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Rhetorik bleibt ein politisches Instrument

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Die Prognose eines Untergangs der Redekultur ist alles andere als neu. Um nicht zu weit zurückzugreifen, sei an den Staatsrechtler Carl Schmitt erinnert, der diese Prognose in Zeiten der Weimarer Republik vertrat, etwa in seiner erstmals 1923 erschienenen Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Statt Diskussion und Öffentlichkeit zu den Grundpfeilern der Demokratie zu machen, seien „alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromissobjekte von Parteien und Gefolgschaften“ verwandelt worden. Von dort ist es nicht weit zum Schluss, dass „die Epoche der Diskussion überhaupt zu Ende [gehe]“. Für wirkliche Diskussion müsse der „Kampf der Meinungen“ gelten, die „Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen“. Stattdessen habe die „moderne Massendemokratie die argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität gemacht“, gewisse Normen des Parlamentsrechtes wirkten „wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen […] Das Argument im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet.“

Was Schmitt formuliert, übertreibt nur einen Standpunkt, den das humanistische Gymnasium mit seiner Bevorzugung der (platonischen) Philosophie gegen die (aristotelische) Wissenschaft schon immer vertrat. Die Position der Rhetorik liegt demgegenüber gerade darin, sich von einem Argument „im eigentlichen Sinne“ zu verabschieden, weil es dies unter Bedingungen politischer oder moralischer Fragen (im Gegensatz zur Geometrie) nicht gibt. Was es gibt, sind Argumente in der Vielzahl und manchmal äußerst unbequeme Diskussionen. Aristoteles ging es darum, das dabei nötige Vorgehen methodisch in den Griff zu bekommen, will sagen: die Anforderungen an Sachbezogenheit, argumentative Möglichkeiten und emotionale Unterstützung ausgewogen zu halten. Es ging ihm mit anderen Worten um Rationalität, aber mit Bezug auf ein Publikum. Man kann durchaus von einer geminderten Form von Rationalität sprechen. Zugespitzt formuliert, kann man sogar von einem Ersatz der Wahrheit durch Macht sprechen, durch die Macht der Redekunst. Wer den Spagat zwischen einem (falschen) „Überreden“ und einem (richtigen) „Überzeugen“ macht, glaubt nicht an Rhetorik – wie Schmitt, der bekanntlich die Lösung im Faschismus sah.

Man hat richtig gelesen: Ja, Rhetorik will überreden, die Römer anerkannten nur diesen einen Begriff (persuadere), das Überzeugen (convincere) im Sinne von „jemanden mit Zeugen zu etwas bringen“ war nur eine spezielle Variante. Aber man sieht auch das heutige Problem. Es könnte sein, dass es für dieses Überreden aus einem anderen Grund enger wird, als Schmitt meinte. Nicht weil jede Diskussion aufgrund von Interessen oder sonstigen Manövern aus dem Ruder laufen kann, sondern weil sie verweigert wird – zum Beispiel durch das Vorbringen „alternativer Fakten“ oder durch massive Beeinflussung in den Social Media. Das weltweite Auftreten der ultrarechten Populisten ist nicht nur mit einer politischen „Meinung“ verbunden, sondern mit genau diesen „Strategien“. Während Schmitt das Ende der Redekunst erwartete, weil die Demokratie „guten“ Argumenten den Boden entziehe, erwartet man heute dieses Ende eher von einer Auflehnung gegen Argumente überhaupt. Statt rhetorischer Kunst herrscht eine Form „direkter“ Äußerung der „Wahrheit“: als Hassmail zum Beispiel. Man kündigt den Vertrag mit der geminderten Rationalität.

Aber stimmt die Diagnose? Im anonymen Internet sicher, man muss sich jedenfalls ernsthaft Sorgen machen. In der analogen Öffentlichkeit jedoch ist es nicht so weit. Auch Populisten schätzen vor ihrem Publikum rhetorische Kunst. Und vor allem: Die sehr viel größere Zahl der Anhänger schätzt sie offensichtlich auch, wie der Jubel zeigt. Dies sei mit konkreten Beispielen belegt.

