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Verändert die Pandemie das Institutionengefüge unserer Verfassungsordnung?

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Die seit 1945 beispiellose, durch die Corona-Pandemie hervorgerufene Krise betrifft sämtliche Lebensbereiche und damit notwendigerweise auch die Rechtsordnung. Verfassungsrechtlich stehen die in Quantität wie in Qualität seit 1949 nicht gekannten Grundrechtseinschränkungen im Vordergrund und bestimmen sowohl die Fachdiskussion als auch den politischen Streit. Daneben treten staatsorganisationsrechtliche Fragen, insbesondere die Wahl der Handlungsmittel, die Austarierung zwischen Exekutive und Legislative, die föderale Komponente und zunehmend auch Finanzierungsfragen, auf den Plan.

Der unklare Wissensstand über die medizinisch-naturwissenschaftlichen Aspekte der Pandemie ist diesbezüglich die alles überwölbende Kategorie; ein ausgesprochen dynamisches Element kommt zu der Ausnahmesituation hinzu, ja ist geradezu ihr Kennzeichen. Bei alledem ist nach deutschem Verfassungsrecht kein allgemeiner Ausnahmezustand oder gar Staatsnotstand erfüllt. Ein solcher ist im Grundgesetz ausschließlich für den Verteidigungsfall vorgesehen. Das deutsche Verfassungsrecht folgt demgegenüber einem Einschränkungsstatt einem Suspensionsmodell: In zahlreichen Einzelregelungen können im Notstandsfall konkrete und begrenzte Ausnahmen greifen. Das gilt im Infektionsschutzrecht bei der unmittelbaren Pandemiebekämpfung selbst (durch die Erklärung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) ebenso wie etwa im Haushaltsverfassungsrecht des Bundes und der Länder, das für derartige Situationen Ausnahmen von der Schuldenbremse gestattet.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – dieser in der aktuellen Corona-Pandemie fast schon totzitierte Satz bleibt gleichwohl im Kern zutreffend. Er ist jedoch zu entfalten und einzuordnen. Die Hauptdiskussionsfelder (zumindest auf juristischer Seite) zum aktuellen Geschehen betreffen die Zulässigkeit und die Grenzen der Freiheitseingriffe gegenüber den Bürgern. Der institutionelle Rahmen der Seuchenbekämpfung, das heißt, wie und in welcher Form politische Entscheidungen zustande kommen, droht darüber aus dem Blickfeld zu geraten. These dieser Ausführungen ist es, dass das institutionelle Setting, der Rahmen, den das Grundgesetz und die Rechtsordnung auch der Krisenbekämpfung vorgibt, gerade durch die bestehenden Ungewissheitslagen besondere Bedeutung erhält. Das soll am Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive sowie mit Blick auf die Finanzierungsprobleme der Pandemiebekämpfung erläutert werden.

Das Gewaltenteilungsschema, die Unterscheidung und Zuordnung von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, besitzt auch eine zeitliche Dimension: Wie zwei so unterschiedliche Staatsrechtler wie Paul Kirchhof und Christoph Möllers herausgearbeitet haben, ist Gesetzgebung im Regelfall Zukunftsgestaltung, Rechtsprechung Vergangenheitsbewältigung, während die Verwaltung die Probleme der Gegenwart zu lösen hat. Insofern hat in der Tat zunächst die Verwaltung in einer Krisensituation zu agieren. Sie besitzt zugleich das Erstzugriffsrecht und die Ersthandlungspflicht. Die gesetzliche Grundlage, aufgrund derer die Verwaltungen zu Beginn der Pandemie handeln konnten, erwies sich schnell als unzureichend. Das Infektionsschutzgesetz war auf eine derart umfassende Pandemie – trotz vorhandener Warnungen von Experten! – schlecht vorbereitet. Einen wenn auch vorübergehenden Stillstand des öffentlichen Lebens auf Basis einer denkbar weit gefassten Generalklausel anzuordnen, wäre vor „Corona“ wahrscheinlich keinem Juristen in den Sinn gekommen.

Eine denkbar schlechte Figur hat in der Krise die parlamentarische Gesetzgebung gemacht. Die schon lange bestehenden institutionellen Schwächen des Deutschen Bundestages der Regierung gegenüber wurden überdeutlich sichtbar. Von den Landtagen, die ohnehin nur noch wenig Kompetenzen besitzen, wollen wir hier schweigen, obgleich für die Landesparlamente die Möglichkeit bestünde, statt einer Landesrechtsverordnung ein Landesgesetz zu erlassen und als handelnden Akteur die Landesregierung zugunsten des Landesparlaments zu verdrängen (Artikel 80 Absatz 4 Grundgesetz).

