern hin- und hergedroschen wird: Optimiere dich! Akzeptiere dich, wie du bist! Optimiere dich! Akzeptiere dich, wie du bist! Optimiere dich, akzeptiere dich, wie du bist! Und immer so weiter.

In den beiden nur scheinbar gegensätzlichen, de facto komplementären Imperativen wird die Doppelnatur, genauer gesagt: die Doppelkultur, der westlichen Moderne sinnfällig. Einerseits stellt diese, allen Abgesängen zum Trotz noch immer ziemlich virulente Moderne alles infrage, arbeitet sie an Genen wie Schneider am Garn, entdeckt sie noch in jedem Atom eine neue Gestaltungsaufgabe, prägt sie jede Woche ein neues Identitätsangebot, einen neuen Ismus, ein noch heißeres Stringtanga-Modell, eine noch superfooderige Smoothie-Mixtur und ein noch genialeres technologisches Dingsbums™, das dieses Mal wirklich die Umwelt retten wird – versprochen! Andererseits zeichnet sich diese Moderne durch die Sehnsucht nach Stillstand durch Fortschritt aus, nach dem vom metaphysischen Kopf auf die materialistischen Füße gestellten irdischen Paradies. Sei einfach du selbst, finde dein inneres Kind, zurück zur Natur, Harmonie, Mindfulness, Wellness, Degrowth, Selbstliebe.

Der Körper, dieser Ort, an dem alles konkret wird, ist zu komplex und zu eigensinnig, um ihm mit aktivistischer Bukolik à la „Body Positivity“ gerecht zu werden. Dieser gebricht es an jener Ambivalenzsensibilität, jener Ambiguitätstoleranz und jener Kontingenzkompetenz, die das Leben im und mit dem und durch den Körper erfordert: „Die Gebrochenheit im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper ist […] die Basis seines Daseins, die Quelle, aber auch die Grenze seiner Macht“, heißt es im Buch Lachen und Weinen (1950, zweite Auflage) des Philosophen Helmuth Plessner, dessen feinsinnige Gedanken über den Menschen in all seiner Körper- und Leiblichkeit heute noch bedenkenswert sind. Von Plessner stammt der berühmte Ausspruch, einen Körper „habe“ man, ein Leib aber „sei“ man. Der Körper kann als nützliches Objekt erfahren werden, jedenfalls solange er nicht streikt, der Leib aber ist das Medium zur Welt, die immer eine biologische und soziale ist, mithin eine dynamische, wechselvolle, hybride – eine Welt, die Selbstoptimierung zur existenziellen Aufgabe macht. Aber dazu später mehr.

 

Kollisionen mit der Leiblichkeit

 

Das jüngere Konzept der „Body Neutrality“, das „Body Positivity“ korrigieren soll, rät dazu, das „Äußere“, also das äußere Erscheinungsbild des Körpers, gar nicht erst wichtig zu nehmen, also weder positiv noch negativ zu besetzen. Erneut tappt das Denken über den Körper in die Kitschund Klischeefalle. Als wäre es möglich, den lebendigen, noch immer größtenteils unerforschten Ort, den man da bewohnt, eben den Körper, den Leib, einfach so hinzunehmen! Es ist doch amüsant, dass die in den 1970er-Jahren entwickelte „Standpunkttheorie“ betont, es gebe keinen neutralen Standpunkt – alles, auch die angeblich objektive Wissenschaft, sei subjektiv gefärbt, sozial geprägt, folglich relativ. Ausgerechnet im Verhältnis zum eigenen Körper und zu seiner Ästhetik soll es da möglich sein, zum Schweizer zu werden? Und warum sollte das sichtbare „Äußere“ weniger wichtig sein als das „Innere“? Spricht daraus nicht ein vulgärplatonischer Dualismus: tiefes Geistesleben versus seichte Körperlichkeit, innen versus außen, Sein versus Schein? Mithin ein Dualismus, wie ihn Feministinnen aus guten Gründen kritisieren und dem auch Plessner eine Absage erteilte? „Hier, in den Kollisionen mit seiner Leiblichkeit, erfährt [der Mensch] eine Grenze, die allem geistig-geschichtlichen Wandel trotzt. Soweit die Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Körper reicht, und kein Sprechen, Handeln, Gestalten ohne sie, bleibt sie im Schatten seiner schwerfälligen Anatomie, dem Rahmen des allgemein Menschlichen“ (Plessner, Lachen und Weinen).

Nein, „Neutralität“ im Verhältnis zu einem vom Inneren wie vom Äußeren her gedachten Körper-Leib, der sich auch mal gegen uns verschwört, uns betrügt, uns irreführt und in Sprachen, die wir nicht immer verstehen, mit uns kommuniziert, ist schlichtweg unmöglich. Das gilt insbesondere für das eigene Aussehen, für die Ästhetik des gestaltbaren Körpers. Menschen sind soziale Bilderwesen, und der Körper ist, wie es der Kunsthistoriker Hans Belting auf den Punkt brachte, „selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird“ (Bild-Anthropologie, 2001). Körper-Bilder berühren uns, ziehen uns an, stoßen uns ab, interessieren uns, inspirieren uns, langweilen uns. Aus dieser Affekt- und Sinnsphäre gibt es kein Entkommen. Sehr wohl aber kann man lernen, einen souveränen und gelassenen Umgang mit dieser Sphäre zu pflegen. Sie mit gut gemeinten Konzepten, die sich wie ein Korsett um den Körper und mehr noch um den Leib legen, aus der Welt schaffen zu wollen, ist weltfremd.