Ich beginne mit Donald Trump und beziehe mich auf die Rede anlässlich seiner Vereidigung auf den Stufen des Kapitols am 9. November 2016, die Election Victory Speech. Dazu muss zunächst gesagt werden, dass die Formulierungen nicht von ihm selbst stammen und auch nicht zu stammen brauchen – dafür gibt es seit Langem in der ganzen Welt Redenschreiber. Aber auch Trump wird nur vortragen, woran er selbst glaubt. Bemerkenswert ist zunächst, dass sich die gesamte Rede an ein Vorbild anlehnt, das hinsichtlich von Redekunst eine amerikanische Ikone darstellt: an die I have a Dream-Rede von Martin Luther King am 28. August 1963 beim „Marsch auf Washington“, übrigens genau gegenüber dem Ort, an dem Trump vereidigt wurde. Es ist irrelevant, ob Trump selbst oder seine jubelnden Anhänger damals die King-Rede „mitgehört“ haben. Aber es waren Elemente dieser durch und durch rhetorisch geformten Rede, die immer noch überzeugend wirken sollten und offenbar auch so wirkten.

 

Kings „Traum“ – Trumps „Vision“

 

Die wichtigste Übereinstimmung liegt in Trumps Verkündigung seiner „Vision“, die an Kings „Traum“ anschließt – auch wörtlich, denn zweimal ist von „träumen“ die Rede. Weiter geht es um die Zurückweisung des „Redens“ gegenüber der Aufforderung, etwas zu „tun“. Weiter die Herausstreichung der „Not“: bei King derjenigen, die sich aus der mangelnden Freiheit der Schwarzen ergibt („verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung […] schmachtet der Neger noch immer […] befindet sich im eigenen Land im Exil“); bei Trump derjenigen, die aus der mangelnden Beteiligung des einfachen Volkes am Reichtum im Lande folgt („das Volk hat die Kosten getragen […] nichts von dem Reichtum gehabt […] in Armut gefangen“). Weiter gibt es die Übernahme pathetischer Beschreibungen, etwa der „windgepeitschten Ebenen von Nebraska“ bei Trump, die die „schneebedeckten Rocky Mountains“ beziehungsweise die „geschwungenen Hänge Kaliforniens“ von King aufnehmen. Auch das „von Berg zu Berg, von Ozean zu Ozean“ bei Trump klingt nach „von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt“ bei King. Schließlich ist die Formulierung Trumps „egal, ob wir schwarz oder braun oder weiß sind“ ebenso eine Wiederholung der „schwarzen und weißen Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken“ bei King wie die Betonung der Gemeinsamkeit; bei Trump mit „Wir teilen ein Herz, eine Heimat und ein ruhmreiches Schicksal“, bei King mit der Fähigkeit „zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen für die Freiheit aufzustehen“.

Die Trump-Rede – darauf kommt es mir an – stellt sich in die Tradition der Freiheitsrede, die aus der Sklavenbefreiung stammt. Trump erscheint damit letztlich als derjenige, der Amerika aus der Sklaverei führt, die die Demokratie errichtet und das anwesende Establishment verteidigt hat – eine unglaubliche Beleidigung. Aber eben auch eine (jedenfalls in Amerika) ganz normale rhetorische Präsentation. Man wundert sich allenfalls, dass sie einem twitternden Präsidenten von seinen Anhängern so euphorisch abgenommen wird.

 

Populismus und demokratische Redetradition

 

Mein zweites Beispiel gilt dem Auftreten der Alternative für Deutschland (AfD) beziehungsweise ihrer Redner. Ich spreche nicht von den Provokationen, die vor allem im Netz kursieren. Auch nicht von Reden ausschließlich vor Anhängern mit den bekannten Entgleisungen, etwa von Alexander Gauland („Fliegenschiss“) oder Alice Weidels Reaktion (das Jahr 2018 beginne mit „der Unterwerfung unserer Behörden vor den importierten, marodierenden, grapschenden, prügelnden, Messer stechenden Migrantenmobs, an die wir uns gefälligst gewöhnen sollen“) auf eine Twitter-Nachricht von Beatrix von Storch vom Silvesterabend 2017. Ich beziehe mich auf eine Rede von Alice Weidel vom 16. Mai 2018 im Rahmen der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages.