Das Infektionsschutzgesetz enthielt und enthält sehr weitreichende Verordnungsermächtigungen. Das Grundgesetz hat aus historischer Erfahrung bei der Ermächtigung der Exekutive zur Normsetzung strenge Maßstäbe angeordnet. Ein Ermächtigungsgesetz, das den entscheidenden Baustein der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 bildete, soll es nicht mehr geben können. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorgaben dahingehend konkretisiert, dass das Parlament selbst entscheiden müsse, dass es einer Programmfestsetzungspflicht unterliege und dass für den Bürger die Folgen bereits aus dem Parlamentsgesetz und nicht erst aus der darauf beruhenden Rechtsverordnung vorhersehbar sein müssten. Die Verlagerung der grundrechtseingriffsermöglichenden Befugnisse vom demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgeber auf die normsetzende Exekutive hat in der derzeitigen Situation noch nicht die nötige Aufmerksamkeit gefunden. Dem Erlass einer Rechtsverordnung durch eine Landesregierung oder ein Landesgesundheitsministerium fehlen nämlich alle Vorzüge parlamentarischer Gesetzgebung: Es gibt kein Verfahren und damit auch keine Öffentlichkeit. Rechtsverordnungen kommen buchstäblich aus der „Dunkelkammer“ der Ministerialverwaltung.

 

Zurückhaltende Judikative

 

Die Vermutung liegt nahe, dass die mäßige Akzeptanz vieler rechtlicher Vorgaben in der Pandemie auch darauf beruhen, dass keine wirkliche politische Diskussion stattfinden konnte. Gegenläufige Meinungen werden regelmäßig im Gesetzgebungsverfahren artikuliert. Die Opposition – und mag sie noch so abwegig argumentieren – wird erst einmal eingebunden. Nur über das parlamentarische Verfahren können heterogene Interessen einbezogen und zu einem Ausgleich gebracht werden. Darin liegt eine erkenntnistheoretische Leistung des Parlamentarismus. Der naheliegende Einwand, dass man durch Formalismus doch keine Leben aufs Spiel setzen könne, wurde in der Krise widerlegt: Die exekutiven Abstimmungsverfahren zwischen Bundeskanzleramt und Ministerpräsidenten sind alles andere als schneidig; sie sind langwierig, ja zäh und trotzdem wenig legitimationsfördernd, da sie parlamentarische und öffentliche Debatten kaum ersetzen können.

Der Bundestag hat im Herbst schließlich das Infektionsschutzgesetz nachgebessert; da sich das Wissen über Infektion und Pandemie kontinuierlich ändert und erweitert, müsste das Parlament freilich in anderer Weise das Geschehen begleiten. Warum die Gesetzesnovelle des Infektionsschutzgesetzes nur als „Klarstellung“ deklariert wurde, bleibt unerfindlich. Etwas mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein und etwas mehr Kommunikation wären hilfreich.

Zur Rechtsprechung können wir bisher wenig sagen. Das liegt darin begründet, dass sich praktisch alle Verfahren vom örtlichen Verwaltungsgericht bis zum Bundesverfassungsgericht im Eilrechtsschutz bewegten und die endgültigen Entscheidungen, insbesondere der Höchstgerichte, ausstehen. Einige Vorgehensweisen in der Pandemiebekämpfung (unplausible und nicht zielführende – juristisch übersetzt: ungeeignete – Einschränkungen der Fortbewegungsfreiheit, nicht gerechtfertigte Ausnahmen für Branchen mit besonders guter Lobbyarbeit, die Verwendung der Handlungsform der Allgemeinverfügung, also eines bloßen Verwaltungsakts, um den Lockdown für ein ganzes Bundesland anzuordnen, und anderes mehr) wurden aufgehoben.

Das Bundesverfassungsgericht hat viele Maßnahmen nur deshalb auf dieser Stufe passieren lassen, weil es das Informationsproblem der handelnden Organe erkannt und berücksichtigt hat und weil die gravierendsten Maßnahmen nur befristet erlassen wurden. Kontroll- und Beobachtungspflichten der Handelnden sind dann das Mittel der Wahl. Insgesamt zeigt die Judikative eine verständliche Zurückhaltung; man darf auf die endgültigen Entscheidungen freilich gespannt sein. Das Zusammenspiel von Exekutive und Judikative hat sich meines Erachtens auch in der Krise bewährt. Gerichte können nicht abgewählt werden und damit Handeln unter Unsicherheit kaum (politisch) verantworten; sie haben staatliches Handeln aus dem Zeitpunkt und vor dem Wissenshorizont der Handlung zu beurteilen.