 

Gegen Illusionen der Selbstperfektionierung

 

„Body Positivity“, „Body Neutrality“, „Selbstliebe“ – all das sind Slogans, die wie bunte Schlusssteine im immensen Gewölbe des Körpers prangen. Anstatt auf diese Schlusssteine zu starren, gilt es, das ganze Gewölbe in den Blick zu nehmen. Die Welt, in der es steht, verändert sich unablässig, sei es in der Natur, sei es in der Kultur, sei es in Hybriden, und veränderte Umstände erfordern veränderte Körper. Als Wesen, die sich bis auf Weiteres nicht planvoll selbst gebären, sondern ohne ausdrückliche Zustimmung geboren werden, sind wir sogar im Zeitalter des „Anthropozäns“ (der vom Menschen dominierten geologischen Epoche) in etwas geworfen, das der Philosoph Leszek Kołakowski die „Indifferenz der Natur“ und „Faktizität der Welt“ nannte (Die Gegenwärtigkeit des Mythos, 1973). Heute, da Technologie zur Natur wird, darf man mit Fug und Recht von der „Indifferenz“ und „Faktizität der Kultur“ sprechen. Auf die Zumutungen dieser Indifferenz nicht nur geistig, sondern auch körperlich zu reagieren, ist existenzielle Aufgabe. Aufgrund unserer „exzentrischen Positionalität“ (Plessner), die sich nicht zuletzt darin artikuliert, dass unsere Spezies wie keine andere kulturzentriert, bildfokussiert, zukunftsorientiert ist, wovon der Kapitalismus übersteigertes Zeugnis ablegt, kann unsere Existenz nur eine des „ewigen Ungenügend“ sein. Der Schock des Kapitalismus besteht vielleicht nicht darin, dass wir uns in ihm von uns selbst entfremdet wiederfinden, sondern darin, dass wir uns in ihm selbst begegnen – nackt, wenn man so will.

Anstatt mit Konzepten wie „Positivity“ oder „Neutrality“ zu versuchen, aus dem „Ungenügend“ und den damit verbundenen Dynamiken auszusteigen, könnte man letztere als kontraintuitiven, paradoxen Ruhepunkt begreifen. (Körperliche) Perfektion ist in unserer existenziellen Situation unmöglich, (körperliche) Optimierung hingegen sehr wohl möglich. Perfektion ist, was nicht mehr übertroffen werden kann. Perfektion ist abstrakt, kalt, tot, sie hat keinen Platz in der Welt der Körper. „Positivity“ und „Neutrality“ sind in ihrer Statik perfektionsillusionsanfällig. Ein Optimum hingegen ist das bestmögliche Resultat eines Verbesserungsprozesses in konkreten Situationen, unter konkreten Umständen. Im Gegensatz zur esoterisch gefärbten Perfektionierung meint Optimierung das Jonglieren mit diversen Voraussetzungen, Parametern und Variablen in spezifischen lebensweltlichen Zusammenhängen und ihren unausweichlichen Dynamiken. Alle Elemente der Optimierung sind miteinander verbunden. Verbessere ich einen Parameter, verschlechtert sich wahrscheinlich ein anderer. Erziele ich an der einen Stelle einen Gewinn, verzeichne ich an anderer Stelle unter Umständen einen Verlust. Also sind Kompromisse und Weitsicht gefragt: Will ich beispielsweise für acht Prozent Körperfett die Spontaneität in sozialen Beziehungen opfern? Die Beantwortung solcher Fragen ist Teil eines unabschließbaren Prozesses der Arbeit an Körper und Leib. So betrachtet, ist Selbstoptimierung, wenn sie denn nicht selbst wiederum zum Korsettkonzept verkommt, ein gutes Mittel gegen die Illusionen der Selbstperfektionierung. Es gilt, sich jenseits von Floskeln, Slogans, Labels und Leitkonzepten mit dem Körper auseinanderzusetzen, das Wissen über ihn zu mehren, ein Gefühl für ihn zu entwickeln, für seine Autonomie wie auch für seine Verstrickungen mit der Welt, für seine Potenziale und Beschränkungen, ihn immer weiter zu ergründen, ihn auch hier und da mal auszutricksen, ihn aber vor allem zu kultivieren, möglichst gelassen an ihm und mit ihm und manchmal auch gegen ihn zu arbeiten, im Rahmen der Grenzen, die Zeitliches und Überzeitliches setzen – dieser offene, pragmatische und überaus konkrete Prozess der Optimierung bietet mehr, als „Body Positivity“ oder „Body Neutrality“ je bieten könnten.

Jörg Scheller, geboren 1979 in Stuttgart, Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Nebenbei Journalist, Musiker und zertifizierter Fitnesstrainer.

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