Weidel beginnt mit einem Zitat von Kardinal Richelieu, wonach der Staatshaushalt „den profanen Augen des Untertanen entzogen“ werden müsse – Vorbild für die Große Koalition. Es kommt dabei nicht auf die „Richtigkeit“ an, sondern auf das Vorzeigen von Bildung, das Autorität sichert. Diese Autorität lässt sich dann durch rhetorische Formulierungen weiter stützen, durch ironische Wortspiele („pünktlich zur Vorstellung des Haushaltes beginnt das Tarnen und Täuschen“), durch Antithesen („Statt dem Souverän, dem Bürger, reinen Wein einzuschenken, werden vollmundige Sonntagsreden gehalten“), durch Metaphern („Es ist nämlich die Schattenverschuldung, die Sie der jüngeren Generation wie einen Mühlenstein um den Hals gehängt haben“), durch eindringliche Wiederholungen („kein Widerspruch zum gigantischen Transfer von deutschem Steuergeld, kein Widerspruch zu einem EU-Finanzminister“), durch logische Schlüsse (mit der Null- und Negativzinspolitik der EZB entschuldet sich der Staat „also auf Kosten der Sparer und Steuerzahler“), durch haarsträubende Beispiele (der brave Kumpel hat ins Rentensystem eingezahlt und darbt, der ehemalige Leibwächter von Osama Bin Laden fährt dank großzügiger Unterstützung mit dem Moped ins Grüne), durch Aufzählungen („Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand […] nicht sichern“). Was ich sagen will: Vor der Öffentlichkeit greifen auch Populisten auf Rhetorik zurück, sogar auf eine besonders ausgefeilte. Populisten mögen mit „völkischen“ Verheißungen die differenzierte moderne Massengesellschaft samt der Demokratie angreifen: Zu punkten suchen sie mit deren kulturellen Traditionen. Der Grund dafür liegt darin, dass es längst nicht so weit ist, wie Schmitt oder andere Untergangsprognostiker glauben. Die Zeugnisse für die Wirkung rhetorisch geformter Reden sind Legion. Wer will, kann es anhand von Paradebeispielen wie etwa der Rede Richard von Weizsäckers anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes studieren. Selbst der viel geschmähte Deutsche Bundestag enthält vorzeigbare Beispiele, auch solche, die nicht wie im Falle von Weidel mit Fremdenhass und sonstigen Schmähungen angereichert sind. Wenn ich abschließend dazu zwei etwas ungewöhnliche Beispiele anführe, dann deshalb, weil sie nicht nur die Kunst der Redner belegen, sondern noch mehr die starke Wirkung beim Publikum, die sich in entsprechenden Klickzahlen im Netz bekundet.

 

Das Risiko der „Suada“

 

Das erste Beispiel hat wohl jeder noch vor Augen – ich meine die Rede, die Bischof Michael Curry am 22. Mai 2018 anlässlich der Trauung von Prinz Harry und Meghan Markle in Windsor gehalten hat: The Power of Love. Das gesamte Auftreten war rhetorisch: die Lebendigkeit des Vortrags, aber auch das Feuerwerk der Parallelismen, Anaphern und besonders der Wiederholungen, die immerfort den Begriff der „Liebe“ umkreisten. Die Kommentatoren wussten sich kaum zu drehen und zu wenden, um die umwerfende Wirkung dieser scheinbar aus der Zeit gefallenen „Predigt“ zu schildern.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Rede der damals fünfzehnjährigen Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel in Kattowitz am 16. Dezember 2018. Es kann sein, dass diese anrührende Rede als sprachlich schlicht betrachtet wird – die Sätze sind ja wirklich kurz. Aber gerade diese Rede, bei der ich die keineswegs wertmindernde Mitwirkung von Profis vermute, ist rhetorisch bis in die letzte Silbe geschliffen. Überall finden sich Antithesen („Sie sprechen […], aber einzig sinnvoll ist es zu handeln)“, Paradoxe („Sie sind nicht erwachsen genug […], selbst das überlassen Sie uns Kindern“), sogar ein veritables aristotelisches Enthymem, also eine verkürzte Schlussfolgerung („Wenn ein paar Kinder es schaffen […], was erst, wenn alle es wollen“). Und am Ende, nach permanenten Anaphern und Parallelismen, folgt auch noch eine beinahe Schiller’sche Sentenz: „Die wirkliche Macht gehört den Menschen.“

Es funktioniert also noch, Rhetorik ist längst nicht Retro. Man weiß, dass im wahren Leben endgültige Wahrheiten nicht zu haben sind, und verlässt sich deshalb auf die Kraft der Überredung, akzeptiert die emotionale Seite, vertraut sich einem Redner an, der mitreißt. Die Gefahren sind bekannt, Aufklärer wie René Descartes oder Immanuel Kant fanden das Risiko der „Suada“ im persuadere zu hoch. Noch größer aber erscheint das Risiko, auf diese Kultur, der wir so viel zu verdanken haben, zu verzichten. Es sieht auch nicht wirklich danach aus. Selbst die Populisten wissen, dass Provokationen allein auf Dauer nicht genügen.

 

Karl-Heinz Göttert, geboren 1943 in Koblenz, emeritierter Professor für Ältere Deutsche Literatur, Universität zu Köln, Buchautor. Im S. Fischer Verlag zuletzt erschienen: „Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung“ (2013), „Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik“ (2015).

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