 

Finanzielle Folgen

 

Durch umfangreiche Maßnahmen auf Bundes- sowie auf Landesebene (einschließlich der Kommunen) – nicht nur im Bereich des Gesundheitswesens, sondern vor allem zur Stützung der Wirtschaft und infolge des Ausbringens zusätzlicher Sozialleistungen – folgt der Gesundheits-, Grundrechtsund Wirtschaftskrise eine Finanzkrise. Anders formuliert: Die Exzeptionalität der Krise setzt sich in Bezug auf die staatliche Finanzwirtschaft fort. Auch die Staatsausgaben haben 2020 einen Höchststand erreicht und werden es auch 2021 – noch dazu bei wegbrechenden Steuereinnahmen. Dies kann nur durch eine Rekordkreditaufnahme bewältigt werden. Die Finanzierungsfrage stellt sich insofern als Folge der Reaktionen auf die Pandemiebekämpfung dar. Ohne die Freiheitsbeschränkungen im persönlichen und wirtschaftlichen Bereich wären die Staatsausgaben auf sämtlichen staatlichen Teilebenen nicht derartig explodiert. Die medizinische Bekämpfung des Virus (Beteiligung an den Kosten der Entwicklung eines Impfstoffs und so weiter) nimmt sich demgegenüber in seiner finanziellen Dimension eher bescheiden aus.

Der ganz überwiegende Teil der unvorhersehbaren Sonderausgaben ist damit nur mittelbar auf das eigentliche Seuchengeschehen zurückzuführen. Die 2009 eingeführten und seit 2020 auf allen Ebenen voll geltenden neuen Schuldenbremsen haben den Pandemiefall antizipiert: Übergreifende Seuchengeschehen wurden bei den Beratungen zur seinerzeitigen Grundgesetzänderung ausdrücklich als Beispiel für die explizit genannten Naturkatastrophen und vergleichbare Fälle gesehen. Diese Ausnahmeklauseln – richtig, das heißt durchaus großzügig, angewendet – vermögen die finanzielle Belastung einzufangen. Umso erstaunlicher ist es, dass Überlegungen, die Schuldenbremse aufzugeben, von hoher Stelle aus dem Kanzleramt heraus erfolgen. Damit wird das finanzverfassungsrechtliche Institutionensetting, das – anders als das Infektionsschutzrecht – diesen Fall vorausgesehen und „eingepreist“ hat, unnötig delegitimiert.

 

Repolitisierung als Gegenstrategie

 

Es wäre in jeder Hinsicht fatal, wenn sich Strapazierungen des Institutionengefüges in der Pandemie, die gerade noch hingenommen werden könnten, verfestigten und damit zum Normalfall würden. Das wäre ebenso problematisch wie eine Gewöhnung an gravierende Grundrechtseinschränkungen. Unser freiheitliches, durch demokratisch legitimierte parlamentarische Entscheidungsprozesse gesteuertes Gemeinwesen darf sich nicht in einen sozialtechnokratischen Exekutivstaat verwandeln. Die Pandemie darf nicht zu dem Hebel werden, die parlamentarische Demokratie in einen technokratischen Verwaltungsstaat zu verwandeln. Die Dominanz naturwissenschaftlich-medizinisch geprägter Entscheider, vom Kanzleramt über das Bundesgesundheitsministerium bis hin zu den Fachbehörden, bekommt einer stark institutionell orientierten Verfassungsordnung langfristig nicht gut. Die Gegenstrategie liegt in einer Repolitisierung von Führung und Staatsleitung durch Beachtung des durch die Verfassung vorgegebenen institutionellen Settings. Das spezifisch juristisch-institutionelle muss gegenüber einem funktionalen Denken gestärkt werden. Die Pandemie hat hier schon länger latent bestehende Tendenzen deutlicher erkennbar gemacht.

Die Erfahrungen der Coronazeit werden nach Abklingen der Sonderlage nicht völlig verschwinden, dürfen jedoch nicht zur Legitimierung eines Paradigmenwandels herhalten. Das institutionelle Setting des Grundgesetzes ist gerade für die Verarbeitung von Ungewissheiten, von sich dynamisch entwickelndem Erkenntnisfortschritt durchaus ebenso gewappnet wie für die Bewältigung von Notlagen. Der freiheitliche Verfassungsstaat bedarf auch in der (Corona­)Krise der Sicherung und Verteidigung. Erst in der Krise zeigt sich der Wert unserer Institutionen.

 

Christian Waldhoff, geboren 1956 in Paderborn, Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Humboldt-Universität zu Berlin.

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